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3.33.4.1 muscon98c.doc

Rudolf Frisius

MUSIQUE CONCRÈTE (I)

Diesseits und jenseits der Neuen Musik

Wandlungen des musikalischen Hörens

Z: Schaeffer: Pochette surprise (Ausschnitt Schott-CD: take 1)

55´´

Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der etikettierten Musik.

Besonders beliebt geworden sind etikettierende Unterscheidungen

zwischen dem eingängig Populären und dem sperrig Avantgardistischen.

In vielen Bereichen des Musiklebens dominiert Musik, die sich leicht einordnen läßt -

und dies gilt nicht nur im Bereich der live dargebotenen,

in Aufführungen dargebotenen Musik,

sondern vor allem auch für die über Massenmedien verbreitete Musik -

für Musik auf Tonträgern, für Musik in Radio, Fernsehen und Film.

Es gibt viele Musik,

zu der der Hörer sich schon nach wenigen Sekunden eine Meinung bilden kann -

sei sie positiv oder auch negativ.

Z: Aus pochette: Der dritte Mann - Männerstimme: Oh non, non, pas ca!

4´´ - 12´´ (anfangen nach "Voulez vous... pochette surprise?")

Musik, die sich schon nach wenigen Sekunden identifizieren läßt,

macht es dem Hörer einfach:

Er kann sich ziemlich leicht vorstellen, wie es weitergeht.

Wenn keine größeren Überraschungen zu erwarten sind,

erleichtert ihm das die rasche Urteilsbildung.

Insofern ist er selbst dann zufrieden,

wenn er rasch herausfindet, daß die Musik nicht nach seinem Geschmack ist.

Dies zeigt eine kleine Hörszene aus den frühen fünfziger Jahren:

Ein Hit aus der damaligen Zeit wird angespielt:

Musik zum Film "Der dritte Mann."

Dann meldet sich ein französischer Hörer mit gehobenem Durchschnittsgeschmack:

Diese Musik ist ihm offensichtlich zu vordergründig populär, zu vulgär.

Die Fortsetzung der Szene zeigt dann aber,

daß auch das andere Extrem ihm nicht gefällt:

Eine radikal avantgardistische Musik.

Z: Fortsetzung pochette: Antiphonie - Männerstimme:... ce n´est pas possible!

12´´-20´´

Pierre Schaeffer, der französische Radiopionier, zeigt in einer kleinen Hörszene,

daß Musik des 20. Jahrhunderts auch in extrem unterschiedlichen Erscheinungsformen

sich oft für einfache Etikettierungen anbietet.

Unter dieser Perspektive erscheinen marktgängige Massenmusik

und experimentelle Avantgardemusik wie zwei Seiten derselben Medaille

zumindest dann, wenn im einen wie im anderen Falle

die Musik so weitergeht, wie sie angefangen hat;

wenn der Hörer also rasch das passende Etikett finden

und sich seine Meinung dazu bilden kann.

Der Schauspieler Jean Toscane, der in diesem Hörspot die Rolle des Radiohörers spielt,

ist erst dann zufrieden, als traditionelle Musik erklingt:

Ein französisches Volkslied,

gesungen von einer Belcanto-Sängerin mit Klavierbegleitung,

findet sein uneingeschränktes Lob.

Es ist das erste Musikbeispiel, das nicht unter Protest abgebrochen wird, sondern sich fortsetzt.

Allerdings verändert sich die Musik:

Zuerst wird das Lied kurz variiert.

Dann wechselt die Musik:

Man hört hohe, zwitschernde Klänge, die anders sind als alles vorher Gehörte.

Pierre Schaeffer fragt seinen Hörer, ob ihm nun diese Klänge gefallen oder nicht.

Z: pochette Ah vous dirai-je maman, Melodie Variation; hoch zwitschernde konkrete Klänge

Frage Schaeffer: ... plaisant ou non?

