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MGG-Artikel "Radiokunst"
A.Zur Terminologie
I. Radiokunst
II. Hörspiel
B. Musik - Radio - Akustische Kunst
I. Radiokunst
Radiokunst ist die Bezeichnung für (Hör-)Kunst, die auf die spezifischen Produktions- und Verbreitungsbedingungen des Radios (Hörfunks) ausgerichtet ist. Der Begriff bezieht sich auf die künstlerische Gestaltung von aufgenommenen (und ggf. technisch verarbeiteten) Hörereignissen in den Erfahrungsbereichen Stimme (bzw. Sprache), Geräusch und Musik. Radiophone Produktionsbedingungen ermöglichen die räumliche, u. U. auch zeitliche Trennung von Aufnahme und Wiedergabe (bzw. Aufführung). Radiophone Verbreitungsbedingungen ermöglichen die rein auditive, vom visuellen Kontext der Klangproduktion abgelöste Wahrnehmung von (über Lautsprecher wiedergebenen) Hörereignissen durch Hörer, die sowohl vom Ort der Klangproduktion als auch voneinander räumlich getrennt sein können (als disperses Publikum).
Möglichkeiten der spezifisch radiophonen Produktion und Verbreitung verbinden sich in der Regel mit Verfahren der technischen Konservierung von Hörereignissen, die, außer für das Radio, auch für den Bereich verschiedener Tonträger von Bedeutung sind. Dies ermöglicht einerseits die Sendung technisch konservierter Hörereignisse, andererseits die technische Konservierung von Sendungen. In beiden Fällen kann deutlich werden, daß Radiokunst sich nicht in jedem Falle von anderen Bereichen technisch produzierter Hörkunst eindeutig abgrenzen läßt. Dies gilt in besonderem Maße für technisch produzierte Hörkunst, die über Tonträger verbreitet wird. Über Radio und/oder Tonträger verbreitete technisch produzierte Hörkunst wird zusammenfassend als Akustische Kunst bezeichnet, die sich, ind er Beschränkung auf rein auditive Ereignisse, abgrenzt nicht nur vom visuellen Kontext der Klangproduktion, sondern auch von audiovisuellen Konstellationen technisch produzierter Klänge und Bilder, insbesondere also auch von der Klanggestaltung für Film und Fernsehen.
Der Begriff Radiokunst kann nicht in jedem Falle so eng gefaßt werden, daß er sowohl die Produktion in einer Rundfunkanstalt als auch die Verbreitung in einer Radiosendung voraussetzt. Für die Verbreitung im Radio spezifisch geeignete Hörkunst kann auch in rundfunkexternen Produktionen entstehen, und andererseits können in Rundfunkstudios Produktionen entstehen, die später auf Tonträgern oder in öffentlichen Aufführungen weitere Verbreitung finden als im Rahmen von Radiosendungen. -
Radiokunst und Akustische Kunst unterscheiden sich von Musik im engeren Sinne einerseits durch die potentielle Gleichwertigkeit der Erfahrungsbereiche Stimme/Sprache, Geräusch und Musik (i. e. S.), andererseits durch die konstitutive Bindung an Bedingungen der technischen Produktion und Verbreitung, wie sie für Musik insgesamt in spezifischen Zusammenhängen (z. B. im Rahmen der elektroakustischen Musik) möglich, aber keineswegs generell unabweisbar gefordert sind.
Die Funktion der Musik im Kontext der Radiokunst ist ambivalent: Einerseits als Musik im engeren Sinne gleichrangig mit Stimmlauten (z. B. Sprechstimmen) und (z. B. situationsbezogenen) Geräuschen; andererseits als Musik im weiteren Sinne, in die auch Geräusche und Stimmlaute integriert sein können.
II. Hörspiel
a) Der Begriff "Hörspiel" bezeichnet ein aus technisch konservierten, produzierten oder verarbeiteten Klängen gestaltetes Hörereignis, das über Lautsprecher wiedergegeben und ohne Zusammenhang mit die Klangproduktion bedingenden oder begleitenden visuellen Vorgängen wahrgenommen wird. Im Unterschied zum Gegenbegriff "Schauspiel", der die Verbindung mit Hörbarem (z. B. mit gesprochener Sprache, Geräuschen und Musik) nicht ausschließt, betont der Begriff "Hörspiel" nicht den Primat des Hörens vor anderen Sinneswahrnehmungen, sondern die ausschließliche Konzentration auf das Hören. Dies ist die Konsequenz daraus, daß die Rezeption des Hörspiels (im Gegensatz zur Rezeption des Schauspiels) auf technische Produktions- und Rezeptionsbedingungen (insbesondere auf die Lautsprecherwiedergabe) festgelegt ist, die das gehörte Resultat von anderen Sinneswahrnehmungen, insbesondere von der Seherfahrung, isolieren.
b) Die technische produzierte Lautsprechermusik ("Unsichtbare Musik", "Akusmatische Musik") ist vom Hörspiel dadurch unterschieden, daß dessen Klangmaterial nicht nur durch innermusikalische Bestimmungen von Klangeigenschaften, Klangtypen und Formverläufe charakterisiert werden kann, sondern auch durch die musikübergreifende Unterscheidung zwischen den drei Grundbereichen der Hörspielgestaltung:
- Stimmlaute/klingende Sprache -
d. h. von Menschen, u. U. auch von anderen Lebewesen hervorgebrachte Hörereignisse, die nicht nur nach klanglichen Bestimmungen beschrieben werden können, sondern auch als Übermittler einer begrifflich fixierbaren, abstrahierbaren, in der Regel auch in eine andere Sprache übersetzbaren Information; im Kontext des Hörspiels ist Sprache allerdings nicht ablösbar vom realen Stimmklang, nicht reduzierbar auf schriftlich Fixierbares und/oder Übersetzbares
- Geräusche - d. h. Hörereignisse, die nicht nur nach klanglichen Bestimmungen wahrgenommen werden können, sondern auch als Hinweise auf (reale oder vorgestellte) Vorgänge; im Kontext des Hörspiels werden Geräusche also nicht akustisch definiert (als Hörereignisse unbestimmter Tonhöhe), sondern dramaturgisch (im Verweis auf Ereignisse der musikübergreifenden sinnlichen Erfahrung)
- Musik - d. h. Hörereignisse, die primär nicht als Übermittlung von Bedeutungen oder als Hinweis auf Vorgänge gehört werden, sondern um ihrer selbst willen; Musik als Bestandteil eines Hörspiels impliziert einerseits, in der Beschränkung auf dramaturgische Funktionen beispielsweise der Gliederung oder Untermalung, eine Verengung des Musikbegriffes, andererseits, in der integrativen Öffnung der Möglichkeiten zur klingenden Sprache und/oder zum Geräusch, dessen Erweiterung
c) Die Möglichkeiten der integrativen Kopplung von Sprache, Geräusch und Musik gelten als konstitutiv nicht nur für das Hörspiel, sondern auch für die Akustische Kunst, die als Oberbegriff sowohl der (gleichwertig mit klingender Spracher und/oder Geräuschen kombinierbaren) experimentellen Musik als auch des (integrativ von einer potentiellen Gleichwertigkeit der klingenden Sprache, des Geräusches und der Musik ausgehenden) experimentellen Hörspiels definiert werden kann.
