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Rudolf Frisius
Serielle Musik
A. Zur Terminologie im kompositionstgeschichtlichen Wandel
Der Begriff "serielle Musik" gehört zu den schwierigsten Termini im Kontext von Kompositions- und Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts, da er je nach Sprache (z. B. sériel, serial, seriell) unterschiedlich verwendet werden kann und insbesondere bei der Übertragung aus dem Französischen ins Deutsche essentielle Veränderungen erfahren hat. Die Tragweite dieses Begriffes ist umstritten - je nachdem, auf welchen kompositionsgeschichtlichen Kontext und auf das oeuvre welches Komponisten er primär bezogen wird. Seine Verwendung kurz vor 1950 und sein radikaler Bedeutungswandel kurz nach 1950 erscheinen spätestens seit den 1970er Jahren in verändertem historischen Kontext erneut revisionsbedürftig, da die in den 1950er Jahren den Bedeutungswandel begründenden Veränderungen in größeren Entwicklungszusammenhängen weniger relevant erscheinen können als die Abgrenzung des möglichst weit gefaßten Begriffes von Bezeichnungen für kontrastierende Denkansätze beispielsweise bei Edgard Varèse oder in der konkreten Musik, in minimalistischer oder (neo-)spontaneistischer bzw. (neo-)expressionistischer Musik.
Serielle Musik ist - dem Wortsinne nach - die Bezeichnung für Musik, in der sich reihenmäßige Strukturierungen des Klangmaterials nachweisen lassen. René Leibowitz verwendete den französischen Terminus "composition sérielle" äquivalent mit dem deutschen Begriff "Reihenmusik" (Leibowitz 1949, S. 18), allerdings in historisch begründeter Einschränkung: Seine Begriffsbildung und Theorie orientierten sich in den späten 1940er Jahren noch ausschließlich an den ihm damals vorliegenden Kompositionen Schoenbergs und seiner Schule, so daß a) das Reihendenken ausschließlich als Denken in Tonreihen verstanden wurde und b) Reihenkonstruktionen mit mehr oder weniger als 12 Tönen ausschließlich als Vorformen der Zwölftonmusik in Betracht gezogen wurden (im Sinne der opera 23 und 24 von Arnold Schönberg). Andererseits hat Leibowitz aus der analytischen Erforschung der Zwölftonmusik schon frühzeitig Perspektiven eines integrativen, auf den jeweils spezifischen Gewamtzusammenhang eines konkreten Werkes zielenden kompositorischen Denkens entwickelt, wenn er etwa in Schönbergs Spätwerk das Streben nach der Schaffung einer allumfassenden Basis komponierter Zusammenhänge diagnostiziert, die alle formalen Aspekte eines Werkes umfassen soll ("le désir de créer une base ´totale´, und dialectique capable d´embrasser a priori tous les phénomèmes formales pouvant se présenter, et ceci en dehors de leurs constitutions particulières et spécifiques": Leibowitz 1949, S. 334). Das von René Leibowitz 1949 angegebene Kriterium serieller Musik wird von Pascal Decroupet noch 1997 akzeptiert, wenn er (allerdings auf inzwischen beträchtlich erweitertem analytisch-theoretischen Erfahrungshintergrund) das, was nach seiner Diagnose inzwischen "gemeinhin unter ´serieller´ Musik" verstanden wird, mit folgenden Worten beschreibt: "ein durchgeordnetes Material, das in nuce alle Kriterien enthält, die für alle Ebenen bis hin zur Form verbindlich sind" (Decroupet, in: Borio/Danhuser 1997, Bd. 1 S. 304 f.). Die Schwierigkeit einer musikgeschichtlich und musiktheoretisch adäquaten Definition des Begriffs "serielle Musik" ergibt sich vor allem daraus, daß die von Leibowitz bis Decroupet maßgebliche Ideal-Definition eines integralen Serialismus einerseits als Resultat der Analyse real existierender Kompositionen eingeführt wird (Leibowitz a. a. O. S. 16, Decroupet a. a. O. S. 297), andererseits aber auch in den sie fundierenden analytischen Befunden nicht durchweg vollständig und unbestreitbar sein konnte und sein kann. In die Richtung dieses angesichts der Materialfülle früher wie später unvermeidlichen Defizits zielte bereits die fundamentale, de facto gegen Leibowitz gerichtete Kritik von Pierre Boulez, in der er der Reihenmusik Schönbergs zwar einerseits (im Sinne von Leibowitz) eine "écriture sérielle" und "oeuvres sérielles", sogar "une nouvelle organisation du monde" zugesteht (Boulez 1951: engl. 1952, frz. 1966, S. 267 f.), aber andererseits Schönbergs Festhalten am thematischen Denken als Widerspruch zum strukturellen Denken - und damit zur Idealvorstellung des "phénomène sériel" - kritisiert und Vorbehalte anmeldet gegen Schönbergs Beschränkung auf elementare Tonordnungen, gegen seine Vernachlässigung rhythmischer und klanglicher, insbesondere auf Intensität und Anschlagsform gerichtete Ordnungsmöglichkeiten - ohne konsequente Weiterentwicklung selbst der wichtigen Idee der "Klangfarbenmelodie"; sogar gegen Schoenbergs angeblichen Verzicht auf die Entwicklung reihengerechter, aus der Struktur der Reihe konsequent abgeleiteter Reihenkonstellationen (Boulez a. a. O., S. 270 f.). Für die (seiner Auffassung nach in der seinerzeit aktuellen kompositorischen Situation gleichwohl unerläßlichen) "recherches sérielles" (im Sinne einer Verallgemeinerung des Reihendenkens, auch über die Zwölftönigkeit und die Dimension der Tonordnung hinaus) erschien ihm nicht Schönberg, sondern Webern als geeigneter historischer Kronzeuge - als Vorläufer, wenn nicht sogar als erster Exponent eines Musikdenkens, für das im deutschsprachigen Schrifttum spätestens 1955 eine neue Bedeutung des Wortes "seriell" auf breiter Basis eingeführt und institutionalisiert worden ist: Das von Herbert Eimert unter Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen 1955-1962 herausgegebene Aperiodikum "die Reihe" dokumentiert - versehen mit dem Untertitel "Information über serielle Musik" - die Akzentverlagerung von der klassischen Zwölftonmusik auf die ihr nachfolgende mehrdimensionale Reihenmusik: "Um die Mitte des XX. Jahrhunderts beginnt sich die serielle Musik als eine neue Möglichkeit des Denkens und Formens abzuzeichnen. Das aus dem Französischen übernommene Wort "seriell" vermag nur einen allgemeinen Sachverhalt zu umschreiben. Aber es dient, wenn man Wortkonventionen annimmt, im besonderen dazu, die als seriell charakterisierte Reihenmusik von der traditionellen Zwölftonmusik abzuheben. Die serielle Musik dehnt die rationalle Kontrolle auf alle musikalischen Elemente aus" (Eimert/Stockhausen 1955: Vorwort zu "die Reihe 1", S. 7).
Christoph von Blumröder charakterisiert diese (gegenüber dem ursprünglichen Sprachgebrauch bei Leibowitz) radikal umfunktionierende Verwendung des Begriffs "seriell" folgendermaßen: "(Der TERMINUS SERIELLE MUSIK) wird als NAME FÜR DIE VON DER DODEKAPHONIE ABGEHOBENE REIHENMUSIK NACH 1950 festgesetzt" (v. Blumröder in Eggebrecht 1995, S. 396). Dem widerspricht allerdings, daß in dem zweiten, Anton Webern gewidmeten Heft des Aperiodikums "die Reihe" - ebenfalls unter dem Untertitel "Information über serielle Musik" - ausschließlich Musik vor 1950 behandelt worden ist ("die Reihe", Heft 2 Anton Webern 1955; schon im Vorwort zum ersten Heft findet sich, im zehnten Todesjahr des Komponisten, ein "Bekenntnis zu Anton Webern als dem Ausgangs- und Wendepunkt": die Reihe 1, 1955, S. 7). v. Blumröder selbst weist überdies darauf hin, daß die von ihm angenommene exklusive Verwendung des Begriffes "seriell", die das von Leibowitz mit "sériel" ursprünglich Gemeinte geradezu ausschließt, auch seiner Auffassung nach allenfalls für das deutschsprachige Schrifttum relevant ist: "Unbeeinflußt von der Etablierung des Terminus serielle Musik im Dtsch. hat sein Pendant IM FRANZÖSICHEN UND ENGLISCHEN EINE GLOBALE BEDEUTUNG behalten, die sowohl die Zwölftonmusik als auch die universelle Reihenkompos. nach 1950 einschließen kann" (v. Blumröder, a. a. O. S. 396). In diesem Sinne attestiert selbst Pierre Boulez, den v. Blumröder für eine Begriffserweiterung des Terminus "sériel" in Anspruch nimmt, noch 1961 sogar Schönberg "la stricte discipline sérielle" (Boulez: Schönberg, 1961; in: Boulez 1966, S. 358; als historisch erstes Referenzwerk hierfür nennt Boulez Schönbergs Klavierstücke op. 23; Josef Häusler übersetzt, unter Vermeidung des Begriffes "seriell", "stricte discipline sérielle" in "strenge Reihentechnik: Boulez dt.: Anhaltspunkte, 1966, S. 315). Wenn die sechs Vorlesungen, die Boulez 1960 auf den Darmstädter Ferienkursen hielt, zusammen mit ihrer (vor allem in kompositionstechnischen Teilaspekten erweiterten) Druckfassung als sein "System der seriellen Komposition" gelten dürfen (Decroupet 1997, S. 379), dann verbietet sich die Ausgrenzung der klassischen Zwölftonmusik aus diesem Bereich, da Boulez sie in mehreren Beispielen ausführlich analysiert (Boulez 1963, Musikdenken heute Band 1, Kapitel II. Musikalische Technik, z. B. in folgenden Notenbeispielen: Berg, Lyrische Suite S. 62-63; Webern op. 24 S. 62, 66; op. 27 S. 39; op. 28 S. 42, 62, 70; op. 31 S. 114; die Beispiele und ihre Analysen verweisen auf Beziehungen klassischer Zwölftonkompositionen zur Musik von Boulez, die sich vor allem in ihren primär intervallstrukturellen Ansätzen der Serialität von der Musik sowohl Nonos als auch Stockhausens deutlich unterscheidet).
Luigi Nono hat wichtige analytische Belege präsentiert, die die Einbeziehung auch der Reihenmusik Arnold Schönbergs in größere, bis in die frühen 1920er (nicht: 1950er!) Jahre zurückreichende Zusammenhänge der Entwicklung serieller Musik legitimieren (Nono 1956, Nono 1958; in: Nono/Stenzl 1975, 16-20, 21-33; hierzu Borio in Borio/Danuser 1997, S. 201-212).
Karlheinz Stockhausen hat, wie C. v. Blumröder (a. a. O.) hervorhebt, "für die von der Dodekaphonie abgehobene Reihenmusik" in den frühen fünfziger Jahren zunächst noch nicht den Terminus "serielle Musik" verwendet, sondern andere, teilweise (wohl unbeabsichtigt) auf Leibowitz zurückverweisende Bezeichnungen (wobei Leibowitz allerdings, anders als Stockhausen, sich nicht auf mehrdimensionale, sondern auf tonhöhenkonzentrierte Zwölftonmusik konzentriert hatte): Stockhausen verwendete die Termini "durchgeordnete Musik", "´totale´ Musik" und "´totale´ Tonordnung" (Stockhausen 1952, in: Texte 1, S. 17 u. 21, 20). 1953 spricht Stockhausen von "konsequenter Reihenkomposition" (d. h. Musik unter Einbeziehung der Klangfarbenstrukturierung, die nach seiner damaligen Auffassung nicht instrumental realisierbar wäre, sondern nur elektronisch wie in seiner "Studie I", 1953; Stockhausen 1953, in: Texte 1, S. 39). Die Beschränkung der Kompositionstechnik auf die serielle "Strukturierung der Tonhöhen, Zeitdauern und Lautstärken", wie sie Pierre Boulez im ersten Buch seiner "Structures" für zwei Klaviere vorgenommen hat, läßt Stockhausen "die Synthese der drei Dimensionen in der seriellen Klangfarben komposition" vermissen (Stockhausen 1953, a. a. O. S. 43). Dies wirft die Frage auf, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Beriff "seriell", Stockhausens Sprachgebrauch folgend, primär "im Blick auf ´universelle Reihenkomposition´" (v. Blumröder, a. a. O. S. 396) verwendet werden kann und soll (was, einem wissenschaftlich weit verbreiteten Sprachgebrauch zuwiderlaufend, die Verwendung des Terminus "serielle Musik" nicht einmal für ein Musterbeispiel mehrdimensionaler "punktueller" Reihenkomposition wie die "Structure Ia" von Pierre Boulez erlauben würde) oder ob der Begriff "serielle Musik" auch auf nur in Teilbereich seriell konstruierte (bzw. analytisch als seriell konstruiert nachgewiesene) Kompositionen bezogen werden soll (was dann wiederum die Ausgrenzung selbst traditioneller, z. B. motivisch-thematisch gebundener und traditionellen Formschemata folgener Zwölftonmusik fragwürdig machen würde). Eine allzu enge Bindung des Begriffes "serielle Musik" an Stockhausens Konzepte integraler Reihenkomposition würde die Verwendung dieses Terminus selbst im engeren Kontext von Stockhausens eigener Musik in problematischer Weise einschränken.
