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7.10.2 BRUCK2.DOC


Bruckner (2)

Z: IV 3b vollst. Fassung 1878 Jochum

Anton Bruckners Musik steht in einem eigentümlichen Spannungsfeld zwischen Traditionsbezogenheit und Aktualität. Seine Symphonien, die zu der avanciertesten Musik ihrer Zeit gehören, kennen Ruhepunkte, an denen versöhnlich Traditionelles und ungebrochen Volkstümliches scheinbar ungebrochen im Vordergrund stehen. In seinen Symphonien übernimmt Bruckner unbefragt die klassische Viersätzigkeit - und selbst diejenigen Stellen, an denen sich in seinen Symphonien Traditionelles und Populäres findet, sind vom traditionellen Ablaufsschema vorbestimmt: Sie erscheinen im Zentrum des populärsten Symphoniesatzes - im Trio des Scherzosatzes, der aus dem Menuett hervorgegangen ist.

Das Trio der 4. Symphonie, das seine definitive Fassung im November 1878 gefunden hat, ist eines der einfachsten und populärsten Stücke Bruckners. Diese Einfachheit ist nicht das Ergebnis rascher spontaner Eingebung, sondern das Resultat eines langwierigen kompositorischen Arbeitsprozesses. Ursprünglich, in der ersten Fassung aus dem Jahre 1874, hatte Bruckner ein ganz anderes, viel weniger volkstümliches Trio vorgesehen - eine Musik, die, anders als die Endfassung, keinerlei volkstümlich-tänzerische Assoziationen zuläßt.

Z: IV 3b Fassung 1874, Inbal 5´26 - 7´36

Wenn Anton Bruckner in der Endfassung seiner 4. Symphonie das endgültige Scherzo-Trio zum Tanzsatz vereinfacht, so läßt sich dies als bewußte Rückwendung in die Vergangenheit deuten. Bruckner stellt sich hier in eine Tradition, die Joseph Haydn noch in seiner letzten Symphonie respektierte: Im Zentrum des 3. Symphoniesatzes enthüllt die Instrumentalmusik ihre Herkunft aus dem Tanz.

Z: Haydn 104 3b, B-Dur-Trio - ohne Rückleitung zum D-Dur-Menuett

In einigen Scherzosätzen Anton Bruckners sind noch Traditonen lebendig, die zuvor bereits Ludwig van Beethoven überwunden zu haben schien. Bruckner bekennt sich in diesen Sätzen zu einem ungebrochenen Verhältnis zur Tradition, das eigentlich selbst zur Zeit Haydns schon nicht mehr unbefragt existierte: Das idyllische Trio als vollkommen selbständiges Mittelstück eines Menuett-Satzes ist schon bei Mozart nicht mehr selbstverständlich. Selbst dann, wenn Mozart mit Anklängen an Volksmusik arbeitet, kann es vorkommen, daß diese im symphonischen Kontext gebrochen erscheinen. Das Trio seiner großen Es-Dur-Symphonie beginnt als Tanzsatz mit dudelnden Klarinetten und sparsamen Begleitmustern von Streichern. Im weiteren Verlauf aber wird deutlich, daß es hier nicht um unverfälscht Volkstümliches geht, sondern um dessen Darstellung in einer hochartifiziellen Stilisierung. Dies erkennt man beispielsweise an den Klarinettenfiguren: Mozart übertreibt sie in einer humorvollen Karikatur, daß sie niemals zu Ende kommen - und deswegen kommt es im Trio zu keiner Abschlußzäsur. Statt dessen geht der Triosatz am Ende bruclos über in die Wiederkehr des kräftigen Menuettsatzes. Das Trio steht also nicht mehr für sich, sondern es wird eingeschmolzen in einen größeren Formzusammenhang.

Z: Mozart: Symphonie Es KV 543, IIIb - 1. Teil IIIa (evtl. IIIa vollständige Reprise)

Bruckner war nicht der einzige Komponist des 19. Jahrhunderts, der in seinen Symphonien zu kleinen Lied- und Tanzformen viel mehr Zutrauen hatte als Beethoven oder selbst Mozart. Wenn man nach möglichen Vorbildern für Bruckners Tanzrhythmen sucht, könnte man an Klavier-Tänze von Franz Schubert denken.

Z: (Evtl. Zus.schnitt:) Bruckner IV 3b Anfang - Schubert Trio zum Walzer Deutsch 139

oder evtl. ein Ländler aus Deutsch 145

Wenn man in Bruckners Musik nach frühen Spuren einer Vorliebe für Tanzmusik sucht, kann man auf frühe Klaviermusik stoßen, die vom späteren Symphoniker noch kaum etwas ahnen läßt - beispielsweise auf einen Steiermärker aus dem Jahre 1850. Dieses kurze Stück des 26jährigen ist denkbar einfach gestaltet - ein verspätetes Frühwerk eines Komponisten, der seinen kompositorischen Weg erst später finden sollte.