d) Aus den technisch geprägten Produktions- und Rezeptionsbedingugnen des Hörspiels ergibt sich, daß potentiell alle über Lautsprecher verbreitbaren Hörereignisse als Material für eine Hörspiel-Realisation in Betracht gezogen werden können - unabhängig davon, ob sie den Bereichen Stimme/Sprache, Geräusch oder Musik zugeordnet werden. Von der gleichwertigen Berücksichtigung dieser drei Bereiche kann abgesehen werden zugunsten einer Auswahl (Verzicht auf einen oder zwei Bereiche, z.B. im sprachlich-literarischen Hörspiel oder im Geräusch-Hörspiel) oder einer hierarchischen Abstufung (z. B. im traditionellen literarischen Hörspiel mit szenisch-illustrativen Geräuschen, mit szenisch gliedernder und/oder untermalender Musik).
e) Hörspiele werden in der Regel in Rundfunkstudios produziert und in Radiosendungen verbreitet. In diesem Falle sind sie für ein räumlich getrenntes ("disperses"), aber gleichzeitig angesprochenes Publikum bestimmt (was Orson Wells 1938 sensationelle Massenwirkungen bei der radiophonen live-Simulation einer Weltraum-Invasion ermöglichte). Die Möglichkeiten der technischen Reproduktion sowie der massenweisen Vervielfältigung und Verbreitung von Hörspielen waren und sind begrenzt im Maße ihrer institutionellen Bindung an das Radio und insbesondere an damit zusammenhängende technische, urheberrechtliche und wirtschaftliche Gegebenheiten. Dies schloß schon in der Frühzeit des Radio und des Hörspiels, in den zwanziger Jahren, nicht die Verwendung von vorproduzierten Schallplatten aus, die während live übertragener Hörspielaufführungen auf live bedienten Schallplattenspielern abgespielt wurden. Andererseits wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, live-Sendungen von Hörspielen auf Schallplatten mitzuschneiden und sie so technisch reproduzierbar zu machen. (Versuche der Konservierung auf Film-Ton-Band blieben damals vereinzelte Ausnahmen.) Dennoch blieb die massenhafte Reproduktion von Hörspielen und ihre Verbreitung auf dem Tonträgermarkt von den zwanziger Jahren bis zu den frühen neunziger Jahren ein Ausnahmefall (ungeachtet der Tatsache, daß die technische Faktur der Hörspiele ihrer Verbreitung über Tonträger nicht weniger angemessen ist als der Übertragung im Radio; schon aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind kommerziell vertriebene Phonographen-Aufnahmen erhalten geblieben, die in den Konstellationen von Stimme/Sprache, Geräusch und Musik bereits die Dramaturgie von Hörspielen der zwanzigen und frühen dreißiger Jahre vorwegnehmen). Die Archivierung von Hörspielen und Schallplatten (seit den zwanziger Jahren) und Tonbändern (seit den frühen fünfziger Jahren) hat am Primat ihrer radiophonen Verbreitung nur wenig geändert.
f) In Analogie zum Schauspiel wird das Hörspiel in der Regel als zusammenhängendes Stück längerer Dauer angenommen; für Ausnahmen von dieser Regel gibt es besondere Bezeichnungen (z. B. "Kurzhörspiele" oder - im WDR-Repertoire der frühen siebziger Jahre - "Hörspots" oder - in einer als Anthologie angelegten WDR-Produktion von Gerhard Rühm - "Kurze Hörstücke").
g) Die Unterscheidung zwischen den Bereichen Stimme/Sprache, Geräusch und Musik setzt voraus, daß aufgenommene Klänge durch technische Verarbeitung nicht so stark verfremdet werden, daß die eindeutige gehörsmäßige Zuordnung zu einem dieser Bereiche unmöglich oder unsicher würde (z. B. im Falle geräuschhaft verfremdeter Musik, von durch technische Verfremdung dem Geräusch oder der experimentellen Musik angenäherten Sprache oder von durch spezielle Modulationen, z. B. unter Verwendung eines Vocoders, der Sprache angenäherten Geräusch- oder Musikaufnahmen). Sobald durch Mikromontage oder weitgehende klangliche Verfremdung die Herkunft von Sprach- oder Geräuschaufnahmen unkenntlich wird, ist die Möglichkeit einer klaren Abgrezung zwischen Hörspiel/Akustischer Kunst einerseits und Musik andererseits in Frage gestellt.
h) Technisch produzierte Hörkunst kann sich als Hörspiel oder Akustische Kunst lösen von Werkstrukturen und Vermittlungsbedingungen sowohl der traditionellen Literatur als auch der traditionellen Musik. Die Werke existieren primär als klangliche Realisation - nicht als Texte oder Notationen, die der live-Aufführung bedürften, um hörbar zu werden. Selbst dann, wenn Autoren von schriftlichen Vorlagen ausgehen wie etwa John Cage in "Roaratorio" (1979) oder Mauricio Kagel in fast allen seinen seit 1969 entstandenen Hörspielen, kommt in der Regel das definitive Hörwerk erst dadurch zustande, daß der Komponist selbst nach Maßgabe seiner schriftlichen Vorlage die Realisation durchführt (entsprechend der vor allem im HörSpielStudio bzw. im Studio für Akustische Kunst des WDR seit 1969 dominierenden Schwerpunktsetzung "Komponisten als Hörspielmacher").
i) Musik als abgrenzbarer Bestandteil eines Hörspiels tendiert zur Begrenzung auf traditionelle Funktionen, die ihrerseits vergleichbar sind mit traditionellen, aus der Stummfilm-Begleitimprovisation entwickelten Funktionen der Filmmusik. Musik im umfassenden Sinne - als universelle Klangkunst, die auch Stimm- und Sprachlaute sowie Umweltgeräusche in ihre Strukturen zu integrieren vermag - tendiert nicht zur additiven Einbindung in, sondern zur integrativen Verschmelzung mit Hörspiel und Akustischer Kunst.
