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1.1.1 Amores


Rudolf Frisius

John Cage: Amores

Z: Amores vollständig

John Cage ist ein Komponist, der den Begriff des Komponierens radikal verändert hat. Er fand neue Wege nicht nur zur Bestimmung des Materials, mit dem der Komponist umgeht, sondern auch zur kompositorischen Verarbeitung dieses Materials. Beide Aspekte hängen in seiner Arbeit eng miteinander zusammen. Dies hat sich in der kompositorischen Entwicklung von Cage schon frühzeitig gezeigt. Er suchte ein musikalisches Material jenseits der aus der Tradition bekannten Ordnungen der Tonkunst - jenseits der Tonverbindungen, der Melodien oder Akkorde (seien sie tonal strukturiert oder auch atonal). Der junge Cage experimentierte mit konventionellen und unkonventionellen Schlaginstrumenten, für die der Komponist keine bestimmten Tonhöhen mehr vorschreiben kann, sondern nur noch bestimmte Rhythmen. So entstanden einige rhythmisch strukturierte Kompositionen für geräuschhafte Schlaginstrumente. Die neuen Klangfarben interessierten Cage so sehr, daß er in der Folgezeit nach neuen klanglichen Möglichkeiten auch im Umgang mit einem traditionellen Instrument suchte. Dabei gelang ihm eine wichtige Entdeckung an dem Instrument, das er selber spielte: am Klavier. Er veränderte den normalen Klavierklang, indem er die Saiten mit unterschiedlichen Saiten präparierte. So wurde es ihm möglich, dem Klavier neue Klangmöglichkeiten abzugewinnen und es gleichsam in ein experimentelles Ein-Mann-Schlagorchester zu verwandeln.

In der 1943 veröffentlichten Kompositin "Amores" hat Cage die Möglichkeiten neuer Schlagzeugmusik mit den neuen Klangmöglichkeiten des präparierten Klaviers kombiniert. Der erste und der abschließende vierte Satz der Komposition sind für präpariertes Klavier geschrieben, der zweite und dritte Satz für Schlagzeugensembles mit drei Spielern.

Der erste und der letzte Satz sind in mehrfacher Hinsicht eng miteinander verwandt: Nicht nur durch die Verwendung des für beide Sätze in gleicher Weise präparierten Klavieres, sondern auch durch deutliche musikalische Entsprechungen. Vor allem am Schluß des ersten Satzes ist deutlich vorgeprägt, wie später, in weiter ausgeführter Form, der vierte Satz (und damit das gesamte Werk) schließen wird.

Z: Zusammenschluß Coda 1. Satz (T. 11-15) - Coda 4. Satz (T. 61 - 100)

Während die beiden für präpariertes Klavier geschriebenen Sätze, die das Werk einrahmen, eng miteinander verwandt sind, heben sich die beiden Mittelsätze, die für Schlaginstrumente geschrieben sind, deutlicher voneinander ab. Dies zeigt sich schon an den unterschiedlichen Besetzungen: Im 2. Satz spielen die 3 Schlagzeugspieler auf insgesamt 9 Tomtoms; überdies verwendet einer der Schlagzeugspieler eine Drahtbürste und ein anderer ein Rasselinstrument. Der Satz entwickelt sich im Wechsel von einzelnen Schlägen, rhythmischen Figuren und Wirbeln.

Z: 2. Satz mit Drahtbürste (3. Spieler z. B. T. 2, T. 59) und Rasselinstrument (2. Spieler)

z. B. 1. Periode T. 1-10

Ganz anders als der zweite Satz präsentiert sich der dritte Satz, der für sieben woodblocks geschrieben ist, von denen der erste Spieler drei und die beiden anderen je zwei spielen. Dieser Satz, der einige Jahre früher entstanden ist als die übrigen, entwickelt sich aus einfachen Schlagrhythmen und ihren kontrapunktischen Verbindungen.

Z: 3. Satz Anfang (T. 1-12, aufhören vor 2. Soloeinsatz)

Typisch für die Arbeiten des jungen Cage ist der Versuch, an die radikalsten Positionen der neuesten Musik anzuknüpfen, die ihm damals - in den dreißiger und frühen vierziger Jahren - bekannt waren. Einerseits interessierte er sich für neue Tendenzen der Geräuschmusik, wie sie damals am ehesten mit Schlaginstrumenten realisierbar erschien; hierbei konnte sich Cage von Schlagzeugkompositionen beispielsweise seines Lehrers Henry Cowell anregen lassen, aber auch von Edgard Varèse. Eine andere Tendenz seines frühen Schaffens wurde angeregt durch Arnold Schoenberg, der 1935 als Emigrant nach Los Angeles gekommen war und bei dem Cage in der Folgezeit studiert hatte. Schoenberg faszinierte den jungen Cage vor allem durch sein strenges strukturelles Denken. Die Disziplinen der traditionellen Satzlehre, an denen Schoenberg dieses Denken exemplifizierte, also die tonale Harmonielehre und der tonal fixierte Kontrapunkt interessierten Cage allerdings nicht; denn in der Geräuschmusik, die ihm vorschwebte, spielten traditionelle Intervalle, Akkorde und Akkordverbindungen keine Rolle mehr. Um so intensiver beschäftige Cage sich mit der Frage, ob eine streng konstruierte Musik auch ohne bestimmte Tonhöhen, mit rhythmischen Strukturen für Schlaginstrumente realisiert werden könnte. Cage gelangte dabei zu neuen Lösungen mit der Entwicklung rhythmisch streng konstruierter Schlagzeugmusik.