Beispiele dafür, daß serielle Vorausstrukturierungen vom kleinsten Details bis zur vollständigen Großform nicht mit beliebigen Klangmaterialien und unter beliebigen Produktions- und Aufführungsbedingungen realisierbar sind, finden sich in Stockhausens elektroakustischer Tonbandmusik spätestens seit "Telemusik" (1966) und "Hymnen" (1966-1967), in seiner Instrumentalmusik spätestens seit den (mit unbestimmten Klängen arbeitenden) Prozeßplanungs- und "intuitiven" Textkompositionen der späten sechziger Jahre (z. B. "Prozession" (1967); "Kurzwellen" und "Spiral" (1968); "Pole" und "Expo" (1969/1970); "Aus den sieben Tagen" und "Für kommende Zeiten" (1968 bzw. 1970)). Untersuchungen der Entwicklung von Stockhausens seriellen Kompositionstechniken vor allem in den sechziger Jahren (Kohl 1981) legen die Vermutung nahe, daß in extremen Fällen die Anwendbarkeit des Begriffes "seriell" selbst bei Stockhausen unsicher oder fragwürdig erscheinen kann. Auch in seinem Oeuvre gibt es prägnante Beispiele von Kompositionen, bei denen serielle Strukturierungen allenfalls in Teilaspekten erkennbar sind - und selbst hier unter gegenüber den fünfziger Jahren vollständig veränderten Voraussetzungen (beispielsweise in der Anwendung auf vorgefundene oder musikalisch vorstrukturierte Klangmaterialien:
- Fragmente tonaler Kadenzen mit seriell variierten Abschnittsdauern im Bläserquintett "Adieu" (1965);
- serielle Montagestrukturen aus Fragmenten außereuropäischer Musik in "Telemusik" (1966) oder mit klanglichen Interpolationen unterschiedlicher Musikfragmente in die großformale Verarbeitung der Marseillaise in "Hymnen" (1966-1967);
- ebenfalls in "Hymnen" die serielle Rhythmisierung verschiedener Montagestücke bei der Verarbeitung der Nationalhymnen Deutschlands und der USA sowie
- in der ´russischen´ Region der "Hymnen" die serielle Dosierung der (von Stockhausen melodisch chromatisierend veränderten, dementsprechend neu harmonisierten und schließlich elektronisch realisierten) Hymne der UdSSR mit quasi-seriellen Abstufungen verschiedener Skalentypen (diatonisch - Zigeuner-Moll - Ganztonleiter - chromatische Tonleiter mit Intervalspreizungen der ursprünglich rein diatonischen Melodie) und Tempi (auf der Basis einer Skala mit dem Proportionsintervall 3:2).
Aspekte der seriellen Verarbeitung vorgegebener sprachlicher und musikalischer Materialien in einzelnen, z. B. rhythmischen Dimensionen spielen seit den frühen siebziger Jahren auch ein der Musik von Mauricio Kagel eine wichtige Rolle, z. B. in seinem 1972 uraufgeführten Zyklus "Programm" und in einem 1973 uraufgeführten Ensemblestück "1898".
In Stockhausens seit 1970 entstandenen Formelkompositionen und in seiner seit 1977 entwickelten multiformalen Musik werden Konzeptionen integraler Reihentechnik wieder deutlich erkennbar und erscheinen überdies in stärker der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglicher Prägnanz als ein seinen seriellen Werken der 1950er Jahre. Im Vergleich verschiedener Äußerungen Stockhausens läßt sich erkennen, wie stark die Veränderung vom materialstrukturellen bis zum direkt wahrnehmungsbezogenen Denken ihm selbst bewußt geworden ist. 1953 schrieb er: "Der Einwand, man höre.. die ´serielle Ordnung´ nicht mehr,... geht so sehr am wesentlichen Problem der Reihenkomposition überhaupt vorbei, wie die Rede von den ´12-Tonreihen in bisherigen Instrumentalkompositionen, die man ja gar nicht verfolgen könne´. Wer sieht die Atome? Und doch weiß jeder, daß von ihrer Struktur alle materielle Erscheinung abhängt" (Stockhausen 1953, in: Stockhausen 1954 und Texte 1, S. 50). Stockhausen selbst spricht hier vom Problem der Hörbarkeit von Reihenstrukturen in serieller Musik im weiteren Sinne (unter Einschluß der klassischen Zwölftonmusik) - einem Problem, für das er seit den siebziger Jahren in seinen Formelkompositionen nach neuen Lösungen gesucht hat. 1978 sagt er hierzu: "Jetzt versuche ich allmählich, dieses Land zu gestalten, in dem mir jedes Detail relevant sein muß -... also das war früher auch der Fall, aber jetzt ist das wirklich kontrollierbar, weil man die Gestalten kennt, in die jeder Ton eingefügt ist (nicht nur weil man ahnt, daß das stimmen müßte, wie das früher in der seriellen Musik der Fall war. Man kann wirklich die Gestalten verfolgen, auch ihre Veränderungen..." (Stockhausen 1978, in Henck 1982 und Texte 6, S. 331). Aus Stockhausens Äußerung läßt sich nicht eindeutig entnehmen, ob und inwieweit er hier auch seine aus Formelkonstruktionen entwickelten Kompositionen noch als serielle Musik bezeichnet. Die Analyse dieser Werke zeigt aber eindeutig, daß auch sie seinem bereits in der Frühzeit mehrdimensionaler serieller Musik definierten Konzept universeller Reihenkomposition entsprechen. Den neuen Ansprüchen an die unmittelbare Hörbarkeit serieller Strukturen trägt Stockhausen seit den siebziger Jahren Rechnung, indem er kompositionstechnische Informationen in zunehmendem Maße auch einer bereiteren Öffentlichkeit zugänglich macht, z. B. in Form konzertbegleitender Analysen (die z. B. im Falle der öffentlichen Einführungsanalyse zu "Inori" 1974 unter dem Titel "Vortrag über HU" sogar werkkonstitutive Bedeutung gewann; an ein nicht spezialisiertes Publikum wendet sich auch die erstmals 1980 öffentlich in freier Rede vorgetragene Analyse der Komposition "In Freundschaft", die später zur Druckfassung unter dem Titel "Die Kunst, zu hören" ausgearbeitet wurde: Stockhausen 1980 und 1982, in: Stockhausen 1983 und 1987 und in Texte 5, S. 669-700).
Stockhausens Ansätze der Formelkomposition präsentieren sich, in Kompositionen wie "in Freundschaft" oder "Inori", in melodisch-rhythmisch prägnanten Gestalten, die sich insofern vergleichen lassen mit ebenfalls in den 1970er Jahren entstandenen Kompositionen von Pierre Boulez (z. B. "Messagesquisse" (1976) und "Rituel" (1974); allerdings ist selbst in "Messagesquisse", trotz Verzicht auf seriell konsequente Rhythmisierung und komplexe Differenzierungen, die Tonhöhen-Entwicklung - anders als in Stockhausens Formelkompositionen - keineswegs so unmittelbar sinnfällig, daß sich ihre serelle Strukturierung schon im Höreindruck, ohne Zuhilfenahme der Partitur, direkt erschließen könnte). Überdies lassen sich nicht nur bei Boulez und Stockhausen, sondern auch bei Cage seit den späten 1960er und seit den 1970er Jahren verstärkte Tendenzen der Rückkehr zu fixierten Werkstrukturen beobachten, wobei in den 1950er und 1960er Jahren entwickelte Tendenzen zunehmender Flexiblität und Unbestimmtheit reduziert werden und teilweise Tendenzen der Rückkehr zu früheren kompositorischen Positionen zu beobachten sind - vor allem eine Rückkehr zum Primat der Tonhöhenkonstruktion selbst vor der rhythmischen Gestaltung, wobei die Rückkehr von unbestimmten zu traditionell notierten Tonhöhen vor allem in der Musik von Cage und Stockhausen einschneidende Veränderungen zur Folge gehabt hat, während die Veränderungen im Oeuvre von Boulez mit "Rituel" (1974) erst später einsetzen und stärker die formalen Verknüpfungen als die Detailkonstruktionen betreffen. (Bei Komponisten wie Ligeti und Penderecki, die seit den 1960er Jahren, wenngleich nicht immer auf der Basis analytisch präziser Begründungen, für "postserielle" Kompositionstendenzen in Anspruch genommen worden sind, lassen sich vergleichbare kompositorische Wandlungen in den siebziger Jahren nicht diagnostizieren; vielmehr haben sich in ihren Werken Annäherungen an außerserielle, teilweise auch vorserielle Positionen verstärkt, von denen sich im Falle Ligetis auch Impulse für die Arbeit jüngerer Komponisten wie Manfred Trojahn, Wolfgang von Schwinitz oder Hans Christian von Dadelsen ergaben, die sich von seriellen Verfahren distanzierten in neo-expressiven, teilweise auch neotonalen Ansätzen; in Pendereckis Musik haben neotonale Ansätze sich schon in den sechziger Jahren ausgeprägt und fortentwickelt. Beim Vergleich der kompositorischen Veränderungen im Oeuvre verschiedener Komponisten seit den späten sechzigern und den siebziger Jahren können sich also Anhaltspunkte dafür ergeben, daß in verschiedener Hinsicht vergleichbare Entwicklungen dennoch in ihrem Verhältnis zur Serialität durchaus unterschiedlich charakterisiert sein können. Am deutlichsten und selbst im direkten Höreindruck sinnfälligsten erscheinen serielle Tendenzen seit dieser Zeit in der Musik Karlheinz Stockhausens, die man auch in den Ausprägungen der Formelkomposition und der multiformalen Musik entweder als Konkretisierungen des für seine gesamte kompositorische Arbeit konstitutiven integralen Serialismus ansehen kann - oder, für den Fall, daß in den sechziger Jahren bei Stockhausen Tendenzen der Loslösung vom Serialismus angenommen werden, als neoserielle Tendenzen. Im Falle von Boulez liegt es nahe, Tendenzen nicht der Loslösung, sondern allenfalls der aleatorischen Flexibilisierung oder Aufweichung serieller Ansätze anzunehmen.
Vor allem durch die Entwicklung der Formelkomposition in Stockhausens Musik sind neue Zusammenhänge zwischen mehrdimensionaler Reihenkomposition und klassischer Zwölftonmusik deutlich geworden (Frisius 1981/82). Auch dies spricht gegen eine exklusiv auf die Musik nach 1950 begrenzte Verwendung des Begriffes "serielle Musik".