B. Musik - Radio - Akustische Kunst
I. Allgemeines
Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Musik und Akustischer Kunst wirft andere Fragen auf als die Frage nach dem Verhältnis beider Bereiche zum Radio. Dem Wortsinne nach könnte man die Musik als eine speziellere Disziplin, die Akustische Kunst als eine sie enthaltende und über sie hinaus reichende Disziplin ansehen. Im tatsächlichen Sprachgebrauch trifft dies allerdings nicht zu - und zwar vor allem deswegen, weil der Begriff der Akustischen Kunst meistens nicht in so umfassendem Sinne verwendet wird, sondern in engerem Sinne - in einer Spezifizierung, die sich orientiert an den besonderen Bedingungen der technischen Klangübermittlung und Klangproduktion, wie sie sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt haben, besonders sinnfällig im Medium Radio. Unter diesem Blickwinkel ließe sich die Akustische Kunst definierten als medienspezifische Hörkunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und Produzierbarkeit - gleichsam als auditives Korrelat zu den visuellen Disziplinen der technisch reproduzierten und produz9ierten Bilder, der Photographie und des Films. Das Verhltnis zwischen Musik und Akustischer Kunst ließe sich insofern unter ähnlichen Verhältnissen untersuchen wie das Verhältnis zwischen Malerei und Photographie oder zwischen Theater und Film. In diesem Vergleich kann allerdings auch deutlich werden, daß die Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert sich in vielen Aspekten von der Entwicklung der traditionellen Bildenden Künste unterscheidet: Die Kunst der technisch produzierten Klänge hat sich von der Musik nicht so weit entfernt wie etwa die Kunst der technisch produzierten Bilder von der Malerei. Im Gegenteil: Technische Veräünderungen haben vielfach dazu geführt, daß sich neue klangliche Entwicklungen nicht abseits der Musik, in neuen, technisch geprägten Hörkünsten vollzogen, sondern in der Musik. Technisch produzierte Klangkunst entwicklete sich in vielen Fällen als Konsequenz innermusikalischer Entwicklunglen. Die Frage, ob diese Entwicklungen die Grenzen der Musik sprengen könnten, ließ sich zunächst in vielen Fällen nicht klar beantworten. Die Frage nach dem Verhältnis der musikalischen Entwicklung einerseits zur Entwicklung der Akustischen Kunst, andererseits zur Entwicklung neuer Techniken und neuer technischer Medien (z. B. des Radios stellte sich im 20. Jahrhundert häufig als Frage nach innermusikalischen Veränderungen, deren Konsequenzen womöglich über die Musik selbst hinausweisen konnten.
II. Das Radio als Medium der technischen Übermittlung von Hörereignissen
Die Frage könnte sich stellten, ob und inwieweit die Akustische Kunst an die Produktions-, Kommunikations- und Verbreitungsmöglichkeiten des Radios gebunden ist:
- an ein verstreites (disperses) Publiku; an Adressaten, die das Hören nicht selten (in mehr oder weniger weitgehender individueller Vereinzelung) als Sekundärtätigkeit praktizieren;
- an die Verbreitung zu einer festen Sendezeit innerhalb einer vorgegebenen Programmstruktur;
- an rundfunkspezifische Produktionsbedingungen.
Die Besonderheiten der radiophonen Musikwiedergabe im Verhältnis zur Musikwiedergabe über Tonträger sind seit den Anfängen des Radios in ständiger Veränderung - eben so wie die Beziehungen der rein akustischen Übermittlunlg unsichtbarer Lautsprecherklänge zu multimedialen, insbesondere zu audiovisuellen Präsentationsmöglichkeiten. Die klangliche Vorproduktion von radiophonen Klängen kann die spezifisssch radiophonen Möglichkeiten der live-Übermittlung von Hörereignissen an ein verstreutes Massenpublikum nicht weniger einschneidend modifizieren als veränderte technische Möglichkeiten der Rezeption, nach denen Hörer nicht mehr an eine feste Sendezeit gebunden sein müssen, sondern Sendungen vorprogrammiert aufnehmen und das Aufgenommene dann beliebig oft bei späteren Gelegenheiten abhören können - wie andere Klangkonserven auch. Die Frage, ob im Radio gesendete Klänge anders strukturiert sein könnten oder sollten als Klänge, die auf Tonträgern vertrieben werden, ist in der Entwicklungsgeschichte des Radios nur selten gestellt worden.
III. Akustische Kunst als integrative Hörkunst des technischen Zeitalters
Akustische Kunst entwickelt sich aus neuen Möglichkeiten der Emanzipation des Klangmaterials in unterschiedlichen Klangtypen und Klangeigenschaften s owie in neuen Möglichkeiten der Integration verschiedener Bereiche der Musik, des Sprache und des Geräusches - als mediale universelle Klangkunst.
- Im Bereich der Musik schafft Akustische Kunst neue Gestaltungsmöglichkeiten auf verschiedenen Wegen: Einerseits ermöglicht sie die Befreiung der Hörerfahrung von tradierten Mustern musikalischer Ordnungen des Rhythmus, der Melodie und der Harmonie sowie des Kklanglichen (durch die differenzierte Verwendungen sei es von Instrumenten und instrumentalen Spieltechniken, sei es von Sprech- und Singstimmen - jeweils in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten von der dokumentarischen bis zur technisch verarbeiteten Aufnahme; in einer Radikalisierung traditioneller Konzeptionen der absoluten Musik, quasi als Musikalisierung der Musik). Andererseits kann sich Akustische Kunst realisieren in der Überwindung ästhetischer Abgrenzungen zwischen Musik, Sprache und Geräusch - und insofern auch in neuartigen Möglichkeiten einer Semantisierung der Musik.
- Im Bereich von Stimme und Sprache hat sich eine Emanzipation der klingenden Sprache von schriftlich fixierbaren sprachlichen Strukturen vollzogen - sei es als musikalisch-klangstrukturelle Entsprachlichung; sei es, in der Integration verbaler und nonverbaler Kommunikation, als klangexpressive Entsprachlichung (z. B. durch die Freisetzung von Atem und Schrei in Produktionen von Francois Dufrène und Pierre Henry).
