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1.2.17 TADENA.DOC


Rudolf Frisius

Iannis Xenakis: Polla ta dina (1962)

In seinen ersten Chorwerken, die seit den frühen sechziger Jahren entstanden sind, geht Iannis Xenakis von antiken Texten aus. Diese Texte werden meistens so auskomponiert, daß die Textverständlichkeit gewahrt bleibt - sei es in chorischer Sprechdeklamation, sei es im synchron rhythmisierten Gesang. Die Rhythmik ist entweder streng periodisch oder im klar disponierten Wechsel von Längen und Kürzen ausgeführt. Aus all dem ergibt sich, daß der Chorsatz meistens ganz anders ausgestaltet ist als die dichten Massenstrukturen, die Xenakis in seiner Instrumentalmusik seit seinen ersten Orchesterwerken (also seit den fünfziger Jahren) verwendet.

Die 1962 entstandene Komposition "Polla ta dina" ist das erste Werk von Xenakis, in dem Singstimmen mitwirken und ein Text verwendet wird. Bis dahin war Xenakis in der Öffentlichkeit nur mit textloser Musik hervorgetreten: mit Instrumentalmusik und mit Tonbandkompositionen. Schon deswegen markiert "Polla ta dina" eine neue Etappe in der kompositorischen Entwicklung von Xenakis: Zwar erinnern Details des Orchestersatzes noch an ältere, in den fünfziger Jahren entstandene Werke wie "Metastaseis" und "Pithoprakta"; aber die Einbeziehung von Singstimmen verändert in diesem Stück das gesamte kompositorische Gefüge und wirft neue Probleme des musikalischen Sinnzusammenhanges auf.

Mit "Polla ta dina" war seinerzeit noch kein neuer Vokalstil gefunden, der sich auch auf spätere Werke hätte übertragen lassen. Es hatte sich nur eine erste, individuell auf dieses Werk ausgerichtete Lösung ergeben: die Textdeklamation auf einem einzigen, quasi-deklamatorisch rhythmisierten Ton, kombiniert mit einem komplexen, vielschichtigen Orchestersatz. So bleibt die Vertonung ambivalent: In der Deklamation des Textes manifestiert sich gewissermaßen eine andere Musiksprache als im Orchestersatz. Man erkennt kompositorisch ausgestaltete Konfliktsituationen - Spannungsverhältnisse nicht nur zwischen Klang und Bedeutung, sondern auch zwischen Musiksprache und Musikpraxis: Der Orchestersatz stellt hohe professionelle Anforderungen, während der Chorsatz auch von Laien ausgeführt werden kann. Instrumente und Stimmen verbinden sich hier in auskomponierter Ambivalenz.

Die Komposition ist bestimmt von extremer Gegensätzlichkeit: Der Chor (bei der Uraufführung war es der Knabenchor eines Gymnasiums) rezitiert den Text auf einer einzigen Tonhöhe, auf dem Kammerton a; der Orchestersatz hingegen füllt den gesamten Tonraum aus, von extrem hohen Tönen der Piccoloflöte bis zu tiefen Baßtönen.

Das Stück beginnt mit einem hohen Holzbläserakkord, dessen Töne repetiert werden: individuell, in unregelmäßigen Abständen sich wiederholend. Hinzu kommen Akzente, ebenfalls in unregelmäßigen Abständen: eine Mischung von Ton und Geräusch, ein Tremolo der Streichbässe gemischt mit einem kurzen Wirbel von vier Tom-Toms. Nach dem zweiten dieser Akzente setzt der Knabenchor ein: deklamierend in rhythmisierter "Monotonie". - Im ersten Teil seiner Komposition verarbeitet Xenakis die erste Strophe des Sophokles-Standliedes. Die Gliederung dieses Textes prägt den Aufbau der Komposition, ebenso wie umgekehrt die musikalische Gliederung den Aufbau des gesungenen Textes verdeutlicht: Die markant pulsierenden Passagen der Bläser, mit denen das Stück beginnt und die später wiederkehren, unterstreichen die Gliederung der Großform. Auch Detailgliederungen sind auskomponiert, schon in der ersten Strophe: Wenn im Text der Mensch als Herr der Meere und des Erdreiches gerühmt wird, begleitet das Orchester zuerst mit dicht geschichteten Gleittönen, dann mit massierten Tonrepetitionen.

Im Zentrum des Stückes schweigen die Bläser, und der Streichersatz wird völlig aufgelöst in dichte, sich kreuzende Scharen gleitender Töne.

Erst im Schlußteil werden die kompakten Klangflächen und Klangmassierungen des Orchesterklanges aufgebrochen. Der klug vorausplanende, aber letztlich vor dem Tode doch machtlose Mensch wird besungen und instrumental dargestellt mit rasch wechselnden Begleitmodellen des Orchesters.

Am Schluß dieser Sophokles-Vertonung verbinden sich Bläser und Schlagzeug bald in der Überlagerung, bald im Wechsel - sei es in breit geschichteten Klängen, sei es in rhythmischen Pulsationen, sei es in weiträumig gleitenden Tonbewegungen der Instrumentengruppen.

Kurz vor dem Schluß des Stückes setzt das Orchester für kurze Zeit ganz aus: Man hört plötzlich nur noch den Gesang auf einem Ton, an einer Stelle unterteilt durch einen Vibraphonakkord. Am Schluß des Gesanges treten dann wieder andere Instrumentalpassagen hinzu: eine breit ausgedehnte Klangfläche der Streicher; in den Schlußtakten außerdem auch Tonrepetitionen zweier Hörner, die mächtig anschwellen bis zum Schluß.

"Polla ta dina" steht am Anfang einer neuen Entwicklung im Oeuvre von Xenakis, in der zwischen Stimme und Instrument neue Verbindungen, Kontraste und schließlich auch Integrationsmöglichkeiten erprobt werden sollten.

Das Werk ist Hermann Scherchen gewidmet, der am 25. Oktober 1962 die Uraufführung in Stuttgart dirigierte.
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