Pascal Decroupet hat die Entwicklungsgeschichte verschiedener Konzepte serieller Musik im Kontext der Entwicklungsgeschichte der Darmstädter Ferienkurse dargestellt. Dabei konzentriert er sich auf die 1950er und frühen 1960er Jahre und in diesem Zusammenhang vor allem auf serielle Konzepte von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Henri Pousseur. Darüber hinaus berücksichtigt er auch serielle oder die Serialität beeinflussende Aspekte in der Arbeit anderer Komponisten, z . B. John Cage, Bruno Maderna und Luigi Nono (P. Decroupet in Borio/Danuser 1997 Bd. 1, S. 285-425). Ergänzende Darstellungen über die historische Verklammerung der "Darmstädter Schule" mit Ansätzen der Reihenkonstruktion in der klassischen Zwölftonmusik hat Gianmario Borio gegeben (G. Borio in Borio/Danuser 1997 Bd. 1, S. 141-283). Im Vergleich beider Darstellungen werden die Schwierigkeiten deutlich, die der exakten Begriffsbestimmung und analytischen Erforschung serieller Musik auch im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer noch entgegenstehen: So lange die Entwicklung der seriellen Musik, die vor allem in Kompositionen Karlheinz Stockhausens bis in 1990er Jahre hinein wesentliche Veränderungen gezeitigt hat, nicht endgültig abgeschlossen ist, läßt die Frage nach Kontinuitäten oder Brüchen in ihrer Gesamtentwicklung sowie nach engeren oder weiteren Ansätzen ihrer Definition sich nicht abschließend beantworten, zumal die Problematik des Verhältnisses zwischen theoretischen Postulaten und tatsächlich belegbaren kompositorischen Sachverhalten mit zunehmender Fülle der analytischen Details, wie sie vor allem Pascal Decroupet erschlossen hat (in Fortführung wichtiger älterer Untersuchungen beispielsweise von Richard Toop und Herman Sabbe)immer deutlicher zu werden scheint: Je strenger die Postulate integraler serieller Konstruktion ausformuliert werden, als desto schwieriger kann sich ihre umfassende analytische Verifikation erweisen - zumal dann, wenn, wie es bei den Arbeiten nicht weniger wichtiger Komponisten der Fall ist, Skizzen oder sonstige Zusatzinformationen der Komponisten nicht oder nicht vollständig oder erst verspätet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In vielen Fällen konzentrieren sich die analytischen Informationen auf einzelne Details und Aspekte, nicht aber auf die verschiedenen Ebenen der Formbildung vom Detail bis zum Gesamtverlauf (oder umgekehrt). Probleme können sich überdies aus den unterschiedlichen Grundbedingungen verschiedener, nicht ohne weiteres konstruktiv parallelisierbarer Gestaltungsdimensionen ergeben. Wenn beispielsweise Versuche unternommen werden, Aspekte der Tonhöhenstrukturierung auf andere Dimensionen der musikalischen Konstruktion zu übertragen, können sich schon in relativ einfachen Fällen zwölftöniger Strukturierung Probleme daraus ergeben, daß sich zu wichtigen Kriterien der Tonhöhen- und Intervalldifferenzierung nicht ohne weiteres Äquivalente etwa in Beziehungen etwa zwischen verschiedenen Dauern oder zwischen verschiedenen dynamischen Werten bestimmen lassen: Umstandslos auf andere Dimensionen ("Parameter") übertragen läßt sich beispielsweise weder die Doppelcharakterisierung zwölftöniger Intervalle durch Größe und Verschmelzungsgrad noch die (auch im Tonhöhenbereich zwar in tonaler und zwölftöniger Musik häufig kompositorisch ausgenutzte, aber für die Gestaltung musikalischer Zusammenhänge hier wie dort nur unter speziellen Voraussetzungen nutzbare) Oktavverwandtschaft. Überdies hat Stockhausen schon in den frühen 1950er Jahren darauf hingewiesen, daß der kompositorischen Gleichberechtigung verschiedener "Parameter" durch die historischen Prägungen des musikalischen Hörens Grenzen gesetzt sind. Stockhausen schreibt: "Am stärksten ist unser musikalisches Hören an Tonhöhenverhältnissen geschult, dann folgt viel schwächer entwickelt das bewußte Hören von Lautstärkeproportionen noch weitaus unentwickelt ist unser bewußtes Hören von Zeitproportionen, soweit diese vom Gleichtakt abweichen. Und am wenigsten ausgebildet ist das bewußte Hören von unterschiedlichen Tonstrukturen, also von spektralen Proportionen... Und die Entwicklung der abendländischen Musik ging genau diesen Weg zunehmender Differenzierung der einzelnen Dimensionen und ihrer Einbeziehung in den kompositorischen Ordnungsvorgang: Von der höchst ausgebildeten Tonhöhensystematisierung über stetig zunehmende dynamische Differenzierung zu großem rhythmischem Variationsreichtum (Stockhausen 1953, in Texte 1, S. 40 f.). Später, in den siebziger Jahren, hat Stockhausen die Schwierigkeiten des mehrdimensional emanzipierten Hörens in ihrer historischen Bedingtheit anders interpretiert und kompositorisch reflektiert: In "Inori" kehrt er die von ihm früher, in den frühen fünfziger Jahren vorausgesetzte historische Abfolge der Parameter-Differenzierungen um, wenn er im großformalen Verlauf zunächst von rhythmischen Differenzierungen eines einzigen Tones ausgeht (von Pulsationen in wechselnden, chromatisch gestuften Tempi), anschließend übergeht zu dynamischen Differenzierungen dieses Tones und erst danach die fortwährende Wiederholung des (zuvor nur rhythmisch und dynamisch belebten) Tones verwandelt in melodische, harmonische und polyphone Gestaltbildungen und Verwandlungsprozesse. Die Konstruktion des Stückes geht aus von einer Formel, deren chromatische Tonstruktur sich verbindet mit von Ton zu Ton wechselnden Tempo- und Lautstärkebestimmungen, mit Tongruppierungen, in denen die Anzahl der Töne und die Gesamtdauer nach seriellen Prinzipien festgelegt und variiert sind, im Wechsel von Tonstrukturen mit Pausenstrukturen und mit zwischen beiden Phänomenen vermittelnden "gefärbten Pausen". Aus der rund eine Minute dauernden Urformel des Stückes entsteht durch sechzigfache Vergrößerung die mehr als eine Stunde umfassende Großform des Werkes. Den zwölf chromatischen Stufen im Tonhöhenbereich entsprechen zwölf chromatisch gestufte Tempi und 5.12 = 60 dynamische Werte, die sich aus der Kombination verschiedener, traditionell für einzelne Instrumente notierter dynamischer Werte mit unterschiedlichen Besetzungsstärken ergeben. Im Vorwort zur Partitur interpretiert Stockhausen, in anderer Geschichtsdeutung als 1953, die Abfolge der verschiedenen Stadien großformaler Entwicklung dieses Stückes als musikhistorische Allegorie. Nach seinen Worten "entwickelt sich das ganze Werk wie eine Geschichte der Musik von ihren Uranfängen bis heute." Allerdings geht die Formentwicklung in "Inori" von rhythmischen Differenzierungen aus, die Stockhausen 1954 für historisch noch am wenigsten entwickelt hielt; sie setzt sich fort mit der (nach seiner damaligen Darstellung historisch schon genauer differenzierten) Entwicklung der Dynamik, und sie geht anschließend zu den aus der abendländischen Tradition am besten bekannten Tonordnungen über (Melodie, Harmonie und Polyphonie). Die chromatische Differenzierung der Tempi (in 12 logarithmisch abgestuften Werten zwischen einfachem und doppeltem Tempo) übernimmt Stockhausen aus den "Gruppen" für drei Orchester (1955-1957); er treibt diese Differenzierung in "Inori" insofern noch weiter, als abgestufte Tempowechsel, die in den "Gruppen" nur im Wechsel zwischen Formteilen stattfanden, nun beim Übergang von einem Ton zum anderen vorkommen können. Die 60stufige Dynamik in "Inori" übertrifft die feinsten dynamischen Abstufungen in den frühen Elektronischen Studien Stockhausens (Studie I, 1953; Studie II, 1954). Genauestens auf die melodischen Vorgänge abgestimmt sind die von Stockhausen eingeführten, gleichzeitig mit der Musik zu realisierenden Betgesten, die in ritueller Aura die serielle Formentwicklung visualisieren: Sie sind in traditionaller Notation so genau fixiert, daß die "Beterstimme" statt von einem Darsteller auch von einem Vokal- oder Instrumentalsolisten aufgeführt werden könnte (was bis in die 1990er Jahre hinein allerdings niemals tatsächlich geschehen ist). So ergeben sich Differenzierungen in mehreren Dimensionen ("Parametern"), die sonst selbst in serieller Musik (auch in serieller Lautsprechermusik) nicht in vergleichbarer Prägnanz ausgestaltet sind.
In "Inori" - ebenso wie in den aus einer ebenfalls einminütigen, jetzt aber aus drei polyphon überlagerten Schichten gebildeten Superformel des Opernzyklus "Licht" - zeigen sich exemplarische Ausprägungen eines alle Dimensionen kompositorischer Gestaltung prägenden musikalischen Denkens, das sich im Laufe einer jahrzehntelangen Entwicklung unter stets wechselnden Perspektiven konzentrierte auf die musikalische Konkretisierung dessen, was in früheren Entwicklungsstadien noch nicht realisierbar erschien. Serielle Musik präsentiert sich hier als real erklingende konkrete Utopie.
B. Theoretische und kompositionsgeschichtliche Aspekte
Serielle Musik ist Musik, die aus Reihenordnungen hervorgeht. Der deutsche Begriff Serielle Musik wird seit 1955 in weiter umfassender Bedeutung verwendet als die sprachlich analogen französischen und englischen Begriffe musique sérielle und serial music (Leibowitz 1947, engl. 1949; Eimert/Stockhausen 1955; hierzu siehe A. und Bibliographie). Die unterschiedlichen Verwendungsweisen ergeben sich aus der Beziehung dieser Begriffe auf verschiedene Ordnungsbereiche der Musik:
I. Tonhöhe
1. Bildung von Reihen
Serielle Tonordnungen basieren auf Tonreihen - d. h. charakteristischen Anordnungen einer begrenzten Anzahl von Tonhöhen bzw. Intervallen, die als Grundreihe, d. h. als Ausgangsmaterial für die Entwicklung aus ihnen abgeleiteter struktureller Zusammenhänge behandelt werden können. (In Ausnahmefällen kann die Strukturierung auch von einem Komplex mehrerer, in der Regel miteinander verwandter Reihen ausgehen, von denen keine eindeutig als Grundreihe aller übrigen identifiziert werden kann). Die einfachsten Mittel der Ableitung einer Tonreihe aus einer anderen sind:
- einerseits (direkt auf die Tonhöhenstruktur bezogen)
Transposition (d. h. Veränderung der Tonhöhen bei gleichbleibender Intervallstruktur), Umkehrung (Veränderung der Intervallrichtungen unter Beibehaltung der Intervallgrößen), Krebs (retrograde, rückläufige Abfolge der Töne und Intervalle) und Krebsumkehrung (Krebs der Umkehrung oder Umkehrung des Krebes); weitergehende Veränderungen können sich ergeben aus der Permutation von Tönen oder Tongruppen (wobei, als Zusammenfasssung aller Permutationsmöglichkeiten bzw. als Kontrast oder Grenzfall der Tonfolge, die Eindeutigkeit der Tonabfolge durch die Überlagerung von Tönen in Frage gestellt werden kann, so daß in Grenzfällen die Reihenstruktur nicht von eindeutig angeordneten Tönen und Intervallen ausgeht, sondern von akkordisch darstellbaren Tongruppierungen mit in der Überlagerung suspendierten oder permutatorisch variablen Anordnungen von Tönen und Intervallen); die Anordnung ableiteter Reihenformen kann aus der Reihenstruktur selbst (z. B. ihrer Tonfolge oder Intervallstruktur), aus Verknüpfungsregeln (z. B. Umdeutung von einem Schlußton oder -intervall zum Anfangston oder -intervall einer neuen Reihe)oder aus Verwandtschaftsbeziehungen (z. B. Wiederkehr von Tönen in derselben oder in veränderter Abfolge in anderen Reihen) abgeleitet sein;
- andererseits (über das abstrakte Schema einer Ausgangs-Tonreihe hinausgehend) die Konkretisierung bzw. Abwandlung von durch die Reihenstruktur nicht direkt fixierten Bestimmungsgrößen. Sofern an dem in der modalen dur-moll-tonalen Skalen- und Harmonielehre vorausgesetzten Prinzip der Oktav-Äquivalenz von Tönen festgehalten wird, kann als erste Konkretisierung der Tonreihe die Fixierung der Oktavlagen ihrer Töne angesehen werden. In diesem Falle müßte die Reihe nicht als Abfolge von Tönen und Intervallen definiert werden, sondern (u. U. im Widerspruch zu tatsächlich konkret nachweisbaren kompositionstechnischen Verfahren und in Partitur- und Höranalyse ermittelbaren Sachverhalten) als (Grund-) Konstellation von Tonhöhen-Klassen (pitch classes), aus der sich, je nach Festlegung der Oktavlagen, zwar eng miteinander verwandte, aber im einzelnen doch unterschiedliche Intervallstrukturen ergeben können. - Als Konkretisierung der Ton- bzw. Intervallstruktur beschreiben läßt sich auch die Festlegung anderer Toneigenschaften bzw. Parameter (siehe II. ff.).
Die Konkretisierung der Oktavlagen sowie Konstellationen verschiedener ableitungsverwandter Reihen können sich aus externen Fixierungen ergeben (z. B. ausgehend von einem thematischen Einfall, wie meistens bei Schönberg, oder ausgerichtet auf aus der Tradition übernommene und zweckentsprechend verallgemeinerte Modelle der Satztechnik, beispielsweise kanonischer oder krebssymmetrischer Strukturen, oder, wie meistens bei Schönberg, Berg und Webern, der Formgestaltung), aber auch (in Verbindung hiermit oder unabhängig davon) direkt aus der Reihenstruktur abgeleitet sein (z. B. in der Umfunktionierung von Reihentönen zu Anfangstönen transponierter Reihen wie in der Structure Ia von Pierre Boulez oder von dominanten Reihenintervallen zu Transpositionsintervallen vertikaler oder horizontaler Reihenkonstellationen in den Variationen für Orchester op. 31 von Arnold Schönberg).