- Im Bereich der Geräusche haben sich neue integrative Möglichkeiten ergeben, die das Geräusch nicht nur im physikalischen Sinne betreffen(d. h. als ein Hörereignis, dessen Tonhöhe man nicht klar auf einen einzigen Wert festlegen kann), sondern auch im Sinne der traditionellen Hörspieldramaturgie (als Hörereignis, das auf einen realen Vorgang verweist). Auch in diesem Zusammenhang erscheinen gegenläufige Tendenzen einerseits der Musikalisierung, andererseits der Semantisierung des Geärusches in seinen unterschiedlichen Bedeutungsfelden.
Noch weiter führen verschiedene Möglichkeiten der materialen Integration - der Verbindung der Bereiche von Musik, Sprache und Geräusch in unterschiedlichen Konstellationen, z. B.
- bei der Verbindung von Musik und Sprache als Versprachlichung der Musik oder als Musikalisierung der Sprache, in wechselseitigen Anpassungen des einen der beiden Bereiche an den anderen;
- bei der Verbindung von Musik und Geräusch als musikalische Integration (in der Verbindung der Musik mit Geräuschen im physikalischen Sinne) oder als semantische Integration (in der Verbindung der Musik mit Geräuschen im Sinne der traditionellen Hörspiel-Dramaturgie);
- bei der Verbindung der Bereiche Sprache und Geräusch etwa als Musikalisierung der Sprachlaute (d. h. ihre Behandlung im Sinne des physikalischen Geräusches unter dem Aspekt "Sprache als (physikalisches) Geräusch" - oder umgekehrt in sprachähnlichen Verwendungen von Geräuschen, etwa bei Pierre Henry mit Geräuschen einer quietschenden Tür als Ausdruck unterschiedlicher menschlicher Aktivitäten, Erfindungen und Erfahrungen, so daß die Türgeräusche in Variations pour une porte et un soupir als Mikrokosmos der Hörwelt unter dem Aspekt "Geräusch(e) als Sprache" erscheinen.
- Die Integration von Sprache, Musik und Geräusch kann sich verbinden mit Tendenzen multimedialer Öffnung, die über die Grenzen der Akustischen Kunst hinausführen.
C. Stimme/Sprache - Geräusch - Musik
Rudolf Frisius
Musik - Radio - Akustische Kunst Vorbemerkungen
Wandlungen der Musik und der Musikvermittlung im 20. Jahrhundert
- Emanzipation des Geräusches
(vorbereitet durch die Emanzipation der Dissonanz)
Neo-Atavismus -
Artifizielle Gestaltung technisch produzierter Klänge
- Sonderfall der Emanzipation des Geräusches:
Emanzipation der klingenden Sprache
- Emanzipation des Geräusches vom situativen Kontext?
Wandlungen der Radiokunst
Vom Hörspiel über das Neue Hörspiel zur Akustischen Kunst
Vorbemerkungen
Wandlungen der Musik und der Musikvermittlung im 20. Jahrhundert
Ansätze der Grenzüberschreitung:
Diesseits und jenseits von reiner Tonkunst und absoluter Musik
Emanzipation der Dissonanz - Emanzipation des Geräusches
Die Emanzipation der Sprache
als Sonderfall der Emanzipation des Geräusches -
Musik und Sprache, Musik als Sprache
Das Radio
als Medium der Übermittlung von Musik und Akustischer Kunst
(als Medium der technischen Übermittlung von Hörereignissen)
Akustische Kunst
als integrative Hörkunst des technischen Zeitalters
VORBEMERKUNGEN
ÜBER MEDIENSPEZIFISCHE HÖRKUNST
Musik - Radio - Akustische Kunst:
Zunächst könnte es schwierig erscheinen,
in der Aufzählung dieser drei Stichwörter einen Zusammenhang zu erkennen. Jeder dieser drei Begriffe eignet sich als Bezugspunkt, um wichtige Veränderungen in der Entwicklung des 20. Jahrhunderts darzustellen.
Wer dem genauer nachzugehen versucht, kann allerdings auch feststellen,
daß diese Begriffe in mehrfacher Hinsicht schwer zu bestimmen sind -
und zwar im Hinblick nicht nur auf
künstlerische, kulturgeschichtliche, gesellschaftliche und politische Veränderungen im 20. Jahrhundert,
sondern auch auf ihr Verhältnis zueinander.
Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Musik und Akustischer Kunst
wirft andere Fragen auf
als die Frage nach dem Verhältnis beider Bereiche zum Radio.
Dem Wortsinne nach
könnte man die Musik als eine speziellere Disziplin,
die Akustische Kunst als eine sie enthaltende
und über sie hinaus reichende Disziplin ansehen.
Im tatsächlichen Sprachgebrauch allerdings trifft dies nicht zu -
und zwar vor allem deswegen,
weil der Begriff der Akustischen Kunst
meistens nicht in so umfassendem Sinne verwendet wird,
sondern in engerem Sinne -
in einer Spezifizierung, die sich orientiert an den besonderen Bedingungen der technischen Klangübermittlung und Klangproduktion,
wie sie sich im 20. Jahrundert durchgesetzt haben,
besonders sinnfällig im Medium Radio.
Unter diesem Blickwinkel ließe sich die Akustische Kunst definieren
als medienspezifische Hörkunst
im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und Produzierbarkeit -
gleichsam als auditives Korrelat zu den visuellen Disziplinen
der technisch reproduzierten und produzierten Bilder,
der Photographie und des Films.
Das Verhältnis zwischen Musik und Akustischer Kunst
ließe sich insofern unter ähnlichen Aspekten untersuchen
wie das Verhältnis zwischen Malerei und Photographie
oder zwischen Theater und Film.
In diesem Vergleich kann allerdings auch deutlich werden,
daß die Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert sich in vielen Aspekten
von der Entwicklung der traditionellen Bildenden Künste unterscheidet:
Die Kunst der technisch produzierten Klänge
hat sich von der Musik nicht so weit entfernt
wie etwa die Kunst der technisch produzierten Bilder von der Malerei.
Im Gegenteil:
Technische Veränderungen haben vielfach dazu geführt,
daß sich neue klangliche Entwicklungen
nicht abseits der Musik, in neuen, technisch geprägten Hörkünsten vollzogen, sondern in der Musik selbst.
Technisch produzierte Klangkunst entwickelte sich in vielen Fällen
als Konsequenz innermusikalischer Entwicklungen.