Charakteristisch für "Amores" ist, daß bestimmte Verfahren der rhythmischen Strukturierung sowohl für Schlaginstrumente angewendet werden als auch für das präparierte Klavier. So ergibt sich eine größere rhythmische Strenge für eine Musik, deren Tonhöhen nicht mehr so genau festgelegt werden können wie in traditioneller Musik, die sich als Musik der eindeutig festgelegten Tonhöhen, als Tonkunst versteht.

Der älteste Satz des Werkes ist das bereits 1936 entstandene Trio für 7 woodblocks - ein zunächst als selbständige Komposition entstandenes Stück, das dann später als dritter Satz in die viersätzigen "Amores" integriert wurde. Der Hauptrhythmus, von dem Cage in diesem Satz ausgeht, wird gleich in den ersten drei Takten dreimal gespielt - in einem Solo des ersten Schlagzeugers.

Z: III, Hauptrhythmus 3mal nacheinander (Spieler 1, 3mal3 Anschläge)

Im ersten Teil des Satzes erscheint dieser Hauptrhythmus bald in der Überlagerung mit einem Kontrapunkt mit schnelleren Notenwerten, bald in kanonischer Überlagerung mit sich selbst - als Engführung.

Z: III 1. Teil T. 1-12

Der 2. Teil des Satzes beginnt ähnlich wie der erste: mit der dreimaligen solistischen Vorstellung des Hauptrhythmus. Auch die Weiterführung ist ähnlich gestaltet wie im ersten Teil - in Überlagerungen des Hauptrhythmus teils mit sich selbst (in kanonischen Verschiebungen), teils mit dem rascheren Gegenrhythmus. Am Schluß des Satzes verschwindet der rhythmische Kntrapunkt, und die Musik verlöscht, indem alle Instrumente sich auf die Notenwerte des Hauptrhythmus beschränken und dabei immer leiser werden.

Z: III 2. Teil T. 13-33

Auch der 2. Satz ist geprägt von prägnanten rhythmischen Gestalten. Sie kehren im Verlauf des Stückes mehrmals klar erkennbar wieder und sorgen so für eine plastische Gliederung des gesamten Formverlaufes.

Z: II Zusammenschnitt 1-8, 51-58, 91-98

Musik, die plastisch konturiert und klar gegliedert ist in rhythmische Perioden, schreibt Cage nicht nur für Schlaginstrumente, sondern auch für das präparierte Klavier. Dies zeigt sich deutlich, wenn man den zweiten Satz der Komposition "Amores" mit dem abschließenden vierten Satz vergleicht. Beide Sätze haben genau die gleiche Anzahl von Takten - nämlich 100, und sie sind in völlig analoger Weise in rhythmische Perioden geglieder - nämlich jeweils 10 Perioden mit je 10 Takten. Diese Gemeinsamkeiten der Taktgliederung werden sicherlich beim Studium der Partitur deutlicher als im unmittelbaren Höreindruck. Beim vergleichenden Hören beider Sätze kann man allerdings relativ leicht herausfinden, daß sie auch in ihren motivischen Gestaltbildungen eng miteinander verwandt sind.

Z: Zusammenschnitt II Schluß (letzter Themendurchgang, T. 91-100) - IV Mitte (31)41-50

"Amores" ist eine Komposition der beziehungsreichen Kontraste. In den Klangfarben des präparierten Klaviers ebenso wie in den Schlußbildungen sind erster und letzter Satz des Werkes eng aufeinander bezogen. Die beiden Mittelsätze sind einerseits, als Schlagzeugmusik, klanglich miteinander verwandt; andererseits sind sie im Klangbild und in Einzelheiten des inneren Aufbaus auch deutlich voneinander unterschieden. Der dritte Satz arbeitet mit wenigen rhythmischen Zellen und ist - ähnlich wie der erste, für präpariertes Klavier bestimmte Satz im Umfang relativ knapp gehalten. Der zweite Satz ist umfangreicher, rhythmisch abwechslungsreicher und gleichwohl klar und streng gegliedert - ähnlich wie die Musik für präpariertes Klavier im abschließenden vierten Satz. In "Amores" artikuliert sich rhythmisch artikulierte Musik für unterschiedliche Klangmittel als Medium der Integration des scheinbar Unvereinbaren - und zugleich als Medium der rhythmischen und klanglichen Innovation.

Z: Amores vollständig

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