Eine Reihe, die primär als Intervall-Konstellation auskomponiert wird (z. B. bei Schönberg, Berg, Webern und Boulez) läßt sich als Reservoir unterschiedlicher Ausgestaltungen einer oder mehrerer Intervallstrukturen darstellen. Eine Reihe kann aber auch primär als Zusammenstellung zunächst isolierter Töne oder pitch classes konzipiert sein, wobei die Konkretisierung der zunächst abstrakten Tonhöhenstruktur tonreihenspezifischen oder auch allgemeineren Organisationsprinzipien folgen kann (letzteres insbesondere in Prozessen der Lagenausweitung oder -verengung; Beispiele struktureller Lagentransformation in der Abfolge verschiedener Reihen: J. Cage: Metamorphosis, 1938, ein von Cage selbst entsprechend kommentiertes Werk; K. Goeyvaerts: Sonate für zwei Klaviere, 2. Satz, 1950; K. Stockhausen: Kreuzspiel und Formel, beide 1951; Beispiele der Exposition einer einzigen Zwölftonreihe als Prozeß der Lagenausweitung: L. Nono, Il canto sospeso, Satz 6a (1956); K. Stockhausen: "Am Himmel wandre ich..." (Indianerlieder) (1972). - Auf einzelne Tonhöhen ausgerichtete Reihen und Reihenkonstellationen können auch in tonsymbolischer Absicht konstruiert werden (z. B. in der Lyrischen Suite Bergs (1925/26) mit den Tönen B-A, F-H als Chiffrierungen von Namens-Initialen oder in seinem Violinkonzert mit seinen Namens-Initialen B und G als Ausgangstönen von untergeordneten Teilgruppen oder vollständigen Erscheinungsformen der Zwölftonreihe; die sechstönige Grundreihe der 1976 entstandenen, Paul Sacher gewidmeten Komposition Messagesquisse von Pierre Boulez ist die musikalische Chiffrierung des Nachnamens des Widmungsträgers).
2. Zwölftonreihen
Die von Schönberg, Berg und Webern komponierte Zwölftonmusik, auf die die Begriffe musique sérielle und serial music (nicht aber der Begriff Serielle Musik) zunächst vorrangig bezogen wurden, geht aus vom Begriff der Zwölftonreihe, d. h. einer für ein konkretes Werk spezifisch ausgewählten Anordnung von zwölf verschiedenen (nicht miteinander oktavverwandten) Tonhöhen. Diese können, disponiert in unterschiedlichen Oktavlagen und entsprechenden Intervallkonstellationen, in verschiedenen Spiegelformen verwendet werden. Häufig zu finden sind spezifische Intervallkonstellationen von Reihen und u. U. auch Reihenkomplexen, z. B. in Schönbergs Variationen für Orchester op. 31 (1928) mit zwei umkehrungssymmetrischen Reihen im Transpositionsabstand der für die Reihenstruktur konstitutiven kleinen Terz; beide Reihen in unsymmetrischen, sich zielgerecht verkürzenden Gruppierungen zu 5+4+3 Tönen. In zahlreichen anderen Werken Schönbergs finden sich symmetrische Tongruppierungen in 6+6 Töne mit umkehrungsverwandten Reihen im Transpositionsabstand der Quinte (einer Intervallbeziehung, die bereits im Bläserquinett op. 26 eine konstitutive Rolle spielt, dort aber im Verhältnis nicht zwischen verschiedenen Reihen, sondern zwischen den beiden Sechstongruppen derselben Reihe, was im 1. Satz zugleich als historische Anspielung auf die im klassischen Sonatensatz reguläre Quintverwandtschaft zwischen Haupt- und Seitensatzthema interpretiert werden kann).
Als Kontrastmodell zu intervallbezogenen Kopplung verschiedener Tongruppen läßt sich die tonhöhenbezogene, von demselben Ausgangston ausgehende und wieder zu ihm zurückkehrende Kopplung zweier umkehrungsverwandter Reihen definieren, die Stockhausen 1970 in Mantra eingeführt hat. (Erste in diese Richtung führende Ansätze finden sich bereits, in Überlagerungen verschiedener von demselben Ton ausgehender Reihenformen, in Stockhausens 1951 entstandener Sonatine für Violine und Klavier; Überlagerungen umkehrungssymmetrischer Tonreihen, die von demselben Ausgangston ausgehen, spielen eine wichtige, auch dramaturgisch bedeutsame Rolle in verschiedenen Teilen von Stockhausens Opernzyklus Licht, 1977 ff.). Bei Stockhausen verbinden sich Tendenzen der tonhöhenbezogenen Reihenkopplung und -veränderung (auch in Krebsbildungen für vollständige Reihen oder ihre einzelnen Tongruppen) mit einer Erweiterung des Reihendenkens bis in Bereiche diesseits und jenseits der Zwölftönigkeit im engeren Sinne, unter Verwendung von Reihen mit weniger oder mehr als 12 Tönen. (Hypo- oder hyperchromatische Tonreihen, in denen einzelne Töne fehlen oder mehrfach vorkommen, finden sich bereits im Frühstadium der Tonreihenmusik bei Schönberg im Zyklus seiner Klavierstücke op. 23 und seiner Serenade op. 24; R. Leibowitz hat, bezugnehmend auf diese Stücke, den Terminus seriell erstmals in einem allgemeineren, über den Sonderfall der Zwölftonreihe hinaus führenden Sinne verwendet (Leibowitz 1947 und 1949, siehe A.); entsprechende Vorstufen zur Zwölftonmusik finden sich in den frühen 1950er Jahren auch im Kontext der ersten Tonreihen-Kompositionen von Igor Strawinskij).
3. Kopplungen verschiedener Reihen
Harmonische oder polyphone Überlagerungen und Schichtungen von Reihenstrukturen können sich ergeben entweder aus der Vertikalisierung von Tonfolgen oder aus der Überlagerung verschiedener, miteinander verwandter oder sich komplementär ergänzender Reihen. In Alban Bergs Oper Lulu (1929-1935) ergeben sich Konstellationen verschiedener Reihen aus dem Übergang zu Nachbartönen in vertikalisierten Tongruppen, also als Ableitungen aus einer ursprünglich einheitlichen Reihenstruktur; Stockhausen konstruiert die dreischichtige Superformel seines Opernzyklus Licht aus drei selbständigen, in chromatisch komplementären Gruppierungen strukturierten Tonreihen. Mehrschichtige Reihenabläufe können auch in der Horizontalisierung zu einschichtigen Abfolgen umfunktioniert werden, wobei z. B. verschiedene Reihenformen auf Vorschlags- bzw. Hauptnoten aufgeteilt werden (Stockhausen: Klavierstück VIII (1954/55); Boulez: Messagesquisse (1976)) oder ihre Töne sich, ähnlich wie in latent polyphoner Einstimmigkeit bei Bach, ineinanderschieben (in verschiedenen Oktavlagen oder in derselben Oktavlage, z. B. bei Stockhausen in Donnerstag und Samstag bzw. Freitag aus Licht).
4. Intervallstrukturierung von Zwölftonreihen
In Zwölftonreihen, die einerseits primär als Intervallstrukturen, andererseits aber auch mit charakteristischen Veränderungen der Oktavlagen von Tönen auskomponiert werden, können einerseits Oktav- Erweiterungen und -Reduktionen und andererseits komplementäre Intervallbeziehungen eine wichtige Rolle spielen. Ansätze hierfür lassen sich, bezogen auf einzelne Intervalle, bereits in vorzwölftöniger Musik nachweisen (etwa in der dreistimmigen Sinfonia f-moll von J. S. Bach die spätere komplementäre Verwandlung des Anfangsintervalls derkleinen Terz in eine große Sexte). Erste Beispiele für die komplementäre Umkehrung größerer Tongruppen finden sich in dem zwölftönigen Walzer op. 23 Nr. 5 (1923) von Arnold Schönberg; deutliche Spuren dieses Verfahrens finden sich später in der 2. Klaviersonate (1947/48) von Boulez.
Die Intervallstruktur von Zwölftonreihen definiert sich in einem breiten Spektrum mit den Grenzwerten einerseits der völligen intervallischen Homogenität (Grenzfälle: zwölftönige Reihungen von Halbtönen wie, als Vorform, bereits in der Dante-Symphonie von Liszt oder zu Beginn von Wagners Tristan und Isolde, von reinen Quarten oder Quinten), andererseits der maximalen intervallischen Heterogenität in der Allintervallreihe (deren Intervallsummen stets einen Tritonusabstand zwischen erstem und letztem Reihenton ergeben). Im Zwischenfeld zwischen beiden Extrempositionen befinden sich Reihen mit beschränktem Intervallvorrat und mit untereinander verwandten Intervallzellen. Frühe Beispiele der Verwendung einer Allintervallreihe finden sich bei Alban Berg (Klavierlied Schließe mir die Augen beide, 2. Fassung (1925); 1. Satz der Lyrischen Suite (1925)). Seit den 1950er Jahren erscheinen Allintervallreihen häufig in zickzackförmig sich vergrößernden Intervallen (z. B. es-d-e-cis-f usw., wie - allerdings in veränderter Disposition der Oktavlagen - deutlich hörbar zur Beginn von Stockhausens Orchesterwerk Carré (1959/6=; entsprechende Abfolgen lassen sich auch in anderen Werken Stockhausens strukturell nachweisen, z. B. in Refrain (1959) und Mixtur (1964) sowie, in hyperchromatischer Abwandlung, in Inori (1973/74); in den 1950er Jahren spielen sie eine wichtige Rolle bei L. Nono. Die in der seriellen Musik dieser Zeit bekanntesten Beispiele der Verwendung strukturell miteinander verwandter Allintervallreihen finden sich in Stockhausens Gruppen (1955-1957).
5. Tongruppen
Wichtige Modelle der Komposition mit begrenztem Intervall- und Intervallzellen-Vorrat finden sich bei Anton Webern, z. B. mit strukturell verwandten Sechstongruppen (Sinfonie op. 21, 1928), mit systematisch in den vier Spiegelformen variierten Dreitonzellen (Konzert op. 24, 1934) und mit auf zwei Grundintervalle reduzierten Reihenbildungen (Variationen für Orchester op. 30 (1940); noch stärker intervallisch reduziert ist die Reihe, die Webern seinem nicht mehr ausgeführten opus 32 zu Grunde legen wollte). Der prägende Einfluß dieser und anderer Spätwerke Weberns auf die serielle Musik der 1950er Jahre wird exemplarisch deutlich in der Grundreihe der Elektronischen Studie I (1953) von Stockhausen, die in ähnlicher Weise aus Konstellationen terz- und chromatisch verwandter Intervalle gebildet ist wie die Reihe von Weberns op. 24.
Nicht nur bei J. M. Hauer, sondern auch bei Schönberg und Berg finden sich frühe Beispiele von Reihenkonstellationen, in denen mehrere oder alle Tongruppen auch als Darstellungen von Skalen (Teil-Skalen innerhalb des chromatischen Totals) aufgefaßt werden können (z. B. chromatische und pentatonische Skala als Teilskalen der chromatischen Skala in Schönbergs Kantate Der neue Klassizismus op. 28 Nr. 3 (1925) oder die Zerlegung der chromatischen Skala in zwei tritonusverwandte diatonische Hexachorde: Berg: Lyrische Suite, 1. Satz T. 33 Violoncello) oder sich aus verschiedenen ineinander verschränkten Tongruppen ergeben (Schönberg: Bläserquintett op. 26 (1923/24) mit einer Reihe aus 2 Sechstongruppen mit je 5 ganztönig verwandten Tönen und einem Abschlußton aus dem jeweils anderen Ganztonsegment; Tonal oder atonal, op. 28 Nr. 1 mit einem C-Dur-Dreiklang und Konfrontation mit chromatisch ergänzenden Tönen aus zwei Ganztonsegmenten; Beispiele unterschiedlicher Skalenbildung einschließlich ihrer Vertikalisierung, auch in Clusterstrukturen, finden sich in Bergs Oper Lulu). In der seriellen Musik der fünfziger Jahre wird an diese Ansätze nur in Ausnahmefällen und in stark veränderter Form angeknüpft (etwa bei K. Stockhausen im Kontext der Klavierstücke I-III (1952/53) mit chromatischen Teilzellen, z. B. in Nr. I unter Aufteilung der chromatischen Skala auf die chromatisch gefüllten Quarträume c-f und fis-h; Spuren der bereits von Berg und Schönberg ausgenutzten Aufspaltung des chromatischen Totals in Diatonik und Pentatonik finden sich, in Form von Clusterbildungen, noch in den partiell seriellen Strukturen des Orchesterstückes Atmosphères (1961) von G. Ligeti).