Die Frage, ob diese Entwicklungen die Grenzen der Musik sprengen könnten, ließ sich zunächst in vielen Fällen nicht klar beantworten.
Die Frage nach dem Verhältnis der musikalischen Entwicklung
einerseits zur Entwicklung der Akustischen Kunst,
andererseits zur Entwicklung neuer Techniken und neuer technischer Medien
(z. B. des Radios)
stellte sich im 20. Jahrhundert häufig
als Frage nach innermusikalischen Veränderungen,
deren Konsequenzen womöglich über die Musik selbst hinausweisen konnten.
WANDLUNGEN DER MUSIK
UND DER MUSIKVERMITTLUNG
IM 20. JAHRHUNDERT -
ANSÄTZE DER GRENZÜBERSCHREITUNG
Erste Grenzüberschreitung:
Diesseits und jenseits von reiner Tonkunst und absoluter Musik
Musik wurde und wird häufig als eine autonome,
ihren eigenen Ordnungen folgende Ton- oder Klangkunst angesehen -
als eine Hörkunst also,
die sich von anderen künsterlerischen Disziplinen deutlich abgrenzen läßt
und für deren Verbindung mit anderen Bereichen
ich in der Regel eher additive als integrative Modelle anbieten.
Als Prototypen derartiger musikalischer Vorstellungen
können Konzeptionen einer absoluten Musik gelten,
wie sie etwa wichtigen Werken
der abendländischen Kunstmusik des 18. und 19. Jahrhunderts
angemessen erscheinen könnten.
Musik als Tonkunst erscheint hier als ein eigenständiger,
von anderen künstlerischen Disziplinen durchaus wesensverschiedener Bereich. Für die Idealvorstellung einer absoluten Musik
wurde vielfach die Instrumentalmusik Beethovens in Anspruch genommen.
Am Beispiel Beethovens aber zeigten sich gleichzeitig auch
die Grenzen dieser Betrachtungsweise:
Seine Musik wurde zwar einerseits, in der Weiterentwicklung bis Brahms,
als Fundament der Emanzipation autonomer Instrumentalmusik angesehen. Andererseits gab es aber auch Musiker,
die aus Beethoven ganz andere Konsequenzen zogen:
Mit programmusikalischen Werken wie der 6. Sinfonie, der "Pastorale", inspirierte Beethoven
nicht nur kurze Programm-Musikstücke,
wie sie sich unter den Ouverturen Mendelssohns finden,
sondern auch größere zyklische Orchesterwerke wie
die "Sinfonie fantastique" von Hector Berlioz,
sinfonische Dichtungen von Franz Liszt und anderen
sowie zahlreiche programmusikalische Werke von Richard Strauß.
Noch weiter ging Richard Wagner,
der das Finale von Beethovens neunter Sinfonie
als Auflösung der autonomen Instrumentalmusik interpretierte -
in der Synthese von Musik und Sprache als ersten Schritt zum Musikdrama,
das beide Bereiche im instrumental begleiteten Gesang
mit szenischen Abläufen verbindet.
Die Akzentverlagerung von der absoluten Musik zur Programmusik,
die für die Musikentwicklung des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist,
läßt sich auch in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts wiederfinden.
Die Parallelen werden deutlich, wenn man beispielsweise einerseits
Streichquartette des späten Beethoven und des späten Webern
als Musterbeispiele "absoluter Musik" prüft,
andererseits Programmusik etwa von Berlioz oder Liszt
unter ähnlichen Aspekten studiert wie narrativ-hörspielartige musique concrète, wie wir sie, in unterschiedlichen Ausprägungen,
aus einzelnen Werken von Pierre Schaeffer und Pierre Henry
oder von Luc Ferrari kennen.
Bei solchen Vergleichen kann sich die naheliegende Feststellung konkretisieren, daß Tendenzen einer avancierten Materialveränderung,
die die engen Grenzen autonomer Musik in Frage stellen,
häufig nicht aus absolut-musikalischen Vorstellungen hervorgehen,
sondern eher aus inhaltsbezogenen Klangvorstellungen,
die über die Grenzen der Musik im engeren Sinne hinausführen.
Die zentralen musikästhetischen Kontroversen des 19. Jahrhunders
haben fortgewirkt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein -
in produktiver Spannung
zwischen musikimmanenten und musikübergreifenden Konzeptionen.
Auch im 20. Jahrhundert ergaben sich wichtige Veränderungen der Musik
oft weniger aus innermusikalischen Entwicklungen
als aus Tendenzen der Grenzüberschreitung.
Dies gilt in besonderem Maße
einerseits für die Frühzeit des 20. Jahrhunderts,
für die Zeit des Durchbruchs zur Atonalität,
andererseits für Tendenzen der Öffnung der Musik zur integrativen Medienkunst, wie sie vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders
eine wichtige Rolle spielten.
Sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert
sind das Bild der Musik und ihrer avancierten Weiterentwicklung
in hohem Maße geprägt durch musikübergreifende Aspekte.
Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wird dies besonders sinnfällig
einerseits im Gesamtkunstwerk Richard Wagners,
andererseits etwa in Arnold Schönbergs atonal-polyästhetischen Musiktheaterprojekten "Erwartung" und "Glückliche Hand" -
in zwei Werken also -
die integrative musikübergreifende Tendenzen Wagners weiterführen
und die überdies Verbindungen herstellen
zu damals aktuellen grenzüberschreitenden Tendenzen
bei bildenden Künstlern wie Kandinsky.
In späteren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verbanden sich
avancierte grenzüberschreitende Tendenzen der Musikentwicklung
teils mit neuen Ansätzen experimenteller Hörkunst
wie der Akustischen Literatur oder dem Neuen Hörspiel,
teils mit neuen Ansätzen medienspezifischer Kunst
(ausgehend von der Übertragung bestimmter Techniken
vom Hörbereich auf den Sehbereich, etwa vom Stummfilm auf das Hörstück - anfangs bei Walter Ruttmann,
später in der musique concrète
oder etwa in Neuen Hörspielen Ferdinand Kriwets).
Zweite Grenzüberschreitung:
Emanzipation der Dissonanz - Emanzipation des Geräusches
Die wichtigsten Veränderungen der abendländischen Kunstmusik,
die als Grenzerweiterungen einerseits zur universellen Klangkunst,
andererseits zur modernen Medienkunst führen konnten,
ergaben sich im Zeichen der Emanzipation des Geräusches -
im Zeichen einer Veränderung also,
die die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat:
als konsequente Weiterführung einer Entwicklung,
die in den Grenzen der tradierten Tonkunst
bereits zur Emanzipation der Dissonanz geführt hatte
und damit zur Infragestellung der überlieferten tonalen Musiksprache.