20´´ - 55´´

Pierre Schaeffer ist ein Pionier

neuer Radiokunst und einer neuen, mit radiophonen Mitteln arbeitenden neuen Musik.

Voreilige Etikettierungen, denen solche und andere Musik oft ausgesetzt ist,

greift er auf, um sie in Frage zu stellen.

Deswegen interessiert er sich auch für Klänge und Klangstrukturen,

die sich nicht ohne weiteres einordnen lassen

für Musik, der man längere Zeit zuhören muß, um ihr Wesen zu ergründen;

für Musik jenseits der Abgrenzungen zwischem dem Populären und dem Avantgardistischen,

zwischen dem Altvertrauten und Neuartigen.

Seit den vierziger Jahren hat er maßgeblich dazu beigetragen,

die musikalische Erfindung und das Hören von Musik

im Zeitalter des Lautsprechers grundlegend zu verändern.

Die neuartige Lautsprechermusik, die er produzierte,

hat ihn immer wieder dazu angeregt,

Neues genauer zu erforschen auch im Vergleich mit dem scheinbar Wohlbekannten.

In seiner letzten Komposition, die 1979 entstanden ist, ging er so weit,

seine eigenen Klänge zu infiltrieren in ein Präludium von Johann Sebastian Bach.

Z: Bilude CD Schott take 2, 2´15

"Bilude" ist eine Komposition für Klavier und Tonband.

Das Stück beginnt mit vier (vom Tonband erklingenden) Metronomschlägen,

die dem Pianisten den Takt angeben sollen.

Er beginnt, ein bekanntes Musikstück zu spielen:

Das c-moll-Präludium aus dem ersten Teil

des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach.

Er spielt zwei Takte und bricht dann ab.

Danach setzt das Tonband ein:

Man hört die zwei folgenden Takte

allerdings nicht auf dem Klavier, sondern auf dem Cembalo.

Wenn das Stück im Konzertsaal aufgeführt wird,

antwortet dem sichtbaren Klavierspieler also ein unsichtbarer Cembalospieler.

Dem live-Spiel auf dem modernen Klavier

folgt technisch konserviertes Spiel auf einem historischen Instrument, dem Cembalo.

Z: Bilude Anfang, Takt 1-4: 2 Takte Klavier 2 Takte Cembalo

0´´ (oder erst nach 4. Metronomschlag bei 2´´ beginnen) 12´´

Wechsel zwischen Klavier und Tonband finden sich auch im weiteren Verlauf,

jetzt aber in kürzeren Abständen, von Takt zu Takt.

Vom Tonband sind jetzt nicht Cembaloklänge zu hören,

sondern technisch verfremdete, gleichsam verwackelte Klavierklänge.

Z: Bilude Fortsetzung mit taktweisem Wechsel, T. 5-8: Klavier live verwackelt, live verwackelt

13´´ - 23´´

Im Tonbandpart wird deutlich, daß die Musik sich von den live-Klängen entfernt:

Zu hören sind nicht gespielte, sondern technisch aufzeichnete, aufgenommene Klänge.

Im Folgenden wird dies noch deutlicher,

wenn die Musik sich mehr und mehr von Bachs Tonstrukturen löst

und wenn dann in Bachs Rhythmen nicht mehr Töne,

sondern verfremdete Töne oder schließlich Geräusche zu hören sind:

In zunehmend kürzeren Abständen;

mit zunehmend stärker hervortretenden Tonband-Einschüben,

die bald länger werden als die Klavier-Fragmente

und schließlich sogar gleichzeitig zu hören sind.

Z: Bilude, Fortsetzung mit verfremdeten Tönen und Geräuschen,

bis 1. Zäsurton auf Orgelpunkt (ausblenden auf klappernden Stäben)

24´´ - 1´12

Sobald die aufgenommenen Geräusche gleichzeitig mit dem live-Klavierspiel zu hören sind, lösen sie sich endgültig vom Rhythmus des Bach-Präludiums:

Gleichzeitig mit der Steigerung, die in Bachs Präludium zu einem Orgelpunktton führt,

hört man sich beschleunigende Klänge eines Blechtellers.