6. Vertikalisierung von Reihen
Die Vertikalisierung von Tonfolgen kann deren reihenmäßige Anordnung partiell oder vollständig unkenntlich machen für den unmittelbaren Höreindruck oder u. U. selbst für die Partituranalyse. Die Beziehung von Akkorden auf bestimmte Abfolgen von Reihentönen ist um so schwieriger, je mehr Töne an der Überlagerung beteiligt sind (schon in relativ einfachen Fällen wie im ersten Stück der Notations (1945) von Pierre Boulez; kompliziertere Probleme der reihentechnischen Analyse ergeben sich in seiner 2. Klaviersonate (1947/48) z. B. in auf 4 verschiedene Reihen beziehbaren Viertonakkorden). Die Identifikation vertikalisierter Tongruppen ist dann leichter, wenn sie zuvor als Tonfolgen eingeführt worden sind (z. B. die Dreitongruppen im 1. Satz von Weberns Konzert op. 24 (1934) zunächst rein horizontal (1+1+1), dann vertikal/horizontal (1+2 oder 2+1), dann rein vertikal (3),dann in vertikaler Multiplikation (Sechstonakkord als Überlagerung aus zwei Dreitonakkorden am Schluß des Satzes; entsprechend schließt im 1. Satz der 2. Kantate op. 31 (1944) der 1. Teil mit zwei ineinander geschobenen Sechstonakkorden, und erst am Schluß des gesamten Satzes erscheint ein einheitlicher Zwölftonakkord). Vertikale Tongruppen können auch dann identifiziert werden, wenn Melodie- und Akkordtöne sich in genau parallelen Gruppierungen überlagern (z. B. in der Abfolge 5+4+3 zu Beginn des Themas in Schönbergs Variationen für Orchester op. 31) oder wenn die Tonkonstruktion direkt von (quasi-)akkordischen Tongruppen ausgeht (Beispiele: Pierre Boulez: Le marteau sans maitre (1952-55); Structures, 2ème livre (1956-61) Karlheinz Stockhausen: Momente (1962-64/69), Plus Minus (1963) (mit variabel kombinierbaren und ausgestaltbaren Zentralklängen als Grundmaterial für kompositorische Ausarbeitungen), Stop (1965) und Adieu (1966). Als äußerste Konsequenz aus dieser Reduktion von Tonreihen auf aufeinanderfolgende Klangzentren beschränkt Stockhausen sich in Stimmung (1968( und Sternklang (1971) auf einzelne Klangzentren, die überdies nicht mehr das chromatische Total ausschöpfen, sondern ausschließlich Obertonintervalle enthalten, deren serielle Strukturierung nicht an Tonvorrat und Intervallstruktur, sondern nur noch an der seriell dosierten Gruppierung der Töne ablesbar ist.
7. Nichtzwölftönige Reihen
a. Mikrointervalle
Serielle Tonreihen-Strukturierungen gibt es nicht nur auf der Basis zwölftöniger Chromatik, sondern auch in anderen Tonsystemen - im einfachsten Falle im Vierteltonsystem, wobei der Tonraum der zwölftönigen Chromatik auf den Raum einer halben Oktave, eines Tritonus komprimiert wird (P. Boulez, Le Visage Nuptial, 1.Fassung; in der Endfassung des Werkes (1988/89) wurden die vierteltönigen Strukturen eliminiert). Vielfältige Möglichkeiten neuartiger Skalen und Tonsysteme wurden vor allem in den fünfziger Jahren im Bereich der elektronischen Musik entwickelt (Stockhausen, Studie I und II (1953/54): serielle Struktur aus Intervallproportionen bzw. aus vom Zwölftonsystem abweichender, oktavverwandte Tonbeziehungen aussparender Temperierung Gesang der Jünglinge (1955-56): neue Temperierungen bzw. nichttemperierte Skalen für gesungene und elektronische Klänge Kontakte (1959-60): Skalen auch für in unterschiedlichen Bandbreiten abgestimmte Geräuschbänder G. M. Koenig: Klangfiguren II (1955-56), Essay (1957-58): mikrointervallische Temperatur bzw. unterschiedliche Temperaturen für seriell variierte Tonräume für Sinustöne, Impulse und Rauschbänder). Karlheinz Stockhausen, der in den Tonreihen seines 1977 begonnenen Opernzyklus LICHT ursprünglich von zwölftönig-chromatischen Tonordnungen ausgegangen ist, hat mikrointervallische Intervallstrukturen aus Intervallstauchungen und aus (in zwölftöniger Temperatur nicht darstellbaren) engmaschigen Skalen-Unterteilungen bestimmter Intervalle entwickelt (mit mikrotonalen grifftechnischen Differenzierungen für Holzbläser in Kompositionen wie Ave (1984/85), Xi (1986) und Ypsilon (1989)). Luigi Nono arbeitete seit den frühen achtziger Jahren mit reduzierten, aber mikrointervallisch differenzierten Ton- und Intervallkonstellationen im Orchestersatz und in (häufig live-elektronisch modulierten) kleineren vokal/instrumentalen Besetzungen.
b. Geräusche
Serielle Tonstrukturen bezogen sich zunächst ausschließlich auf eindeutig bestimmte Tonhöhen (was in der Zwölftonmusik Weberns zur extremen Konsequenz der Rücknahme der in früheren Werken, etwa op. 6 Nr. 4 (1909), erreichten kompositorischen Emanzipation des Geräusches geführt hat). Erst in den 1950er Jahren verallgemeinerten, zunächst im Bereich der elektronischen Musik, Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig diesen Ansatz auf der Höhenlage nach abgestufte Geräusche (zunächst, in Stockhausens Studie II, in Geräusch-Simulationen mit verhallten Tongemischen; in späteren Werken, z. B. Stockhausens Gesang der Jünglinge und Koenigs Essay unter Verwendung mikrointervallischer, teilweise auch nichttemperierter Skalen sowohl für Sinustöne als auch für gefilterte Impulse und Rauschbänder; in Stockhausens Kontakte unter Verwendung von Skalen mit unterschiedlichen, jeweils intervallisch abgestuften Bandbreiten.
c. Bewegungen im Tonraum
Als Sonderfälle der Intervallstrukturierung, die man als Kontrastmodelle zur intervallisch expandierenden Allintervallreihe beschreiben kann, erscheinen Reihen mit charakteristischen, oft auch über einen einzigen Oktavraum hinausführenden Bewegungsrichtungen - z. B. in Alban Bergs Konzertarie Der Wein (1929) (5 diatonisch in einer Mollskala aufsteigende Töne - 3 aufsteigende Dreiklangstöne - 4 in zwei aufsteigende große Terzen unterteilte, insgesamt aufsteigende Töne) oder in seinem Violinkonzert (1935) (aufsteigende Moll- und Durdreiklänge im Wechsel sowie aufsteigende Ganztonschritte, d. h. innerhalb der Reihe Beschränkung auf aufsteigende große Sekunden, kleine und große Terzen) oder im 2. Stück der Notations von Pierre Boulez (hier deutlich in der originalen Klavierfassung als in der 1978 entstandenen, multiplikativ erweiterten Orchesterfassung) . In solchen Fällen tritt für Konstruktion und Höreindruck die Bedeutung der Oktavverwandtschaft zurück: Entscheidend ist, daß realiter auf- und absteigende Tonfolgen zu hören sind (z. B. eine weiträumig aufwärts führende Grundreihe und eine entgegengerichtete Tonbewegung - letztere als sinnfällige Darstellung entweder der Umkehrungs- oder der Krebsform).
Falls die Töne einer Grundreihe in der Oktavlage fixiert sind und dabei in charakteristischen Bewegungsrichtungen aufeinander folgen, kann die Reihenstruktur nicht nur in der originalen, sondern auch in gespreizten oder gestauchten Transformationen erkennbar bleiben. Intervallspreizungen (durch Verwandlung der Halbtonskala in oktavübergreifende Skalen mit größeren Intervallen) finden sich in Stockhausens Mantra (1970), wo sie sich leicht an den charakteristischen Bewegungsrichtungen der verschiedenen Tongruppen bzw. Formelglieder erkennen lassen: 4 auf- (und ab-)steigende Töne (A-H-gis-e);
2 hin- und herpendelnde Töne (f-d); 5 Töne (4 absteigende Töne mit abschließender Tonwiederholung) (g-es-des-c(-c)); 3 Töne ab- (und auf-)steigend (B-Ges-A). Die drei Tonreihen der Superformel von Stockhausens Zyklus Licht unterscheiden sich nicht nur in ihrem Tonvorrat (hyperchromatisch mit Oktavierung eines Tones - chromatisch - hypochromatisch unter Auslassung des in der ersten Reihe oktavierten Tones) und in den Gruppierungen der Töne, sondern auch in den Bewegungsrichtungen: vorwiegend absteigend - aufsteigend (in zwei Anläufen) - auf- und absteigend (in zwei Anläufen). Die melodischen Konturen bleiben erkennbar auch noch in intervallisch radikal veränderten Formen der Spreizung (DIENSTAG aus LICHT, 2.Akt, 1990-91) und der mikrointervallischen Stauchung (Ypsilon, 1989).
d. Glissandi
Ursprünglicher Ausgangspunkt der (Ton-)Reihentechnik ist die Unterscheidung eindeutig bestimmter und (während einer vorgegebenen Dauer) unverändert beibehaltener Tonhöhen. Die Ablösung fester Tonbeziehungen durch Glissando-Strukturen durch Iannis Xenakis (rein instrumental, realisiert durch die Steichergruppe in - hier erstmals verwendeter - totaler divisi-Technik, im Orchesterstück Metastaseis, 1953-54; elektroakustisch in Diamorphoses, 1957; auch in zahlreichen späteren vokal/instrumentalen und elektroakustischen Werken) erfolgte als Absage an serielles Musikdenken - (obwohl sich in Metastaseis noch neben den - vor allem an Anfang und Ende dominierenden - Glissandostrukturen auch serielle Tonstrukturen mit festen Tonhöhen finden). In serieller Vokal- und Instrumentalmusik der 1950er und frühen 1960er Jahre finden sich nur ausnahmsweise Glissandostrukturen (z. B. bei Stockhausen in Carré (1959-60), in einem Einschub für die 1968 entstandene Darmstädter Kollektivkomposition Ensemble und in den durchgängigen Glissandostrukturen des 1969 entstandenen Orchesterstückes Fresco). Häufiger zu finden sind Glissandostrukturen in elektronischer Tonbandmandmusik und in live-elektronischen Kompositionen (z. B. bei Stockhausen in Kontakte (1959-60), Mixtur (1964), Telemusik (1966), Hymnen - hier auch rein instrumental in einem Teil des 1969 zum Mittelteil des Stückes hinzugefügten Orchesterparts, der als instrumentale ´Brücke´ zwischen der 2. und 3. Region fungiert - und Sirius (1975-77)). In den 90er Jahren entwickelte Stockhausen neue Ansätze struktureller, mit räumlichen Bewegungen koordinierter Glissando-Komposition - in Glissandobewegungen, die Intervalle zwischen verschiedenen Formel-Tönen überbrücken (und insofern als Weiterentwicklung entsprechender chromatischer oder mikrointervallischer Übergangsskalen interpretiert werden können).