Die abendländische Tonkunst,
die sich im Laufe einer jahrhundertelangen Entwicklung
mehr und mehr zur Dissonanz geöffnet hat,
ist schließlich zur universellen Klangkunst geworden,
in der alle Hörereignisse potentiell gleichwertig sind.
Ansätze zur Entwicklung der Musik
über die Emanzipation der Dissonanz bis zur Emanzipation des Geräusches,
wie sie in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
zentrale Bedeutung gewannen,
haben historische Wurzeln,
die weit bis in frühere Jahrhunderte zurückreichen.
Ambivalent sind sie nicht zuletzt deswegen,
weil sie einerseits auf klangliche Innovation zielen können,
andererseits aber auch
auf die (erhoffte oder tatsächliche) Rückkehr
zu integralen Klangerfahrungen jenseits kulturell etablierter Abgrenzungen
etwa zwischen schön und häßlich,
zwischen archaisch und progressiv,
zwischen Natur und Kunst.
Die Öffnung der Musik zum Geräusch und zur Dissonanz
kann sich auf verschiedenen Wegen ergeben:
einerseits auf dem Wege zunehmender Komplizierung der Tonbeziehungen;
in fortwährender Annäherung an extrem Artifizelles,
das über die Grenzen des bisher Bekannten hinausweist;
andererseits gleichsam in der Gegenrichtung,
in der zunehmenden Annäherung der artifiziellen Tonkunst
an die von Geräuschen beherrschte Natur.
Eine höchst paradoxe Verbindung beider Tendenzen kann sich dann ergeben, wenn - wie etwa in Schönbergs Behandlung der Sprechstimme -
die Musik sich einerseits von der Tonkunst gesungener Melodien löst, andererseits ihre Gesetzmäßigkeiten
bis in den Bereich der gesprochenen Sprache hinein zu treiben versucht.
In der Instrumentalmusik läßt sich das Geräusch auf zwei verschiedene Weisen definieren:
- einerseits kann ein instrumental komponiertes Geräusch
als Extremfall artifizieller Geräuschkomposition aufgefaßt werden -
etwa in der Symphonik Gustav Mahlers
(mit ihren vielfältigen Formen der Integration von Ton und Geräusch)
oder im vierten der Orchesterstücke opus 6 von Anton Webern (wo, ausgehend von dumpfen und leisen Geräuschen, zunehmend komplexe Dissonanzen schließlich bis zum Zwölfklang führen und, darüber hinaus expandierend, schließlich im komplex vielschichtigen Fortissimo-Geräusch enden);
- andererseits kann ein instrumental komponiertes Geräusch
auch als Annäherung an ein reales Naturereignis gehört werden -
beispielsweise in den komplex geschichteten Wirbeln von 4 Pauken,
die in der "Sinfonie fantastique" von Hector Berlioz
den grollenden Donner darstellen.
Dritte Grenzüberschreitung:
Die Emanzipation der klingenden Sprache
als Sonderfall der Emanzipation des Geräusches -
Musik und Sprache, Musik als Sprache
Im 20. Jahrhundert hat sich die avancierte Musik
auch über ihre tradierten Grenzen hinaus entwickelt
und geöffnet für weiter umfassende Regionen der Akustischen Kunst. Dies zeigt sich schon unter einem besonders sinnfälligen Aspekt
der grenzüberschreitenden Bestimmung des Verhältnisses der Musik -
bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Musik und Sprache.
Dieses Verhältnis ist bedeutsam nicht nur für die Verbindung beider Bereiche (etwa in der Vokalmusik oder im Musiktheater).
Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Musik im Strukturvergleich mit der Sprache - also unter dem Aspekt Musik als Sprache.
Schon aus der traditionellen Musiktheorie ist bekannt,
daß das Material der Musik
in seinen Ton- und Formstrukturen
sich ähnlich beschreiben läßt
wie das Material der Sprache
in seinen Lautstrukturen und in seinen syntaktischen Bildungen:
Töne gruppieren sich
zu Motiven, Phrasen, Perioden und größeren musikalischen Formeinheiten
in ähnlicher Weise wie
Laute zu Silben, Wörtern, Sätzen und größeren syntaktischen Einheiten.
Insofern kommt dem Aspekt sprachlich strukturierter Musik
große Bedeutung zu -
wahrscheinlich nach wie vor größere Bedeutung
als dem komplementären Aspekt musikalisch strukturierter Sprache.
Besonders sinnfällig wird dies in Musik, die in ihren Strukturen literarischen Vorlagen folgt -
sei es in literarisch orientierter Programmusik
(etwa in symphonischen Dichtungen von Franz Liszt
nach Dante, Shakespeare, Schiller, Lamartine oder Victor Hugo),
sei es in an literarischen Strukturen orientierter
Vokal- und Instrumentalmusik
(etwa in Kompositionen von Pierre Boulez nach Texten von
René Char, Henri Michaux oder Stéphane Mallarmé).
Viele Musik
folgt sprachlichen oder quasi-sprachlichen Strukturgesetzen
selbst dann, wenn sie darauf verzichtet,
sprachlich Mitteilbares darstellen oder untermalen zu wollen.
Dies kann so weit gehen, daß innermusikalische Baugesetze
beeinflußt oder sogar ausdrücklich abgeleitet sind
von älteren oder neueren sprachwissenschaftlichen Theorien,
von den Besonderheiten einzelner Sprachen
(etwa des Tschechischen bei Leos Janacek
oder neuerdings des Chinesischen bei Shirai Zhu),
von bestimmten literarischen sujets oder Vorlagen
(wobei nicht nur
an traditionelle Hörspiel-Adaptionen oder Hörspiele zu denken ist,
sondern auch an avancierte Produktionen
des Hörspiels und der Akustischen Kunst,
in denen sich etwa John Cage von James Joyce inspierieren ließ,
Pierre Henry von Antonin Artaud,
Victor Hugo oder Marcel Proust).
Die Musik kann in solchen Fällen
die literarische Vorlage vollständig oder weitgehend unverändert lassen
und diese als Vorgegebenes zu interpretieren versuchen.