Später werden die Geräusche noch wichtiger,

da sie die Musik nicht nur überlagern, sondern auch dabei verändern:

Jedes Mal, wenn der Orgelpunktton erreicht ist,

bleibt die Musik stehen,

und der ausgehaltene Klavierton überlagert sich dann mit Tonbandklängen.

Z: Bilude, Hinführung zum Orgelpunktton, umspielter Orgelpunkt

(ausblenden vor Einsatz der Stretta über ausgehaltenem Orgelpunktton),

accelerierend rotierender Blechteller

Tonbandeinschübe klappernder Stab, Impulse, mex. Flöte, Eisenbahn

53´´ (f-moll) bis vor Stretta 1´35

Die Tonbandklänge, die Schaeffer in Bachs Präludium einschiebt, sind Ausschnitte aus seinen eigenen Kompositionen zum Beispiel aus seiner ersten Lautsprechermusik aus dem Jahre 1948:

Etude aux chemins de fer Eisenbahn-Etüde.

Z: Etude aux chemins de fer, Schott take 5 (oder CD-Album Schaeffer)

von Anfang bis zum 2. Pfeifsignal bei 0´55

Das Stück beginnt scheinbar realistisch, wie ein Hörfilm:

Man hört einen Pfiff, dann eine anfahrende Dampflok.

Z: Eisenbahnetüde

Pfiff anfahrende Dampflok

0´´ - 0´15

Die Hörszene wird beendet durch einen Schnitt.

Anschließend hört man das Geräusch fahrender Waggons -

also andersartige Eisenbahnklänge, aufgenommen aus einer anderen Perspektive.

Z: Eisenbahnetüde

Fortsetzung: zusammenhängendes Waggon-Geräusch

16´´ - 21´´

Wenn diese beiden Hörszenen aneinandermontiert werden,

entsteht eine einfache Montagestruktur:

Die erste Einstellung zeigt, gleichsam als Außenaufnahme vom Bahnhof aus, den anfahrenden Zug;

die zweite Sequenz präsentiert, gleichsam als Innenaufnahme im Zug, den Zug in Fahrt.

Z: Eisenbahnetüde: Montagestruktur Anfahren (Dampflok) Zug in Fahrt (Waggongeräusche)

0´´ - 21´´

Im größeren Zusammenhang des Stückes wird deutlich,

daß die Aufmerksamkeit des Hörers sich Schritt für Schritt verlagern kann,

von realen, hörspielartigen Geräuschen zu eher musikalischen Klangstrukturen.

Dieser Prozeß wird vor allem dadurch deutlich,

daß sich die Montage-Einheiten Schritt für Schritt verkürzen:

Man hört über längere Zeit hinweg, wie die Lok anfährt.

Dann hört man für kürzere Zeit Waggongeräusche des fahrenden Zuges.

Anschließend geht das Stück über zu noch kürzeren, musikalisch strukturierten Montage-Einheiten:

Man hört zwei verschiedenartige, rhythmisch profilierte Waggongeräusche

in einer Art Wechselmontage.

Ursprünglich hatte Schaeffer geplant, die Wechsel zwischen diesen Geräuschen

nach einem einfachen musikalischen Schema zu organisieren

mit zunehmend kürzeren Zeiteinheiten nach dem Schema:

4 4, 3 3, 2 2, 1 1.

Z: Soirée Schaeffer, Waggonrhythmen ursprüngliches Schema

aus Soirée Schaeffer SWF

Später wurde diese schematische Abfolge durch Schnitt verkürzt,

so daß der Prozeß der Verkürzung schließlich rascher ablief.