Als Grenzfall kontinuierlicher Tonveränderung interpretieren lassen sich die im Playbackverfahren dicht geschichteten dichten Scharen gefilterter Impulse zu Beginn von Stockhausens Gesang der Jünglinge (1955-56), in deren ständig unterbrochener Abfolge kontinuierlich veränderte Filter-Einstellungen nur intermittierend wirksam werden können. Stockhausen hat in diesen Strukturen Tonhöhenfixierungen erstmals nicht punktuell, von einzelnen Generator-Einstellungen ausgehend, vorgenommen, sondern mit mehrfachen manuellen Veränderungen in vorgegebenen Registerbereichen innerhalb eines vorgegebenen Zeitabschnittes - d. h. ohne exakte Detailfixierungen, innerhalb global seriell strukturierter und typisierter Registerbereiche und Bewegungsrichtungen. Ähnlich verfährt Stockhausen in vielschichtig überlagerten Passagen gesungener Töne.In den Gruppen für drei Orchester(1955-57) geht die ausgearbeitete Tonhöhen-Konstruktion häufig nicht von einzelnen Tönen, Intervallen und Tonreihen aus, sondern von einer (aus der Grundreihe abgeleiteten) Abfolge vorgegebener Tonumfänge, die z. B. in ihrem Umfang, in ihrer Positionierung innerhalb des Tonraums, in der Anzahl und in den vorherrschenden Bewegungsrichtungen der in ihnen enthaltenen Einzeltöne nach den Vorgaben der Grundreihe und ihrer Transpositionen strukturiert sind. Auch hier also haben die Fixierungen von Bewegungsrichtungen konstruktiven Vorrang vor der Ausnotierung konkreter Tonhöhen und Intervalle. Die globale Vorstrukturierung der Tonumfänge führt hier so weit, daß z. B. bei Tonumfängen mit extrem wenigen Tönen oder bei extrem kleinen Tonumfängen die Detailkonstruktion der Tonhöhen vom chromatischen Detail abweichen kann. (Von mikrotonalen Intervallteilungen im letzteren Falle hat Stockhausen wohl aus aufführungspraktischen Gründen abgesehen; Beispiele seriell variierter Tonumfänge, in ihren Grenzen definierter neuartiger temperierter Skalen sowie seriell systematisierter Bewegungsrichtungen und gruppierter Abfolgen von Sinustönen, Impulsen und Rauschklängen finden sich, teilweise in enger kompositionstechnischer Affinität zu Stockhausens Gesang der Jünglinge, in Gottfried Michael Koenigs elektronischer Tonbandkomposition Essay (1957)). Dennoch kann gesagt werden, daß in der seriellen Musik die von Detailbestimmungen ausgehenden Konstruktionen häufiger sind als von globalen Bestimmungen ausgehende Techniken, die eine wesentliche Rolle spielen in ebenfalls parametrisch, aber nicht in Reihen strukturierten (nach mathematischen Modellen z. B. der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Mengenlehre entwickelten) Kompositionen von Iannis Xenakis.
II. Zeitwerte
Erste Ansätze einer seriellen Strukturierung, die über den Bereich der Tonhöhe hinaus bis in die Zeitstruktur führt, finden sich bereits in Kompositionen der zweiten Wiener Schule, vor allem im Spätwerk Anton Weberns. Neue Aspekte ergaben sich in den späten 1940er Jahren aus Versuchen Olivier Messiaens und seines Schülers Pierre Boulez, chromatische Tonstrukturen und ihre Transformationen zu verbinden mit vergleichbar komplexen Rhythmen und rhythmischen Transformationen. Erste Ansätze hierfür lassen sich in Weberns Variationen für Orchester op. 30 (1940) finden. Komplexere, allerdings auch nicht vergleichbar sinnfällig auf die Tonstruktur bezogene rhythmische Gestalten finden sich im Frühwerk von Boulez, beispielsweise im 4. Satz seiner 1948 entstandenen 2. Klaviersonate. Boulez geht, ebenso wie Messiaen, bei der Verarbeitung rhythmischer Gestalten von dem in OEuvre Igor Strawinskys (insbesondere Le sacre du printemps (1911-13)) entdeckten Prinzip der personnages rhythmiques, des planmäßigen Wechsels zwischen teils konstanten, teils fortwährend variierten rhythmischen Gestalten aus. Boulez konzentriert sich auf schon zuvor, in den 1945 entstandenen Notations, erkennbare Versuche der Kombination zwölftöniger Strukturen mit Messiaens Techniken der rhythmischen Gestaltbildung und -transformation.
Einen anderen Ansatz der Koordinierung von Ton- und Zeitstrukturen entwickelte Messiaen - zunächst in einzelnen Abschnitten der Komposition Cantéyodyaya (1948), dann in der Gesamtanlage des Mode de valeurs et d´intensités (1949): er koordinierte nicht Tongruppen mit Rhythmen, sondern einzelne Tonhöhen mit einzelnen Tondauern. In der Überlagerung verschiedener Schichten (mit jeweils verschiedenen Grund-Zeitwerten, wobei tendenziell längere Dauern tieferen Tönen zugeordnet wurden) kombinierte er jeweils zwölf verschiedene Tonhöhen mit zwölf verschiedenen Tondauern, die sich jeweils in einer arithemtischen Reihe als ein- bis zwölffache Vielfache einer Grundheinheit ergaben. Dies führte dazu, daß in der Wahrnehmung der resultierenden Musik die längeren Dauern überwogen und die Unterschiede zwischen ihnen (z. B. zwischen den Dauern 11 und 12) weniger deutlich wahrnehmbar waren als zwischen den kurzen Einheiten (z. B. 1 und 2). Dauern-Reihen, in denen auch die Unterschiede zwischen längeren Einheiten deutlich wahrnehmbar sind, müssen anders strukturiert sein, z. B. als Fibonacci-Reihen, in denen sich neue Zahlen jeweils als Summe aus zwei vorausgegangenen Zahlen ergiben (z. B. 1-2-3-5-8-13-21-34-55 bei I. Xenakis zu Beginn von Metastaseis (1953-54)und in der orchestralen Schauspielmusik Hiketides (1964), bei K. Stockhausen fortgeführt bis zu den Werten 89 und 144 u. a. in Klavierstück IX (1961), Mikrophonie I und II (1964/65), Adieu (1966), Telemusik (1966; in anderen Werken verwendet Stockhausen Dauernskalen mit sich vergrößernden Stufen wie z. B. 3-6-10-15 in Mixtur (1964) oder - parallel zu den Frequenproportionen der Tonhöhenstruktur entwickelte - geometrische Dauern- bzw. Temposkalen z. B. in Gruppen (1955-57), Inori (1973-74) und Licht (1977 ff.)).
Skalen mit 12 gleichstufig angeordneten Werten sind im Tonhöhenbereich durch die chromatische Skala vorgegeben, während sie im Dauernbereich oft nur indirekt, als Anpassung an die Tonordnung legitimiert sind. Gleichwohl ermöglichten sie schon in Messiaens ersten Beispielen punktueller Musik eine stärkere Individualisierung der einzelne Töne, die dann noch durch parallele Differenzierungen im Bereich der Lautstärke (s. III.) sowie einer anderen, damals ebenfalls als elementar angesehenen Eigenschaft, nämlich der Anschlagsarten (siehe IV.), verstärkt wurde. Die so erreichte Individualisierung der Töne, die Messiaen zunächst in freier Abfolge eingeführt hatte, hat später Boulez in seiner Structure Ia für 2 Klaviere (1951) in Reihen für verschiedene zusammenwirkende Parameter (Höhe, Dauer und Lautstärke; vgl. hierzu auch III.) organisiert. Auch er ging zunächst von einer arithmetischen Dauernskala aus, ebenso wie Stockhausen in Kreuzspiel (1951). Das Übergewicht längerer Dauern versuchten später sowohl Boulez (in später entstandenen Stücken des ersten Buches der Structures) als auch Stockhausen (in Kontrapunkte) durch Unterteilungsrhythmen zu kompensieren. Stockhausen beschreibt sein Verfahren als Resultat einer nachträglichen Überarbeitung und erläutert: Dazu habe ich vorhandene rhythmische Werte, die länger waren, von Anfang bis Ende des Werkes in zunehmendem Maße ´ausmultipliziert´ (wie ich das nannte), d. h. durch rhythmische Pulsationen (und dadurch natürlich auch durch Tonhöhen - man kann ja Rhythmus nicht ohne Tonhöhen darstellen) mit melodischen Konfigurationen um Zentraltöne herum innerlich belebt (Texte 6, 323). Die ursprünglich den Tonreihen angepaßten Dauernreihen erwiesen sich insoweit als musikalisch inadäquat, so daß rhythmische Korrekturen notwendig wurden (die wiederum Konsequenzen für die Tonstruktur hatten, so daß erstmals in der Seriellen Musik die traditionelle Hierarchie zwischen Ton- und Zeitordnung umgekehrt war; noch weiter in dieser Richtung ging Stockhausen später in den Kompositionen Zeitmaße (1955-56), Klavierstück XI (1956) und Gruppen (1955-57), bei denen der Zeitorganisation größere Bedeutung zukommt als der Tonhöhenorganisation).
Schon in den frühen fünfziger Jahren stieß Stockhausen bei der praktischen Studioarbeit mit konkreten und elektronischen Klängen auf die Parallelität von Tonhöhen- und Zeitwerten und -proportionen (wobei z. B. die Proportion 2:1 als Oktave im Mikrobereich der Frequenzen und als Verhältnis von doppelter zu einfacher Dauer im Makrobereich der Dauern erscheint). Die Parallelität zwischen Frequenz- und Dauernproportionen erprobte Stockhausen zunächst in konkreter und elektronischer Tonbandmusik (Etude (1952), Studien I und II (1953/54)). In der Instrumentalmusik definierte er Tempo-Proportionen in Analogie zu den Frequenz-Proportionen einer vorgegebenen Tonhöhen-Grundreihe - zunächst zum Zwecke unterschiedlicher Zeitgestaltung in verschiedenen, vieltönigen Formabschnitten, sogenannten Gruppen (in Gruppen für drei Orchester), später entsprechend dem Wechsel von Ton zu Ton in der dem Werk zu Grunde gelegten Melodieformel (in Inori); in Licht verwendet Stockhausen dieselbe zwölfstufig-chromatische Temposkala für Unterteilungen seiner dreischichtigen Superformel.
Dauernproportionen lassen sich in serieller Musik zur Differenzierung nicht nur einzelner Töne, sondern auch komplexerer Tongruppen und Formeinheiten einsetzen (als Expansion der rhythmischen Detailproportionen in den Makrobereich), und andererseits lassen sie sich auch im Mikrobereich zur Strukturierung von Schwingungsformen und Klangfarben einsetzen. (Stockhausen verwendet die Kontraktion in den Mikrobereich in der elektronischen Komposition Kontakte, die Expansion in den Makrobereich in den Orchesterwerken Gruppen und Inori sowie im Opernzyklus Licht, wo aus der Makroprojektion einzelner Töne und Formgruppen vollständige Szenen, Akte und Opern sowie die Abfolge aller sieben Wochentags-Opern abgeleitet werden.
John Cage hat, bezugnehmend auf Beobachtungen in der Musik von Satie (indirekt auch von Webern), schon in den späten 1940er Jahren festgestellt, daß in einer von Zeit und Rhythmus ausgehenden Kompositionstechnik Klang und Stille als gleichwertig behandelt werden müssen. Stockhausen, der, anders als der vorzogsweise mit komplexen Geräuschstrukturen arbeitende Cage in seinen ersten punktuellen Kompositionen noch am Primat der Konstruktion mit eindeutig fixierten Tonhöhen - denen Geräusche allenfalls als tonhöhenunbestimmt antithetisch gegenübergestellt waren - festgehalten hatte, suchte nach anderen Bestimmungen dieses Verhältnisses: In der Verallgemeinerung der traditionellen Unterscheidung zwischen den Artikulationsformen Staccato und Legato (s. IV.) unterschied er im Verhältnis zwischen aufeinanderfolgenden Ereignissen zwischen Dauern (z. B. von einzelnen Tönen, von ausgehaltenen oder pulsierend unterteilten Geräuschen in Kreuzspiel (1951)) und Einsatzabständen (wobei, wenn diese größer als die entsprechenden Dauern sind, Staccato-Pausen zwischen benachbarten Ereignissen entstehen - bzw. Legato-Verbindungen bei Gleichheit von Dauer und Einsatzabstand oder Überlagerungen bei längeren Dauern, woraus sich in Studie II (1954) charakteristische Möglichkeiten der Artikulation unterschiedlicher Formteile ergeben: Legato in Teil 1 - Überlagerungen in den Teilen 2 und 4 - Staccato in Teil 3 - Kombinationen in Teil 5).
III. Lautstärken
Schon in den ersten Beispielen punktueller Klaviermusik Messiaens sind nicht nur die einzelnen Tonhöhen und Tondauern individuell behandelt, sondern auch die Lautstärken. In diesem Bereich ist die Differenzierung von zwölf verschiedenen Werten noch weniger naheliegend als im Bereich der Dauern, und sie wirft überdies aufführungspraktisch vor allem in Solo- oder kleineren Ensemblebesetzungen weitaus schwierigere Probleme auf. Aus diesem Grunde finden sich Reduzierungen der Anzahl dynamischer Werte und einheitliche dynamische Werte schon in den frühen fünfziger Jahren beispielsweise bei Pierre Boulez (Structure Ia (1951-52)) und Karlheinz Stockhausen (Zuordnung desselben dynamischen Wertes zu Tonpaaren in Kreuzspiel (1951); einheitliche Dynamik für einzelne Tongruppen in Klavierstück I (1952-53) und in den Gruppen (1955-57); gruppenweise wechselnde Dynamik in den überlagerten Formeln des Zyklus Licht, dessen dynamische Komplexität besonders im Chorstück Weltparlament (1995), einer Szene des MITTWOCH aus LICHT, in Analogie zur Tonstruktur ausdifferenziert und im Mehrfarbdruck ausnotiert ist.