Möglich ist aber auch,
daß die Musik eine literarische Vorlage
ihren spezifischen Besonderheiten anverwandelt
und sie so auch in ihrer inneren Substanz verändert
(so wie beispielsweise in verschiedenen Produktionen von Sabine Schäfer
Laut- und Sprachaufnahmen
gleichwertig neben Geräuschen und synthetischen Klängen erscheinen).
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Neue Entwicklungen können sich ergeben
einerseits aus der Musikalisierung der Sprache,
andererseits aus der Versprachlichung der Musik.
Die Entwicklung der Musikalisierung der Sprache läßt sich verfolgen
von einfachsten Formen des Sprechgesanges und gesungener Texte
über gregorianische Melismen
und verschiedene Epochen
der vokalen und vokal-instrumentalen Mehrstimmigkeit
bis hin zu den musikalisierten Lautstrukturen von Kurt Schwitters
(vor allem in seiner "Sonate in Urlauten")
sowie später in der poésie sonore und in der sound poetry.
Die Musikalisierung der Sprache ergab sich
im Zusammenhang einer Entwicklung, die in wichtigen Phasen charakterisiert ist von einer zunehmenden Akzentverlagerung vom Text zur klingenden Sprache, von der schriftlichen Vorlage zur klanglichen Realisation. -
Andererseits haben sich wichtige Innovationen
uch gleichsam auf einem gegenläufigen Wege ergeben -
auf dem Wege einer Versprachlichung der Musik.
In verschiedenen Epochen der Musikgeschichte
finden sich Beispiele für Innovationen
des Rhythmus, der Melodieführung, der Harmonisierung
und der klanglichen Ausgestaltung,
die sich aus sprachlichen bzw. literarischen Anregungen erklären lassen -
aus dem Bemühen um differenzierte Text-Deklamation,
um plausible Text-Gliederung und um die plastische Darstellung oder Untermalung von Textinhalten.
In der abendländischen Musikgeschichte vollzog sich dies
über viele Jahrhunderte hinweg
meistens im konventionellen Rahmen einer Text-Vertonung,
d. h. der Einbettung einer literarischen Vorlage
in komplexe vokale oder vokal-instrumentale Tonstrukturen.
Frühe Beispiele einer Musik,
in der die Musiker nicht nur ihre Tonstrukturen,
sondern auch ihre Lautstrukturen selbst erfinden,
sind selten.
Zu den vereinzelten Ausnahme in älterer Musik zählen beispielsweise Lautstrukturen in Renaissance-Madrigalen,
die als Tonmalerei von Vogelgesang
oder von Geräuschen einer Schlacht konzipiert sind.
In der neueren Kunstmusik gibt es historisch folgenreiche emanzipierte,
von vorgegebenen literarischen Vorlagen und Sinnzusammenhängen losgelöste Lautstrukturen
erst bei Hector Berlioz
(in der prä-surrealistischen Phantasiesprache
einiger Passagen seiner "Damnation de Faust")
und bei Richard Wagner (etwa im stabreimenden Lautgesang der Rheintöchter).
Die weitere Entwicklung führte im 20. Jahrhundert
über die musikalische Emanzipation des Melodrams
(im Sprachgesang bei Schönberg und Berg;
später, in historisch reflektierter Aktualisierung,
in Gerhard Rühms "Wintermärchen")
bis zur Laut und Klang verschmelzenden Akustischen Kunst.
Die Musikalisierung der Sprache und die Versprachlichung der Musik
können sich artikulieren
sei es in bewußter Einseitigkeit oder Konfrontation,
sei es in wechselseitiger Ergänzung;
sei es pseudo-naturalistisch,
sei es in bewußter Stilisierung.
In extremen Fällen kann es zu Mischtechniken kommen,
etwa zur musikalischen Komposition klingender Sprache
oder zu Versuchen der literarischen Fixierung
von (eigentlich in dieser Weise nicht fixierbaren)
Geräuschen, Klängen oder musikalischen Strukturen.
Komplexe Mischformen ergeben sich beispielsweise
in musikalisch notierten, in Rhythmen und Tonhöhen fixierten
Sprechstimmen-Partien Schönbergs und Bergs -
oder später in Produktionen von Pierre Henry,
in denen Stimmaufnahmen mit Francois Dufrène
(die ihrererseits bereits
als autonome Akustische Kunst angesehen werden können)
wiederum zu Ausgangsmaterialien
von Akustischer Kunst zweiten Grades werden,
indem sie durch Schnitt, Montage, Mischung
und eventuell auch weitere klangliche Verarbeitung
integriert werden in komplexere klangliche Zusammenhänge.
Wichtige übergeordnete Aspekte der gleichberechtigten Einbeziehung von Stimm- und Sprachlauten in moderne Hörkunst sind
einerseits die Emanzipation des Geräusches
(die meisten Stimm- und Sprachlaute sind Geräusche),
andererseits die Intensivierung der Verbindung
des Klanglichen mit nonverbaler und verbaler Kommunikation.
Sowohl in der Musik als auch in der Literatur haben sich Prozesse der Loslösung von im voraus fixierten schriftlichen Vorlagen ergeben.
Klänge, die zum Sprechen gebracht werden,
präsentieren sich in neuartigen Affinitäten
zu Stimmlauten und zu klingender Sprache.
Die modernen Möglichkeiten der technisch vermittelten
Konservierung, Übertragung und Verarbeitung von Klängen
gelten für die Dimensionen
der vorgefundenen Musik, der Sprache und des kontextgebundenen Geräusches in gleicher Weise.
Man kann dem Rechnung tragen,
indem man entweder -
wie Pierre Henry in seinem Hörspiel "Journal de mes sons" -
von Musik im weiteren Sinne spricht
oder indem man es, etwa im Sinne von Edgard Varèse oder John Cage, anheimstellt, für neuartige Entwicklungen
auch neue, tradierte ästhetische Grenzen überschreitende Begriffe zu finden
wie etwa organized sound, integrative Klangkunst oder Akustische Kunst. Solche Begriffe können verdeutlichen,
daß es nicht nur auf neue Material- und Formkonstellationen ankommt,
sondern auch auf neue Bedingungen
der Präsentation, der Verbreitung und der Kommunikation.
DAS RADIO
ALS MEDIUM DER TECHNISCHEN ÜBERMITTLUNG
VON HÖREREIGNISSEN
Die Frage könnte sich stellen,
ob und inwieweit die Akustische Kunst
an die Produktions-, Kommunikations- und Verbreitungsmöglichkeiten
des Radios gebunden ist:
- an ein verstreutes Publikum; an Adressaten, die das Hören nicht selten
(in mehr oder weniger weitgehender individueller Vereinzelung)
als Sekundärtätigkeit praktizieren;
- an die Verbreitung zu einer festen Sendezeit innerhalb einer vorgegebenen Programmstruktur;
- an rundfunkspezifische Produktionsbedingungen.