Z: Eisenbahnetüde, Montagestruktur mit Waggonrhythmen

4 4, 3 3, 1 1 (Schnitt vor Einsatz der Kolbengeräusche)

21´´ - 44´´

Danach folgt eine Stelle, die Schaeffer später auch in seinem Tonbandstück "Bilude" zitiert

(dort in Verbindung mit dem ersten Orgelpunktton im c-moll-Präludium von Bach):

Man hört Kolbestöße.

Schaeffer hat deutlich gemacht, daß er mit diesen Geräuschen

hier nicht die Illusion einer realen Zugfahrt machen wollte,

sondern daß er diese Geräusche hier aus musikalischen Gründen eingeführt hat:

Als Kadenz als Abschluß einer Montage-Sequenz.

Der Abschluß ist deutlich erkennbar,

weil anschließend ein neuer Pfiff zu hören ist

als Eröffnungssignal für eine neue Hörsequenz.

Z: Eisenbahn-Etüde

Kolbenstöße Pfiff (und eventuell anschließend Forts. Bis 1´08, Schluß Schott take 5)

45´´ - 55´´ (Pfiff) oder 1´08 (Ende Ausschnitt Schott take 5)

Schaeffers Eisenbahn-Etüde ist weder ein pseudo-realistisches Hörspiel

noch eine traditionelle Programmusik.

Es ist vielmehr eine Klangkunst in einem Zwischenbereich zwischen Hörspiel und Musik.

Schaeffer selbst hat diese Studioproduktion interpretiert

als erstes Beispiel einer neuen Musikart, für die er selbst einen Namen gefunden hat:

Musique concrète Konkrete Musik.

Von herkömmlich komponierter Musik

unterscheiden sich Schaeffers Produktionen konkreter Musik dadurch,

daß sie nicht als Partitur fixiert sind, die von Interpreten ausgeführt werden muß,

sondern daß der Komponist selbst sie im Studio klanglich realisiert.

Diesen neuen Ansatz des Komponierens beschreibt Schaeffer

als radikalen Perspektivwechsel als Übergang von der abstrakten zur konkreten Musik.

In einem 1949 entstandenen theoretischen Text schreibt er:

Die beiden musikalischen Haltungen, die abstrakte und die konkrete,

lassen sich in exaktem Vergleich einander gegenüberstellen.

Wir wenden das Wort ´abstrakt´ auf die Musik im gewohnten Sinne an,

weil sie zuerst eine geistige Schöpfung ist,

dann theoretisch notiert wird

und schließlich in einer instrumentalen Aufführung ihre praktische Realisierung erfährt.

Unsere Musik haben wir ´konkret´ genannt,

weil sie auf vorherbestehenden, entlehnten Elementn einerlei welchen Materials

seien es Geräusche oder musikalische Klänge fußt

und dann experimentell zusammengesetzt wird

aufgrund einer unmittelbaren, nicht-theoretischen Konstruktion,

die darauf abzielt,

ein kompositorisches Vorhaben

ohne Zuzilfenahme der gewohnten Notation, die unmöglich geworden ist, zu realisieren.

Z: Eisenbahn-Etüde evtl. andere Fassung

Anfang oder Schluß Länge je nach Sendezeit

Die Entwicklung der Konkreten Musik,

die Pierre Schaeffer 1948 mit der Produktion seiner Eisenbahn-Etüde eingeleitet hat,

führte zu weitgehenden Veränderungen

vor allem in den Bereichen der musikalischen Komposition und des Musikhörens.

Entscheidend war hier, daß die musikalische Erfindung

nicht von einer mehr oder weniger abstrakten Klangvorstellung

oder vom Schreiben einer Partitur ausging,

sondern sich direkt bei der Klangrealisation im Studio konkretisierte.

So ließen sich auch neue Verbindungen

zwischen der musikalischen Erfindung und der allgemeinen Hörerfahrung knüpfen.