Differenzierte Möglichkeiten vielstufiger dynamischer Differenzierung wurden erstmals von Karlheinz Stockhausen in seinen beiden ersten elektronischen Tonbandkompositionen ausgenutzt (Studien I und II
(1953/54)). Im Bereich instrumentaler Musik hat Stockhausen erstmals 1973/74 (im Orchesterstück Inori) 60 verschiedene dynamische Werte auskomponiert durch abgestufte Kombinationen der Orchesterinstrumente in verschiedenen Lautstärken. An zentraler Stelle des zweiten Formteiles, der den Titel Dynamik führt, werden alle verwendeten dynamischen Werte in ausgedehnten Decrescendo-Crescendo-Kurven des Orchesters hörbar.
IV. Artikulation
Seit den ersten punktuellen Innovationen von Messiaen gibt es Versuche, die Differenzierung der einzelnen Töne durch wechselnde Artikulationsbezeichnungen deutlich zu machen. Hierbei ist die Differenzierung von 12 verschiedenen Werten noch schwieriger als bei den Lautstärken, zumal eine restlos konsequente lineare Anordnung verschiedener Artikulationswerte (die teils die Anschlagsarten, teils verschiedene Arten der Tonverbindung und dabei auch das Verhältnis zwischen Dauern und Einsatzabständen, Klang und Stille regulieren) nicht möglich ist und überdies Festlegungen in anderen Bereichen tangiert (z. B. die Lautstärke bei Akzenten und die Dauer beim Staccato). Es erwies sich als schwierig, wenn nicht unmöglich, serielle Anordnungen verschiedener Artikulationsformen aufführungspraktisch überzeugend zu realisieren. Deswegen wurden entsprechende Ansätze Messiaens nur vorübergehend von jüngeren Komponisten wie Boulez und Stockhausen aufgenommen und schon in den frühen 1950er Jahren wieder aufgegeben.
V. Klangfarben
Die Klangfarbe ist nicht in vergleichbarer Weise strukturierbar wie Tonhöhe, Dauer (Zeitwert) und Lautstärke, da Klangfarben sich nur in seltenen Ausnahmefällen eindimensional anordnen lassen und überdies von anderen Grundbestimmungen abhängig sind (insbesondere von Tonhöhe- und Lautstärkebestimmungen und -relationen von Obertönen). Vorgefundene instrumentale Klangfarben lassen sich allenfalls näherungsweise in serielle Ordnungen einbringen. In Elektronischer Musik hingegen können sich Möglichkeiten serieller Klangfarben-Dosierung aus seriellen Tonhöhe-Lautstärke-Proportionierungen von Sinustongemischen ergeben. Schwieriger wird die elektronische Klangfarbenstrukturierung allerdings dann, wenn als elementare, nicht weiter reduzierbare und nicht aufeinander zurückführbare elektronische Klangfarben nicht nur Sinustöne, sondern auch Impulse und Rauschbänder verwendet werden. In diesem Falle lassen sich die drei verschiedenen Klangfarben zwar in ihren Gruppierungen und, bei Verwendung sensibler Filter (z. B. abstimmbarer Anzeigeverstärker) für Impulse und Rauschbänder, auch in ihren (mittleren) Tonhöhen, aber nicht in ihren Farbabstufungen seriell dosieren.
VI. Integratives serielles Denken in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
Serielle Bestimmungen und Strukturierungen eignen sich zur Bestimmungen nicht nur einzelner Details, sondern auch größerer musikalischer Zusammenhänge. In integrativer serieller Musik lassen sich aus einer vorgegebenen Reihenstruktur Gestaltungsprinzipien für Ordnungsbereiche auf verschiedenen Ebenen der formalen Gestaltung ableiten. Der einfachste Ansatzpunkt für die Projektion reihentechnischer Details in größere Formzusammenhänge ist die Umfunktionierung einzelner Reihentöne zu Anfangstönen vollständiger Reihen.
Serielle Musik, die aus der Verallgemeinerung der Tonreihenkomposition hervorgegangen ist (insbesondere aus dem Versuch, die Tonreihen mit Dauernreihen zu kombinieren), tendierte zunächst zur Intensivierung der kompositorischen Kontrolle (unter Einbeziehung von Details, die bis dahin in der musikalischen Interpretation individuell variabel geblieben waren), andererseits aber auch schon frühzeitig zur engen Koordination von detailbezogener und großformaler Gestaltung. Dabei ergaben sich als Konsequenz aus fixierten Detailstrukturen auch fixierte größere Formzusammenhänge.
Als Alternative zum von fixierten Tonordnungen ausgehenden kompositorischen Denken läßt sich musikalische Erfindung definieren, die von der Emanzipation des Geräusches ausgeht, also Alternativen zur Komposition von Hörereignissen mit eindeutig fixierten, stationären Parameterbestimmungen entwickeln muß. Die in diese Richtung zielenden Ansätze des Futurismus und von Edgard Varèse sowie der Musique concrète entstanden und verblieben (von einzelnen seriellen Tonbandproduktionen, Antiphonie (1951) und Vocalises (1952), des jungen Pierre Henry abgesehen) in völliger Unabhängigkeit vom seriellen Denken. Anders einzuordnen ist die in den späten dreißiger Jahren entwickelte strukturelle Geräuschkunst von John Cage, die dieser selbst später als bestimmte Negation des tonstrukturellen Denkens seines Lehrers Arnold Schoenberg beschrieben hat (was auch Boulez 1949 bei seinem ersten Zusammentreffen mit Cage in Paris erfahren und in einer Konzerteinführung in dessen Sonatas and Interludes publik gemacht hatte). Cage hat hierbei schon in mehreren frühen Werken dezidierte Alternativpositionen zu den in avancierter neuer Musik (insbesondere in der zweiten Wiener Schule) zunehmend radikalen Fixierungen des tonstrukturellen Denkens bezogen. In Quartet (1935) komponierte Cage fixierte Strukturen für ein frei wählbares perkussives Instrumentarium. In der Living room music (1940) konkretisierte er diesen Ansatz in der Aufführungssituation des Wohnzimmers mit seinem akustischen Ambiente. Während in diesen Werken die Verbindung fixierter Rhythmik mit unbestimmter Instrumentation noch nicht über den Rahmen eines unkonventionell erweiterten Schlagzeuginstrumentariums hinausgeht, entwickelt sich im Musikdenken von Cage eine neue Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit seit Credo in US (1942): Hier finden sich bei Cage erstmals Notationen, die nicht mehr in allen Details rhythmisch fixiert sind, sondern für einen bestimmten Zeitraum eine Aktion vorschreiben, deren rhythmische Details ebenso wie weitere Parameter vom Komponisten absichtlich unbestimmt gelassen werden: Traditionell notierte, u. U. zusätzlich mit Fermaten notierte Zeitwerte geben an, wie lange ein elektroakustisch-massenmediales Konsumgerät, ein Phonograph oder ein Radioapparat, eingeschaltet oder (bei Pausenwerten) ausgeschaltet bleiben soll. Kein weiterer Parameter wird festgelegt mit Ausnahme der am Gerät eingestellten Lautstärkewerte Lautstärkeveränderungen. Auf dem Phonographen soll eine frei gewählte Aufnahme traditioneller oder zeitgenössischer Klassik abgespielt werden; auch über die Frequenzen oder Sendungen, die bei Verwendung eines Radioapparates eingestellt werden sollen, macht Cage keine näheren Angaben (wobei Cage für diese in dem katastrophenreichen Weltkriegsjahr 1942 entstandene Komposition vorschreibt, daß in Zeiten innen- oder außenpolitischer Krisen keine Nachrichtensendungen eingeschaltet werden sollen). Die so weitgehend unbestimmt gelassenen Klänge sollen kombiniert werden mit rhythmisch und instrumentationstechnisch fixierten Klangstrukturen eines kleinen, von unkonventionellen Schlaginstrumenten und Klangerzeugern dominierten Instrumentalensembles: Die hartnäckigen Ostinati, die Cage in seiner Partitur vorschriebt, artikulieren unorthodoxe Aufsässigkeit gegen die beliebig hinzugefügten, für die standardisierten Massenmedien typischen musikalisch-akustischen Klischees.
Quartet, Living room music und Credo in US sind im Kontext des oeuvres von John Cage frühe Beispiele der Aufbrechung eines deterministischen Denkens, das sich zunächst entwickelt hatte aus dem paradoxen Versuch, das deterministische tonstrukturelle Denken Schönbergs zu übertragen auf die Geräuschkomposition, deren unbestimmtes Material eigentlich zu ganz anderen kompositorischen Ansätzen zwingt, wenn es seinen spezifischen Besonderheiten entsprechend verarbeitet werden soll - sei es in Musik für präpariertes Klavier (in der die traditionelle eindimensionale Tonhöhenordnung komplexe, nicht mehr in Skalen integrierbare Klänge aufgebrochen wird und eine von den spezifischen Besonderheiten eines bestimmten Instrumentenfabrikats abstrahierende Klangfarbenfixierung nicht mehr möglich ist), sei es in Musik für unkonventionelle Geräuschinstrumente und Klangerzeuger (deren Klangfarben in der Standardnotation einer konventionellen Partitur allenfalls noch approximativ notierbar sind). Dennoch hat Cage in den dreißiger und frühen vierziger Jahren zunächst versucht, diejenigen musikalischen Ordnungsbereiche, für die die traditionelle Notation weiterhin verwendbar erschien (vor allem die rhythmischen Werte; partiell auch die dynamischen Werte) strukturell auszukomponieren - und zwar, in Antizipation serieller Verfahren, nach Prinzipien der zeitlichen Strukturierung, die sowohl im Detail als auch in größeren Formzusammenhängen galten. Auf dem Wege der Weiterführung und Radikalisierung dieser Ansätze näherte sich Cage um 1950 einem partiell indeterminierten Strukturalismus, während ungefähr gleichzeitig Boulez, der damals mit ihm intensiv über kompositionstechnische Fragen korrespondierte (und wahrscheinlich von Cage dazu angeregt wurde, die Lösung des Reihendenkens vom Primat der Tonhöhe zumindest theoretisch in Betracht zu ziehen), zunächst Indeterminismus und Zufallsverfahren ablehnte (und erst später, in produktiver Auseinandersetzung vor allem mit Karlheinz Stockhausen und mit dessen seriell kontrollierten Alternativen zur Unbestimmtheitsästhetik von Cage, Elemente der begrenzten interpretatorischen Variabilität in seine Partituren einführte, insbesondere in seine 3. Klaviersonate (1956-57)). Während Boulez am Konzept der klanglich weitgehend vorfixierenden kompositorischen Strukturierung festhielt, verstärkte Cage seit den frühen fünfziger Jahren Aspekte der Unbestimmtheit zu Lasten der klanglich fixierenden Vorstrukturierung. Mit dem seriellen Denken europäischer Komponisten wie Boulez und Stockhausen verbindet ihn, zumindest bis in die fünfziger Jahre hinein, das Interesse an der Zeitstrukturierung auf verschiedenen strukturellen Ebenen sowie die strukturell gleichwertige Behandlung verschiedener Parameter; von seinen europäischen Kollegen trennt ihn die Radikalität seines
(quasi-)seriellen Indeterminismus.
Cage konzentriert sich in seinen Partituren seit den fünfziger Jahren häufig auf die Definition von Ordnungsbereichen, die auf der Basis von Alternativfragen strukturiert werden können, deren Beantwortung mittels Zufallsoperationen erfolgen kann. Die aleatorischen Ansätze in der europäischen Musik hingegen ergeben sich häufig aus einer partiellen Lockerung der kompositorischen Kontrolle, deren klangliche vorstrukturierende Funktion gleichwohl grundsätzlich erhalten bleibt. Aufschlußreich ist, daß Beiträge von John Cage auch in das 1955 von Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen begründete Aperiodikum die Reihe, das vielleicht damals in Europa wichtigste Publikationsorgan der seriellen Musik, aufgenommen wurden.
Polare Unterschiede zwischen John Cage und europäischen seriellen Komponisten zeigen sich bereits in den frühen 1950er Jahren. Besonders sinnfällig werden sie in ihren Partituren zu elektroakustischen Produktionen.
Die 1951 entstandene Komposition Imaginary landscape no. 4 hat Cage für 24 Interpreten komponiert, die 24 Radiogeräte bedienen (an jedem Radiogerät je ein Interpret für die Einstellung der Sendefrequenzen und für deren Lautstärkeregelung). Trotz strengster rhythmischer Fixierung in traditioneller Notation bleiben die Klangereignisse unbestimmt, abhängig von Ort und Zeit der Aufführung und den daraus resultierenden, unwiederholbaren Konstellationen radiophoner Ereignisse (was in der spätabendlichen Uraufführung Sendepausen vieler eingestellter Sender und infolgedessen ein weithin ´stilles´, von zahlreichen Pausen durchsetztes Klangresultat mit sich brachte).
