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7.8.6 Boulez Notations 1945 CD3.doc


Rudolf Frisius

Pierre Boulez: NOTATIONS pour piano (1945)

1945, in seinem 20. Lebensjahr, schrieb Pierre Boulez die Komposition Notations für Klavier. Der Aufbau des Werkes ergab sich als Konsequenz einfacher konstruktiver Überlegungen:

Keimzelle der gesamten Komposition ist eine Zwölftonreihe. Analog zu ihren zwölf Tönen entwickelt Boulez zwölftaktige Strukturen in zwölf verschiedenen Varianten. So entsteht ein Zyklus aus zwölf zwölftaktigen Stücken. In ihnen von Stück zu Stück alternierend zwischen transparenten, prägnant gestalteten und kompakten, dichten, massiven Bildungen - präsentiert sich die Reihe gleichsam in zwölf verschiedenen Perspektiven:

1. in wechselnden melodischen und harmonischen Gestalten;

2. mit den gesamten Tonraum in markanten Sprüngen durchziehenden Tonbewegungen,

die eingerahmt werden von Tontrauben und aufschießenden Glissandi;

3. im Wechselspiel von Melodie und begleitenden Harmonien;

4. in kontrastierenden Tonlagen und melodischen Bewegungsformen

(mit einer Schritt für Schritt sich aufbauenden Melodie

und ständig wiederholten, dabei fortwährend rhythmisch veränderten Begleitmustern);

5. mit weit ausgreifenden Melodielinien über breit ausarpeggierten harmonschen Klangflächen;

6. in rasend schnellen, kanonisch verdichteten, den sprunghaft rasch durchquerenden Tonfolgen;

7. mit extrem reduzierten Intervallfolgen,

aus denen sich dann erst nach und nach freiere melodische Bindungen herauslösen;

8. mit unregelmäßig gehämmerten Quarten und, später einsetzend,

mit einem Schritt für Schritt sich auftürmenden, dann hin und her changierenden Akkord;

9. mit schattenhaft leisen Harmonien und Geräuschakzenten in extrem tiefer Lage,

verbunden mit extrem reduzierten melodischen Andeutungen (Intervallen, gehaltenen Tönen);

10. mit scharf geschnittenen, ständig wechselnden,

sich ablösenden oder ineinander geschobenen rhythmischen Gestalten;

11. im Wechsel von ornamentalen (in fließender Bewegung auf- oder abspringenden)

oder ausmodellierten (länger, in markant wechselnden Dauern, ausgehaltenen) Melodietönen;

12. mit massiven Akkorden, die sich bald im Tonraum bis in extreme Lagen hinein ausbreiten,

bald in engen Tonketten verdichten.

An mehreren Stellen des Zyklus ist noch die ursprüngliche Absicht erkennbar, in jedem der zwölf Stücke einen anderen der zwölf Reihentöne besonders herauszustellen (z. B. als Anfangston, so daß Stück 1 von Ton 1 ausgeht, Stück 2 von Ton 2 usw.). Wesentlicher für den Höreindruck ist in der Abfolge der Stücke der ständige Wechsel zwischen transparenten, reduzierten und kompakten, dichten Stücken.

Neuartiges ergibt sich in vielen Details dieses Zyklus aus der überraschenden Konfrontation von scheinbar völlig heterogenen, wenn nicht sogar unvereinbaren Anregungen und Einflüssen:

Boulez kombiniert hier die klassische Zwölftontechnik (im Sinne Schönbergs, Bergs und Weberns, deren Musik in Frankreich seit 1945 durch René Leibowitz bekannt geworden ist) mit rhythmischen Prozeduren im Geiste seines Lehrers Olivier Messiaen. In der Konfrontation durchaus heterogener melodisch-harmonischer und rhythmischer Gestaltungsprinzipien entstehen produktive Wechselwirkungen, die die Musik des jungen Boulez über ihre ursprünglichen Vorbilder hinausführen und allen Details ihr unverwechselbares Gepräge geben: Im Zuschnitt der melodischen Linien

in den vielfältig changierenden Farbwerten der Akkorde in der allgegenwärtigen rhythmischen Flexibilität in plastischen Formgestaltungen sei es mit jähren Kontrasten, sei es mit markant zielgerichteten Prozessen.