Z: Steiermärker 1850

Von Bruckners frühen Klavierstücken ist ein weiter Weg zu einen Symphonien. Erst in seiner 3. Symphonie ist deutlich zu erkennen, daß selbst einfache Tanzformen in einer hochdifferenzierten Kompositions- und Instrumentationstechnik jetzt in völlig verändertem Licht erscheinen - mit prägnanten Motiven, kühnen Harmoniewendungen und kräftigen, originellen orchestralen Farben.

Z: III 3b 1. Fassung Inbal

Deutliche Anspielungen an Tanzcharaktere finden sich bei Bruckner vor allem in den Scherzosätzen seiner dritten und seiner vierten Symphonie. Weder in früheren noch in späteren Symphonien spielen sonst Tanz-Assoziationen noch eine wesentliche Rolle. Dennoch ist auch in den anderen Scherzosätzen offensichtlich, daß Bruckner hier besonderen Wert auf die Respektierung traditioneller Formgesetze legt. Im strengen dreiteiligen Aufriß seiner Scherzosätze orientiert er sich eher an Mozart oder Haydn als an Beethoven oder Schumann. Auffällig ist, daß alle Triosätze Bruckners vollständig selbständig beleiben gegenüber dem Scherzosatz und seiner späteren Reprise.

Bruckners Trios sind durch Anfangs- und Schlußpausen innerhalb der vollständigen Scherzoform deutlich abgegrenzt. Um diese Abgrenzung deutlich zu machen, verfährt Bruckner orthodoxer als selbst Haydn, der in seiner letzten Symphonie das Trio nicht unverbunden stehen ließ, sondern es mit einer Rückleitung ergänzte und so zur Reprise des Menuetts führte.

Z: Haydn 104 III b vollst. oder ab 2. Teil oder ab 2. Teil Wiederholung - bis Anfang Menuet

(bis Ende 1. Teil des Menuetts oder bis Ende Menuett und damit Satzende)

Bruckners Scherzi sind in ihrer Traditionsbezogenheit so eingängig, daß sie schon zu seinen Lebzeiten selbst von seinen Gegnern einiger zumindest partieller Anerkennung gewürdigt wurden. Kritisch beurteilt wurden die Scherzi eher von Musikern, die auf dezidierte Modernität achteten. Zu dieser Gruppe von kritisch-modernistischen Schülern gehöerten sogar einige Schüler Bruckners. Diese Schüler standen manchen Aspekten der Kompositionsweise Bruckners durchaus kritisch gegenüber. Ihre Kritik führte so weit, daß Bruckners Partituren retuschiert wurden - beispielsweise in Überleitungen vom Trio zum Scherzo, mit denen die originalen Generalpausen Bruckners gleichsam übermalt wurden.

Z: evtl. übermalte Überleitung Trio - Scherzo: Knappertsbusch - vielleicht IV 3? oder III 3, V 3?

(V als CD vorhanden)

Für Abweichungen von der streng dreiteiligen Scherzoform hat sich Bruckner kaum interessiert. In seinen Symphonien findet man weder wiederkehrende Trios (wie bei Beethoven) noch mehrere verschiedene Trios (wie bei Schumann). Meistens wird bei Bruckner nach dem Trio der Scherzo-Hauptsatz unverändert wiederholt. Die Wiederholung bleibt meistens unverändert bis in die Schlußtakte hinein. Nur in einigen frühen Symphonien hat Bruckner Satzschlüsse komponiert, die, alo Coda, erst nach Abschluß der Reprise gespielt werden dürfen (nicht schon nach dem ersten Schuß des Menuetts, dem dann der Einsatz des Trios folgt) - Scherzo-Schlußtakte also, die nur ein einziges Mal erklingen.

Z: Zusammenschnitt Codas: ev. Nullte - I 3 - II 3

Bruckners Vorliebe für die traditonelle dreiteilige Scherzoform war den Traditionalisten seiner Zeit wohl eher sympathisch; Kritik erregten Bruckners Scherzi eher bei avancierten Anhängern, die sonst die kompositorischen Innovationen Bruckners zu nützen wußten. Auch das hat zu Retuschen von fremder Hand geführt. Beispielsweise gibt es eine retuschierte Fassung der IV. Symphonie, in der Bruckners wörtliche Scherzo-Reprise pseudo-modernisiert ist, und zwar durch eine brutale Kürzung. Inzwischen wird diese gekürzte Fassung allerdings glücklicherweise nicht mehr gespielt, so daß man sie nur noch auf historischen Schallplattenaufnahmen zu hören bekommt.