Die technischen Bedingungen und Möglichkeiten entwickelten sich

seit den fünfziger Jahren so rasch,

daß in späteren Entwicklungsstadien

sogar schon früher bearbeitete Themen

auf einem veränderten Erfahrungsstand erneut aufgenommen werden können.

Dies zeigt sich auch beim Thema "Eisenbahn".

Dieses Themen behandeln,

unter anderen Perspektiven und unter veränderten technischen Gegebenheiten,

auch Kompositionen aus späteren Jahrzehnten -

z. B. Bernard Parmegiani 1970 in seiner Tonbandkomposition "L´oeil écoute".

Z: Parmegiani: L´oeil écoute, Eisenbahnszene (Ausschnitt Schott: 1. Satz 3´30)

Wenn Bernard Parmegiani, mehr als zwei Jahrzehnte nach Pierre Schaeffer,

sich in seiner Lautsprechermusik wieder für Eisenbahnklänge interessiert,

dann geschieht dies unter deutlich veränderten ästhetischen und technischen Voraussetzungen:

Während Schaeffer sich noch damit begnügen mußte,

in einfachster Weise Fragmente von Schallplattenaufnahmen zu montieren,

verfügte Parmegiani über differenzierte Möglichkeiten

der Klangmischung und der klanglichen Verarbeitung.

So konnte er, anders als Schaeffer,

nicht nur kleingliedrige Montagestrukturen realisieren,

sondern auch größere Prozesse der Klangverwandlung.

Dabei veränderte sich auch das Verhältnis

zwischen der quasi-realistischen Verwendung von Klängen einerseits

und vorrangig klanglich-musikalischen Gestaltungsprinzipien andererseits.

In Parmegianis Stück führt dies so weit,

daß realistische Eisenbahngeräusche in raffinierten Mischungen und Verwandlungen

sich mehr und mehr in Musik verwandeln

daß man anfangs Waggongeräusche hört,

später aber Schlagzeugrhythmen und Akkorde.

Auch diese Musik eignet sich offensichtlich nicht zur Einordnung in feste Rubriken,

sondern sie artikuliert sich im Niemandsland zwischen Bekanntem und Unbekanntem,

zwischen Montagen, Mischungen und Verwandlungen.

Z: evtl. Parmegiani Schluß

(Länge je nach Sendezeit)

Prozesse der Verwandlung von Eisenbahnklängen in Musik im engeren Sinne

realisiert auch Jacques Lejeune in seiner 1974 entstandenen Tonbandkomposition

"Rythme de parcours". Dieses Stück wechselt, in einer klar gegliederten, Schritt für Schritt klanglich verwandelnden Formentwicklung, zwischen Geräuschrhythmen und musikalischen Rhythmen, zwischen realistischen und fantastischen Klängen und Klangstrukturen.

Z: Lejeune: Rythme de parcours

Eine 1994 entstandene Eisenbahn-Musik von Christian Zanesi gestaltet das Thema in grundsätzlich veränderter Perspektive: Der Komponist hat sein Stück nicht aus vielen einzelnen Aufnahmen zusammengesetzt, sondern gleichsam aus einer einzigen Aufnahme herausmodelliert: Er geht aus von einer zusammenhängenden, rund 20minütigen Aufnahme eines fahrenden Metro-Zuges.

Evtl. Z: Zanesi, originale Aufnahme zu Grand Bruit (Metro auf CD)

(Ausschnitt von Anfang)

Diese Aufnahme verarbeitet er ähnlich wie ein Bildhauer, der aus einem großen Steinblock eine Skulptur gestaltet. Auch in Zanesis Komposition, die den Titel "Grand Bruit" ("Großes Geräusch") führt, spielen offensichtlich die Möglichkeiten der zusammenhängenden, kontinuierlichen Klanggestaltung und Klangveränderung eine wesentliche Rolle.