Die im ersten Satz keimhaft angelegten Gestaltungselemente kündigen an, was sich in späteren Sätzen breiter entfalten wird: Aus der kurzen melodischen Figur, die über einen ausgehaltenen Ton gesetzt wird (Nr. 1, Takt 1) werden später (in Nr. 5) eine weit ausschwingende Melodielinien über breit ausarpeggierten akkordischen Klangflächen. Aus geradlinig absteigenden, abschwellenden Staccato-Tönen (Nr. 1, Takt 2) werden später (in Nr. 2) im Fortissimo weiträumig und geradlinig auf- oder absteigende Linienzüge. Als Widerpart zu einem schattenhaft leisen und tiefen Melodieton (Nr. 1, Takt 3) erscheinen später (an zwei Stellen in Nr. 9) ebenso leise, aber wesentlich höhere und länger ausgehaltene selbständige Melodietöne, die ebenfalls durch Pausen vom Vorhergehenden und Nachfolgenden abgegrenzt sind (es sind übrigens die höchsten Töne dieses Stückes). Ein extrem dichter und lauter Akkord (Nr. 1, Takt 4; hier mit nachschlagendem Akzent) wird zur Vorankündigung späterer markanter Akkordballungen und Akkordbewegungen (in Nr. 12). Melodisch oder rhythmisch unregelmäßige Tonwiederholungen (Staccato: Nr. 1, Takt 5-6; Legato; Nr. 1, Takt 8) werden zur Andeutung späterer Wiederholungen von Tontrauben (Nr. 2, Takt 12; Nr. 9; Nr. 12), von Tonbewegungen (aus tiefster Lage aufschießendes Glissando, das in einem dichten Cluster mündet: Nr. 2, T. 1, 2 12), von fortwährend wiederholten (dabei aber auch fortwährend subtil variierten) Intervallen (Nr. 8), melodischen oder harmonischen Begleitmustern (Nr. 4, Nr. 7). Die Überlagerung von akkordischer Begleitung und Melodie (Nr. 1, Takt 7-8) tritt in späteren Stücken (Nr. 3, Nr. 5, Nr. 7) verstärkt in Erscheinung. Zweistimmigkeit mit synchronen Kopplungen zweier Stimmen (Nr. 1: T. 9 und, als erweiterte intervallische Variante, T. 10-11) findet ihr Gegenstück in zweistimmig polyphoner Kanonik (Nr. 6). Verwandtschaften zwischen erstem und letztem Takt finden sich außer im ersten auch in anderen Stücken (Nr. 3: einstimmig beginnend mit der Oberstimme, abschließend einstimmig zurückführend zu deren Anfangstönen in der Unterstimme).

Das Werk, das nach der Uraufführung (Paris 1945) für längere Zeit in Vergessenheit geraten schien, hat sich gleichwohl als bedeutsam erwiesen nicht nur für die allgemeine Musikentwicklung (die Modernisierung und konstruktive Radikalisierung der Zwölftonmusik),sondern insbesondere auch für die kompositorische Entwicklung von Boulez selbst. Zwei Stücke des Zyklus (Nr. 5 und 9) erscheinen später, kammermusikalisch apart orchestriert, in seiner 1958 uraufgeführten "Improvisation I sur Mallarmé", dem zuerst vollendeten Teilstück seines monumentalen Mallarmé-Zyklus "Pli selon Pli". 1978 ließ Boulez den vollständigen Klavierzyklus erneut aufführen (wiederum im Pariser Rundfunk), und danach begann er damit, einzelne Stücke für Orchester umzuarbeiten. Die ersten vier Stücke gelangten 1980 zur Uraufführung, die Umgestaltung eines weiteren (Nr. 7) wurde erst in den späten neunziger Jahren abgeschlossen. So hat sich ein knapper, konstruktiv geschlossener und wahrscheinlich relativ rasch komponierter Zyklus kurzer Solostücke verwandelt in ein größer dimensioniertes "work in progress", dessen (in der Abfolge nunmehr als variabel behandelte) Einzelstücke aus den Klaviervorlagen nicht einfach durch Orchestrierung, sondern vielmehr durch kompositorische Umgestaltung mit vielfältigen Multiplikationen und Transformationen der einzelnen strukturellen Zellen abgeleitet sind. Der originale Klavierzyklkus, der einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer neuen Etappe der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts markiert, hat also letztlich nicht nur im damaligen Stadium neue Wege eröffnet, sondern sich später auch als lebenskräftiger Keim neuer Verwandlungen erwiesen, die sogar die ursprüngliche Komposition selbst wieder in Frage stellten und sie umfunktionierten zum Keim neuartiger, über bisher Bekanntes hinausführender musikalischer Zusammenhänge.
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