Z: IV 3, gekürzte Scherzo-Reprise Knappertsbusch 6´21 - 6´52 Ges (Anf. 2. Teil) (6´55 2. Pause)

Wer das Scherzo von Bruckners vierter Symphonie in einer historischen Aufnahme mit Hans Knappertsbusch hört, kann feststellen, wie das Scherzo in der Wiederkehr nach dem Trio verstümmelt wird: Eine gewaltige Steigerung mündet, einigermaßen paradox, in einem einzigen Ton der Streichbässe. Was Bruckner wirklich komponiert hat, ist in dieser Aufnahme nur im ersten Durchgang des Scherzos zu hören: Die Steigerung mündet in schmetternden Blechbläser-Fanfaren. Der gehaltene Ton kommt nach Bruckners Anweisung erst viel später: Nach dem Höhepunkt einer zweiten, noch mächtigen Steigerungswelle; zu Beginn des zweiten, ruhiger einsetzenden Teiles.

Z: IV 3, 1. Scherzodurchgang Knappertsbusch (ungekürzt) 0´´ - 1´42 Ges Bassi (evtl. länger)

Einige Schüler Bruckners, die viel für die Verbreitung seiner Musik getan haben, hielten es für richtig, die Symphonien ihres Lehrers nur in gekürzter Form aufzuführen. Von den Kürzungen war in den von ihnen retuschierten Partiturausgaben vor allem wiederkehrende Teile, also Reprisen, betroffen. Dies entsprach einer Auffassung, die im 19. Jahrhunderts gerade unter modern eingestellten Musikern weit verbreitet war. Damals gab es eine weit verbreitete Vorliebe für dramatische und sich entwickelnde Musik. Erst längere Zeit nach Bruckners wurden, im Vergleich mit Bruckners originalen Vorlagen, die Kürzungen und Retuschen von fremder Hand bemerkt - auch etliche von Wagners Mischfarbenästhetik inspirierte Änderungen der originalen Instrumentation Bruckners. Erst seit dieser Zeit wurde es möglich, Bruckners Werke in ihren Originalfassungen durchzusetzen. Deutlich wurde, daß die von Bruckners Schülern gekürzten Fassungen weniger überzeugten als Bruckners längere Originalversionen.

evtl. Z: IV 3 bis Anfang Durchführung, ungekürzt, z. B. Furtwängler, Rosbaud, Wand oder Jochum

Bruckner, der innovative Symphoniker, hat die Traditionen, die er weiter entwickelte und vo innen heraus veränderte, niemals verleugnet. Was selbst seine gutwilligen Schüler störte, erschien ihm selbst offensichtlich unverzichtbar: Das Festhalten an klassischen Formgesetzen der Symmetrie und der wörtlichen Wiederkehr - als Gegengewicht zur mächtigen Formdynamik im Inneren der wiederkehrenden Formteile. Bruckners Symphoniesätze brauchen ihre Zeit der formalen Entfaltung - und zwar nicht nur in ihren weit ausladenden Steigerungsprozessen, sondern auch in ihren architektonisch ausgewogenen Reprisen großer Formteile. Auch für seine Musik gilt das Kompliment "himmlischer Längen", das Robert Schumann der letzten Symphonie Schuberts machte. Seine Musik braucht ihre Zeit nicht nur Darstellung ihrer Formdynamik und ihres großformalen Gleichgewichtes, sondern auch in der Ausgestaltung ihrer weit sich ausdehnenden Ruhezonen.

Z: Gesangsthema z. B. V 1 (bis Pause nach D-Dur) z. B. Knappertsbusch 3´42 - 6´04

oder VII 1 (aufhören vor Einsatz der Schlußsteigerung) z. B. Jochum, Celi, Furtwängler, Rosbaud

Bruckner präsentiert sich in seinen Symphonien nicht überall so, wie wir etwa aus vielen Anfängen seiner schnellen Sätze kennen - als der formale Dynamiker, der Beethovens dramatische Steigerungsentwicklungen fortgeführt und erweitert hat. In Bruckners Musik gibt es auch breit ausgesponnene, in sich ruhende Formgebilde - Musik, die nicht auf Beethovens Vorbild verweist, sondern auf andere Modelle der symphonischen Tradition.