Als Gegenstück zu dieser indeterminierten Radiokomposition entstand 1952 ein indeterminiertes Stück für auf Tonträgern (Schallplatten) gespeicherte Klänge: Imaginary landscape no. 5. Hier notiert Cage in exaktes Montageschema für vom Interpreten/Realisator frei wählbare Schallplatten. Hier - ebenso wie in den noch präziseren Montageplänen für Williams Mix (1952), denen relativ abstrakte Anweisungen über die Herkunft der aufzunehmenden Klänge und über ihre elektroakustischen Transformationen beigegeben sind - ist die Partitur eine Produktionsanweisung, die viele verschiedene Realisationen erlaubt, so daß sogar eine Realisation durch den Komponisten selbst (Williams Mix, 1952; in vergleichbarer Weise, allerdings basierend auf einer weniger streng fixierenden graphischen Vorlage, auch 1958 in Fontana Mix) nicht als exemplarische Darstellung der in der Partitur angegebenen Möglichkeiten gelten kann, sondern nur als eine von mehreren denkbaren Lösungen. Diese exponierte Konzeption aleatorischer Tonbandmusik unterscheidet Cage von den Studioproduktionen europäischer Komponisten, die primär nicht als variabel realisierbare Partituren, sondern als eindeutig fixierte klangliche Realisationen existieren und deren Partituren nur in Ausnahmefällen vollständig ausgearbeitet und veröffentlicht sind. (Zu den wenigen Ausnahmen europäischer aleatorischer Tonbandmusik aus den späten fünfziger Jahren gehören Scambi (1957) von Henri Pousseur - ein Werk, das, in unterschiedlicher Zusammenstellung der Klangmaterialien und -spuren, in Realisationen von Pousseur selbst, von Berio und Wilkinson vorliegt - und Texte II (1960) von André Boucourechliev, zwei im Studio Mailand entstandene Werke.) Die in den damaligen Studios vorhandenen technischen Geräte ermöglichten aleatorische Verfahren allenfalls während der Produktion, aber nicht während der Aufführung eines Werkes, so daß zwar Montage-Varianten derselben Grundmaterialien vorproduziert werden konnten, aber nicht an die von Aufführung zu Aufführung wechselnde Darbietung desselben Werkes zu denken war.
Aleatorische Verfahren in der (Vokal- und) Instrumentalmusik haben seit den fünfziger Jahren bei vielen Komponisten zu Modifikationen des seriellen Determinismus beigetragen (z. B. bei Stockhausen, Boulez, Berio und Pousseur; Luigi Nono hat sich von diesen Tendenzen zunächst fern- und an weitgehenden seriellen Fixierungen festgehalten). In der elektronischen Musik wurden die Möglichkeiten serieller Vorausdetermination seit den fünfziger Jahren mehr und mehr in Frage gestellt, sobald mit dem Generator exakt eingestellte Klänge nicht mehr im Rohzustand verwendet wurden, sondern in komplexen, in den parametrischen Details nicht mehr kontrollierbaren technischen Verarbeitungen. Seriell konstruieren ließen sich in differenziert transformierten elektronischen Klangstrukturen allenfalls noch globale Veränderungsgrade in verschiedenen Parametern (Stockhausen, Kontakte) oder rhythmische Strukturen aus im Detail nicht exakt fixierbaren Klängen, die im fertigen Stück in unterschiedlichen, systematisch angeordneten Transformationsvarianten aufeinander folgen (Koenig, Terminus I (1962); andere Ausarbeitungen desselben Grundmaterials sind Terminus II (1966-67) und Terminus X (1967)).
In der elektronischen Musik setzten sich Tendenzen variabel aufführbarer, klanglich indeterminierter Live-Musik erst in den 1960er Jahren durch, als neben der im Studio vorproduzierten Tonbandmusik die live-elektronische Musik zunehmend an Bedeutung gewann, deren komplexe Geräuschstrukturen sich häufig weniger in seriell vorstrukturierten Partituren erschließen lassen als in Produktionen, die den Interpreten mehr oder weniger weite Spielräume der (quasi-)improvisatorischen Gestaltung beließen. Vergleichbare Ansätze der klanglich nicht mehr exakt vorausbestimmenden, sich improvisatorischen Verfahren öffnenden Komposition und Interpretation entwickelten sich auch in konventioneller (Vokal- und) Instrumentalmusik. In konventionell besetzter oder live-elektronischer Instrumentalmusik der 1960er Jahre verstärkten sich Aspekte der Indetermination und insbesondere des Abbaus struktureller (vor allem serieller) Fixierungen sogar im OEuvre sonst völlig gegensätzlicher Komponisten wie Cage (z. B. im Zyklus seiner Variations, 1958 ff.) und Karlheinz Stockhausen (z. B. in den Prozeßplanungskompositionen Plus-Minus (1963), Prozession (1967), Kurzwellen (1968), Spiral (1968), Pole und Expo (beide 1969-70) sowie in Textkompositionen der Zyklen Aus den sieben Tagen (1968) und Für kommende Zeiten (1968-70)).
In den späten 1960er Jahren gelangten die Tendenzen zunehmender Indeterminierung in den Arbeiten verschiedener exponierter Komponisten an einen kritischen Wendepunkt. Dies führte, auch in Verbindung mit der Rückwendung zu traditionellen Werk- und Materialstrukturen, zu einer Reetablierung serieller Strukturierungen unter neuen Vorzeichen. Serielle Strukturierungen vorgefundener, aber im ursprünglichen Zustand nicht seriell strukturierter Klangmaterialien und Musikvorlagen finden sich seitdem in Werken so unterschiedlicher Komponisten wie Stockhausen (Telemusik (1966) und Hymnen (1966-67): Verarbeitung von Musikfragmenten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten; Opus 1970 Stockhoven/Beethausen - Kurzwellen mit Beethoven: Version der Kurzwellen (1968) mit vorproduzierten technisch manipulerten Fragmenten aus Werken Beethovens), Cage (HPSCHD (1967-69), Cheap imitation (1969): Verarbeitung von Klaviermusik-Fragmenten verschiedener Komponisten bzw. einer Komposition von Erik Satie), Berio (Sinfonia) (1969) und Kagel (Staatstheater (1967-70), Programm (1972), Variationen ohne Fuge: u. a. Verarbeitungen tonaler Klischees und musikalischer Vorlagen von Bach und Brahms). Serielle Strukturierungen sind in diesem Zusammenhang besonders häufig bei Mauricio Kagel zu finden, in dessen Musik sich seit den 1970er Jahren die serielle Verarbeitung (pseudo-)tonaler Musikmuster und -fragmente bzw. ein seriell strukturierter
(Neo-)Neoklassizismus durchgesetzt haben.
Reetablierungen von aus der Tradition übernommmenen musikalischen Materialordnungen spielen, auch ohne explizite Zitate traditioneller Musik, seit den späten sechziger und siebziger Jahren eine wichtige Rolle auch in vielen Kompositionen von John Cage: In Werken wie den Quartets (1976) und in den meisten Kompositionen aus dem Zyklus der späten Zahlenstücke löst sich Cage von experimentellen grafischen und verbalen Notationsformen früherer Werke und kehrt (in modifizierter Form) zur traditionellen Notation fester Tonhöhen zurück, die er mit einer in Grenzen flexiblen (´erdbebensicheren´) chronometrisch kontrollierten Zeitstrecken-Notation verbindet. In Ton- und Zeitstrukturen sowie in weiteren, für verschiedene Stücke unterschiedlich fixierten strukturellen Differenzierungen kehrt Cage zum seriellen Parameterdenken zurück, wobei allerdings Parameter-Fixierungen gegebenenfalls nicht deterministisch, sondern in Zufalls-Entscheidungen vorgenommen werden.
Noch deutlicher wird die Reetablierung seriellen Musikdenkens unter neuen Aspekten seit den siebziger Jahren in der Musik von Karlheinz Stockhausen. In seinen Formelkompositionen (1970-77) und in seiner multiformalen Musik (seit 1977) erscheinen serielle Strukturierungen primär nicht mehr als abstrakte, erst in der Partituranalyse sich erschließende Konstruktionsprinzipien, sondern als unmittelbar im konkreten Höreindruck nachvollziehbare Gestalten und Gestalt-Transformationen. Die Konstruktion geht aus von melodisch prägnanten, über einen einzigen Oktavraum nicht oder nur wenig hinausreichenden Tonfolgen in charakteristischen Strukturierungen der Invervalle, Bewegungsrichtungen und Tongruppen. Die einzelnen Töne sind individualisiert durch charakteristische Tonformen (z. B. als ausgehaltene, im Zentrum oder - quasi in Aus- bzw. Einschwingvorgängen - an Anfang bzw. Ende belebte Klänge; hier finden sich neue Lösungsansätze für die in früher punktueller und serieller Musik noch ungelöst gebliebenen Probleme seriell strukturierter Artikulation). Die Zeitwerte sind strukturiert nicht nur in abgestuften Dauern und Tempi, sondern auch in der Abgrenzung der zentralen Klangdauern mit imaginären (d. h. mit kontrastierenden Hörereignissen gefüllten, ´gefärbten´) oder realen Pausen. Zeitlich proportioniert sind Abfolgen nicht nur verschiedener Töne, sondern auch verschiedener Tongruppen. Neben den eigentlichen Kerntönen gibt es in den Formeln auch Zusatztöne, die an vorausgegangene Kerntöne erinnern, auf künftige vorausweisen oder das Intervall zwischen einem früheren und einem späteren Kernton mit skalenartig angeordneten Zwischentönen überbrücken (mit chromatisch-zwölftönigen oder mikrotonalen Intervallen). Als Grenzfälle kleinstufiger Skalenbewegungen von einem Kernton zum anderen lassen sich die Glissandi beschreiben. Elektronisch ausgestaltet sind sie, in Verbindung mit auskomponierten Klangbewegungen zwischen 8 Lautsprechern, in der Tonbandkomposition Oktophonie (1990-91) instrumental auskomponiert sind sie, in Verbindung mit Freiluft-Raumbewegungen, im Helikopter-Streichquartett (1993). In vielfältigen Abstufungen und Veränderungen von Tonhöhen, Lautstärken und Klangfarben realisieren sich nicht nur reine Tonstrukturen, sondern auf vielfältige Abstufungen zwischen den Polen des reinen Tones und des komplexen Geräusches. Die in vielen Parametern abgestuften und sich verändernden Hörereignisse sind kombinierbar mit (ggf. musikalisierten) Texten und mit szenischen Vorgängen.
Cage und Stockhausen repräsentieren, in polarer Gegensätzlichkeit, mögliche Differenzierungen im Musikdenken des 20. Jahrhunderts und insbesondere in seinen seriellen oder (sei es auch in bestimmter Negation) auf Serialität bezogenen Aspekten, die auch andere Komponisten ihrer eigenen oder späterer Generationen beeinflußt haben (u. a. Dieter Schnebel, Pierre Mariétan, Brian Ferneyhough und Helmut Lachenmann).
Schwierigkeiten, größere Entwicklungszusammenhänge der seriellen Musik darzustellen, ergeben sich einerseits aus gravierenden Mehrdeutigkeiten der Verwendung dieses Begriffes und seiner Korrelate in anderen Sprachen, andererseits aus unterschiedlichen Auffassungen über die historische Tragweite dieses Begriffes. Kontrovers sind sowohl der terminus post quem als auch der terminus ante quem seines angemessenen Verwendung, und zwar sowohl für das OEuvre einzelner Komponisten als auch für größere kompositionsgeschichtliche Entwicklungszusammenhänge im 20. Jahrhunert. Wenn, im Interesse einer Klärung der wichtigsten Streitfragen, eine möglichst umfassende Verwendung dieses Begriffes versucht wird, so kann gleichwohl nicht davon abgesehen werden, daß einerseits die von ihm bezeichneten musikalischen Sachverhalte und Zusammenhänge besonders eng verbunden sind mit der Etablierung des Tonreihendenkens in der zweiten Wiener Schule und mit späteren Versuchen, diese in produktiver Kritik zu verallgemeinern - daß aber andererseits auch die Relevanz dieses Begriffes für die Musikentwicklung nach 1960 eben so wenig bezweifelt werden kann wie für die Zeit vor 1950 und daß er, unbeschadet weitgehender, spätestens seit den siebziger Jahren teilweise wieder revozierter Profilverluste im Kontext der Musik der sechziger Jahre (für die, auch im Hinblick auf sich jetzt verstärkt profilierende neue Komponistennamen etwa von György Ligeti und Krzystof Penderecki,angesichts ihres Zusammenhanges mit der Musik der fünfziger Jahre der Terminus postserielle Musik einseitig und mißverständlich erscheinen muß), bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein für die kompositorische Entwicklung relevant geblieben ist.
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