Die Besonderheiten der radiophonen Musikwiedergabe
im Verhältnis der Musikwiedergabe über Tonträger
sind seit den Anfängen des Radios in ständiger Veränderung -
eben so wie die Beziehungen
der rein akustischen Übermittlung unsichtbarer Lautsprecherklänge
zu multimedialen, insbesondere zu audiovisuellen Präsentationsmöglichkeiten. Die klangliche Vorproduktion von radiophonen Klängen
kann die spezifisch radiophonen Möglichkeiten
der live-Übermittlung von Hörereignissen an ein verstreutes Massenpublikum nicht weniger einschneidend modifizieren
als veränderte technische Möglichkeiten der Rezeption,
nach denen Hörer nicht mehr an eine feste Sendezeit gebunden sein müssen, sondern Sendungen vorprogrammiert aufnehmen
und das Aufgenommene dann beliebig oft
bei späteren Gelegenheiten abhören können - wie andere Klangkonserven auch. Die Frage, ob im Radio gesendete Klänge
anders strukturiert sein könnten oder sollten
als Klänge, die auf Tonträgern vertrieben werden -
diese Frage wird nur selten gestellt;
möglicherweise wird sie früher oder später
nicht zuletzt von der technischen Entwicklung überholt.
Dies ergibt sich aus den potentiell vorhandenen Möglichkeiten
der technisch vermittelten Produktion und Verbreitung von Klängen.
Das ändert allerdings wenig daran,
daß unter konkreten Bedingungen der gegenwärtigen Medienpraxis
dem Radio gerade heute eine wesentliche Funktion zukommen kann, beispielsweise in einer Institution wie dem Kölner Studio für Akustische Kunst, das wesentliche Impulse für moderne Medienpraxis
und für wichtige neue Produktionen gegeben hat.
AKUSTISCHE KUNST
ALS INTEGRATIVE HÖRKUNST
DES TECHNISCHEN ZEITALTERS
Akustische Kunst entwickelt sich
aus neuen Möglichkeiten der Emanzipation des Klangmaterials
in unterschiedlichen Klangtypen und Klangeigenschaften
sowie in neuen Möglichkeiten der Integration
verschiedener Bereiche der Musik, der Sprache und des Geräusches -
als mediale universelle Klangkunst.
Akustische Kunst schafft neue Gestaltungsmöglichkeiten
im Bereich der Musik, und zwar auf verschiedenen Wegen:
- Einerseits ermöglicht Akustische Kunst die Befreiung der Hörerfahrung
von tradierten Mustern musikalischer Ordnungen
des Rhythmus, der Melodie und der Harmonie sowie des Klanglichen.
(Dies läßt sich erreichen durch die differenzierte Verwendung
von Instrumenten und instrumentalen Spieltechniken
sowie von Sprech- und Singstimmen -
jeweils in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten
von der dokukmentarischen bis zur technisch verarbeiteten Aufnahme -
in einer Radikalisierung traditioneller Konzeptionen der absoluten Musik -
quasi als Musikalisierung der Musik).
- Andererseits kann sich Akustische Kunst realisieren
in der Überwindung ästhetischer Abgrenzungen
zwischen Musik, Sprache und Geräusch
und insofern auch in neuartigen Möglichkeiten einer Semantisierung der Musik.
- Im Bereich der Sprache
hat sich eine Emanzipation der klingenden Sprache
von schriftlich fixierbaren sprachlichen Strukturen vollzogen -
sei es als musikalisch-klangstrukturelle Entsprachlichung
sei es, in der Integration verbaler und nonverbaler Kommunikation,
als klangexpressive Entsprachlichung
(z. B. durch die Freisetzung von Atem und Schrei
in Produktionen von Francois Dufrène und Pierre Henry).
- Im Bereich der Geräusche
haben sich neue integrative Möglichkeiten ergeben,
die das Geräusch nicht nur im physikalischen Sinne betreffen
(d. h. als ein Hörereignis,
dessen Tonhöhe man nicht klar auf einen einzigen Wert festlegen kann),
sondern auch im Sinne der traditionellen Hörspieldramaturgie
(als Hörereignis, das auf einen realen Vorgang verweist).
Auch in diesem Zusammenhang erscheinen gegenläufige Tendenzen
einerseits der Musikalisierung, andererseits der Semantisierung des Geräusches in seinen unterschiedlichen Bedeutungsfeldern.
Noch weiter führen verschiedene Möglichkeiten der materialen Integration -
der Verbindung der Bereiche von Musik, Sprache und Geräusch
in unterschiedlichen Konstellationen,
zum Beispiel bei der Verbindung von Musik und Sprache
als Versprachlichung der Musik oder als Musikalisierung der Sprache.
in wechselseitigen Anpassungen des einen der beiden Bereiche an den anderen:
-- bei der Verbindung von Musik und Geräusch
als musikalische Integration
(in der Verbindung der Musik mit Geräuschen im physikalischen Sinne)
oder als semantische Integration
(in der Verbindung der Musik mit Geräuschen im Sinne der traditionellen Hörspiel-Dramaturgie -
beispielsweise in der Verbindung von Klaviermusik mit Verkehrsgeräuschen,
wie sie Gerhard Rühm präsentiert in seinem Hörstück "Kleine Weltgeschichte der Zivilisation");
-- bei der Verbindung der Bereiche Sprache und Geräusch
etwa als Musikalisierung der Sprachlaute
(d. h. ihre Behandlung im Sinne des physikalischen Geräusches
unter dem Aspekt Sprache als (physikalisches) Geräusch)
oder umgekehrt in sprachähnlichen Verwendungen von Geräuschen
(etwa bei Pierre Henry
mit Geräuschen einer quietschenden Tür
als Ausdruck unterschiedlicher menschlicher
Aktivitäten, Erfindungen und Erfahrungen -
die Türgeräusche als Mikrokosmos der Hörwelt unter dem Aspekt Geräusch(e) als Sprache).
Die Integration von Sprache, Musik und Geräusch in der Akustischen Kunst verbindet sich mit Tendenzen der Öffnung
für Tendenzen der medienspezifischen Weltkünste -
in Versuchen der Aufarbeitung komplexer Hörerfahrung und Gesamterfahrung.
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