Z: IV 2, 1. Fassung Inbal (bis GP vor Anf. SS), 0´´ - 3´07

Der langsame Begleitsatz der vierten Symphonie Bruckners beginnt mit einem ruhigen Begleitmotiv der Streicher. Später setzt eine Kantilene der Celli ein. So entsteht ein ruhiges, über längere Zeit hinweg sich erhaltendes Formbild. Wie sehr es Bruckner auf den Gesamteindruck ankam, geht daraus hervor, daß er ihn auch in einer neuen Fassung dieses Satzes beibehielt - und dies obwohl wesentliche Details verändert wurden, was schon an der ersten Begleitfigur zu hören ist.

Z: IV 2 HS bis GP vor SS, Neufassung, Jochum o. a. - z. B. Furtwängler 0´´ - 3´23

Im ständigen Miteinander von Melodie und obligater Begleitung entwickelt sich der Satz. Dies erinnert - trotz aller Unterschiede des Ausdrucks - an den langsamen Satz in Franz Schuberts letzter Symphonie - der großen Symphonie in C-Dur: Musik mit liedhafter Melodik und Begleitung.

Z: Schubert IX 2 1. Teil

In Schuberts Musik gibt es zahllose Besonderheiten, die auf Bruckner vorausweisen - vor allem in seiner Harmonik. Besonders deutlich wird dies, wenn Schubert kühne harmonische Wendungen findet, die aus der Umfärbung eines einzigen Tones entstehen. Ein prägnantes Beispiel hierfür findet sich im ersten Satz von Schuberts Klaviertrio B-Dur: Vor dem Einsatz des Gesangsthemas mündet die Musik auf einem lange ausgehaltenen Ton; es ist derselbe Ton, mit dem anschließend das Gesangsthema beginnt. Der gehaltene Ton verwandelt seinen Charakter, er wird vom Schlußton eines Formteiles zum Anfangston eines neuen Teiles: zum Anfangston des Gesangsthemas. Diese Wandlung wird deutlich durch einen farbenreichen Harmoniewechsel: Es ist nicht ein klassisch markierender Ganzschluß von der Dominante aus, sondern eine harmonisch schwebende Umfärbung: die Ausweichung in eine weiter entfernte Tonart, in eine Mediante.

Schubert: Trio B-Dur 1. Satz: Überleitungsende - Seitensatz

1´47 (aufsteigende A-Dur-Tonleiter) - 2´24 (1. F-Dur-Kadenz) (oder evtl. 2´46, 2. F-Dur-Kadenz)

oder bis 3´38 Generalpause

Schubert läßt den Hörer vergessen, daß die neue Tonart des Gesangsthemas eigentlich genau diejenige ist, die man nach den klassischen Regeln erwartet: Die Dominante der Haupttonart B-Dur, also F-Dur. Das eigentlich Voraussehbare klingt bei Schubert völlig überraschend - und zwar deswegen, weil Schubert es auf ungewöhnliche Weise vorbereitet: Vor dem Einsatz des Gesangsthemas, im Überleitungsteil, entfernt die Musik sich so weit von dem erwarteten F-Dur, daß diese Tonart dann schließlich ganz plötzlich und unerwartet erscheinen lassen.

Z: Schubert Trio 1. Satz: Übergang A-Dur - F-Dur (kurz)

ab 1´47 (aufsteigende Tonleiter A-Dur) (2´03 Anf. SS-Begl.) bis (2´11 Ende Vs) 2´26 (Ende Ns)

Schuberts Kunst Verwandlung, die harmonische Umfärbung eines Tones, findet sich auch bei Bruckner - übrigens an genau entsprechender Stelle, nämlich bei der Einführung des Gesangsthemas; allerdings erscheint in Bruckners großer Symphonie ein völlig anderes Klangbild als in Schuberts Kammermusik. Bruckner markiert den triumphalen Schlußton seiner mächtigen sinfonischen Überleitung dadurch, daß er ihn, nach dem letzten Tutti-Akkordakzent, im Hornklang länger aushalten und so zur Ruhe kommen läßt. So bereitet dieser lange Ton den Weg für den Einsatz des Gesangsthemas.

Z: IV 1 Neufassung Einsatz Tutti bis Seitensatz (aufhören vor Ges-Dur oder vor lauter Forts.)

z. B. Furtwängler 1´30 Tutti mit Brucknerrhythmus - (vor 2´27 Ges leise) 2´35 laut

evtl. länger: rasch ausblenden nach 3´22 - Einsatz Orgelpunkt, Schlußsteigerung

Bruckners hommage à Schubert in seiner "romantischen" Symphonie ist keine spontan hingeschriebene Reminiszenz, sondern ein Ergebnis gründlicher Durcharbeitung: Der lange Horn, der bruchlos zum Einsatz des Gesangsthemas überleitet, findet sich erst in einer überarbeiteten Fassung dieses Symphoniesatzes. In der ursprünglichen Fassung hatte Bruckner vor dem Gesangsthema noch mit markanten Akkorden definitiv abgeschlossen - ohne den weiterklingenden Hornton, mit kräftigen Akzenten und und Generalpause.