Z: Zanesi, Grand Bruit, Schott take 7, 1´42 - oder Ausschnitt von Anfang Mini-CD Noetinger

Eisenbahn-Geräusche sind exemplarische Geräusche des technischen Zeitalters.

Ihre klangliche und kompositorische Arbeit artikuliert sich in mehreren Kompositionen

als Modell der Auseinandersetzung

mit komplexen Erfahrungen der technisch geprägten Hörwelt.

Sie stellt sich damit in den Zusammenhang einer musikalischen Entwicklung,

die schon vor der Erfindung der konkreten Musik begonnen hat

und deren erste Ansätze weiter gewirkt haben auch bis in spätere Jahrzehnte hinein.

Der wohl wichtigste Komponist, der die Entwicklung der konkreten Musik einerseits vorbereitet,

andererseits in eigenen Produktionen vorangetrieben hat, ist Edgard Varèse.

In den 1954 entstandenen Tonband-Interpolationen zu seinem Orchesterstück "Déserts"

werden nicht nur Instrumentalaufnahmen verarbeitet, sondern beispielsweise auch Fabrikgeräusche als Klangsymbole einer Geräuschästhetik, deren Anfänge sich zurückverfolgen lassen bis in die Anfangsjahre des musikalischen Futurismus. Die fauvisitischen Geräusch-Montagen, die Edgard Varése in Zusammenarbeit mit Pierre Henry realisierte, markieren eine ästhetische Extremposition der konkreten Musik in den fünfziger Jahren.

Z: Varèse-Henry: Déserts, Ausschnitt aus 1. Tonband-Interpolation 47´´

In der 1961 entstandenen Tonbandkomposition "Turmac" von Edgard Carson erscheinen Fabrikgeräusche als das gesamte Stück beherrschendes Klangmaterial. Carson verarbeitet hier Maschinengeräusche aus einer Zigarettenfabrik. In der Studioarbeit bemühte er sich vor allem darum, komplexe Geräusche individuell zu profilieren durch charakteristische Filterungen also gleichsam aus einem scheinbar amorphen Ausgangsmaterial verschiedenartige Gestaltcharaktere herauszufiltern.

Während Edgard Carson sich vorwiegend für die "unbelebten" Maschinengeräusche interessiert, hat Luigi Nono deutlich gemacht, daß für ihn klangliche Erfahrungen mit Maschinengeräuschen eng verbunden sind mit komplexen Erfahrungen in der industriellen Arbeitswelt. Seine Komposition "La fabbrica illuminata" ist keine objektivierte Maschinenmusik, sondern expressive politisch engagierte Musik.

Z: La fabbrica illuminata, Ausschnitt Sequenzen

In der 1967 entstandenen Tonbandkomposition "Espaces inhabitables" von Francois Bayle erscheinen Fabrikgeräusche als Artikulationen klanglicher Energien und Energieverläufe.

Z: Bayle: Hommage à Robur, aus Espaces inhabitables, Schott 9. 2´17

1975 realisierte Pierre Henry eine Tonbandkomposition, die schon im Titel an die Geräuschästhetik der Futuristen anknüpft. Das Werk heißt "Futuristie". Auch in diesem Stück spielen Maschinengeräusche eine wichtige Rolle in prägnanten Montagestrukturen, die Verwandtschaften auch zu andersartigen Klang- und Musikfragmenten aufscheinen lassen.

Z: Henry, Futuristie: Machines vitesse

Als Kontrastmodelle zur Maschinenmusik lassen sich Produktionen beschreiben, die von Naturlauten ausgehen. In den ersten Jahrzehnten der konkreten Musik spielten hierbei Vogelstimmen eine wichtige Rolle. Ein erstes Beispiel hierfür findet sich in der 1950 entstandenen Komposition

"L´oiseau RAI", in er Pierre Schaeffer Vogelgesang aus einem Sendezeichen des italienischen Rundfunks verarbeitet.

Z: L´oiseau RAI, CD Schott take 10, 2´56

Auch in späteren Entwicklungsstadien der konkreten Musik sind Vogelmusiken entstanden beispielsweise 1963 in "L´oiseau chanteur" ("Der Singvogel") von Francois Bayle.

Z: L´oiseau chanteur. CD Schott take 11, 3´26

In " L´oiseau chanteur" arbeitet Francois Bayle mit Gesangsaufnahmen des brasilianischen Totenvogels Uirapuru und mit deren Imitationen durch Singstimmen und Instrumente (die hinter der mühelosen Virtuosität der Vogelstimmen zurückbleiben und so groteske Situationen provozieren, wie man sie andeutungsweise auch beispielsweise aus Richard Wagners "Siegfried" kennt). 8 Jahre später stilisiert er den Vogelgesang mit elektronischen Klängen in der Komposition "L´oiseau Zen" ("Der Vogel Zen").

Z: L´oiseau Zen

(Jacques Lejeune hat eine konkrete Vogelmesse ("Messe des oiseaux") komponiert, in der er Vogellaute mit technisch veränderten menschlichen Stimmlauten verbindet. Menschen- und Vogelstimmen präsentieren sich im beziehungsreichen Kontrast.

Z: Lejeune, Messe des oiseaux)

Vogellaute und andere Naturlaute erscheinen, in subtilen und komplexen Klangmischungen, zu Beginn der 1985 entstandenen Tonbandkomposition "Sud" des in Südfrankreich lebenden Komponisten Jean-Claude Risset. Der Komponist schmilzt die Naturlaute ein in ein umfassendes Klangkontinuum, dessen Spannweite schließlich bis in den Bereich computergenerierter Klänge hineinwirkt und so die mit Naturlauten arbeitende konkrete Musik verbindet mit synthetischen Klängen.

Z: Risset Sud. Schott CD 12, 3´39

Konkrete Musik als Auseinandersetzung mit der Realität der Hörwelt

kann auch in Konfrontation geraten zu den Problemen politisch engagierter Musik.

Dies kann in ideologischer Kritik und Affirmation entstehen wie bei Luigi Nono,

aber auch in ideologischer Ambivalenz wie bei Francois Bayle.

Bayle hat 1969 ein Tonbandstück komponiert, in dem er bei den Pariser Maiunruhen 1968 aufgenommene Klänge konfrontiert mit unterhaltsamen Musikfetzen eines Gitarristen.

Klänge der Massen verbinden sich also mit individuellen musikalischen Äußerungen.

Kollektives und Individuelles stellen sich wechselseitig in Frage

in mächtigen, kontrastreichen Klangwirkungen.

Z: Bayle Solitioude Ausschnitt Klett

In bestimmten politischen Situationen kann politisch engagierter Musik

die Funktion des kompositorisch gestalteten Zeitdokumentes zuwachsen.

Ein prägnantes Beispiel hierfür ist konkrete Musik eines deutschen Komponisten:

"Mein 1989" von Georg Katzer.

Dieses Werk verbindet aktuelle und historische Dokumentaraufnahmen

mit Sprache und elektronischen Klangdekors:

Konkrete Musik als Dokument der Zuwendung

zur hörbaren und politisch reflektierbaren Wirklichkeit.

Diese Musik stellt sich der Realität, ohne sich mit ihr abzufinden.

Z: Katzer Mein 1989 (längerer Ausschnitt je nach Sendezeit, mit Honecker-Zitat "Die Mauer...")

Verarbeitung von Geräuschen aus der technischen Arbeitswelt

Déserts

Turmac

La fabbrica illuminata

Espaces inhabitables

Machines vitesse, aus Futuristie

Vogellaute Naturlaute

L´oiseau RAI

Trois portraits d´oiseau

evtl. Messe des oiseaux

Risset, Sud

Verarbeitung von zeitgeschichtlich-dokumentarischen Aufnahmen

Solitioude

evtl. Katzer Mein 1989

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