Z: IV 1 1. Fassung Inbal 1´33 - (vor 2´23 Ges-Dur leise) (nach 3´07 rasch abbl. Orgelp.) 3´33 GP

oder evtl. Urfassung Gielen

Wenn man der Frage nachgeht, was der Symphoniker Bruckner von Franz Schubert gelernt hat, sollte man unter Schuberts Werken nicht nur die Symphonien studieren, sondern vor allem auch die Kammermusik. Von dieser aus ergeben sich, vor allem in den harmonischen Wendungen, oft tiefere Zusammenhänge als dann, wenn man nur die Symphonien beider Komponisten miteinander vergleicht. Allerdings lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Symphonikern entdecken - unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaße sich hier von Bruckner bewußt verarbeitete Einflüsse nachweisen lassen. Der lange, ausdrucksvolle Ton beispielsweise, der in den Beginn des beruhigenden Seitensatzes führt, findet sich auch in Schuberts Orchestermusik: Er erscheint, als breit ausgespielter Hornton, im ersten Satz der unvollendeten h-moll-Symphonie - hier allerdings noch in anderen Harmoniewendungen als beim späten Schubert oder später bei Bruckner.

Z: Unvollendete 1. Satz Schluß Überleitung - Anfang SS

54´´ letzter Steigerungsansatz (1´04 Eins. Hornton) bis Generalpause 1´48 Groves

Bruckner hat vieles von Schubert gelernt - nicht nur die harmonische Belebung des Tones, sondern auch die harmonisch farbenreiche Führung einer weit gespannten Gesangsmelodie. In großen Bögen geführte Gesangsmelodien finden sich vor allem in Schuberts Spätwerk. Schubert löst sich hier aus der klassischen Tradition, ein neues Thema vorzustellen und im unmittelbaren Anschluß daran nur einmal zu wiederholen, und zwar in derselben Tonart. Schubert hat neue Wege gefunden mit Verfahren, die sich in der klassischen Tradition nur selten finden lassen: Er läßt ein Thema (auch in verarbeiteter Form) häufiger wiederkehren - und er verändert dabei auch die Tonart.

Z: Schubert, Streichquartett D, op. 163, D 887: SS (+Schlußsatz).

moderne Aufnahme, möglichst Amadeus

notfalls Busch: 2´ nach GP G-Dur bis 5´ Einsatz Baßtremolo (schnelle) -

und/oder Streichquintett ab 1´28 G-Dur (1´43 Ton g) bis( 4´08 1. Ton Schls oder) 4´33 vor G f

Vor allem in seinen Gesangsthemen hat Schubert neue Ansätze gefunden, die sich vom Vorbild Beethovens lösen. Dabei hat er Lösungen gefunden, die in manchen Aspekten auf Bruckner vorausweisen beispielsweise im späten Streichquintett C-Dur, (an das später Bruckner anknüpft mit seinem Streichquartett F-Dur.

evtl. Z: Gesangsthema 1. Satz Streichquintett Gesangsthema in wechselnden Tonarten)

1´27 C-Dur, 1´51 As-Dur, 2´09 Ges-Dur, 2´28 Rückauflös: C (aufhören vor 2´39: Überl.)

Wie weit Schubert und Bruckner sich in ihren Gesangsthemen von Beethoven entfernen, läßt sich im Vergleich verdeutlichen: Beethoven bevorzugt in seinen Seitensätzen nicht die weitgespannte Gesangslinie, sondern den häufigen Wechsel der Motive zwischen verschiedenen Instrumenten. In seinen Seitensätzen beruhigt sich die Musik allenfalls vorübergehend, um anschließend rasch wieder zu neuen Steigerungsentwicklungen überzugehen.

Z: Be I 1, Seitensatz Anf. bis Exp. Ende: Davis ab 2´24, bis 3´37 1. Ton Exp-Wiederhol.

Bruckner folgt den Spuren Schuberts, wenn er in den Gesangsthemen seiner Symphonien weit geschwungene, harmonisch vielfältig beleuchtete Melodielinien gestaltet - beispielsweise im 1. Satz seiner 3. Symphonie.

Z: III 1 Gesangsthema 1. Fassung

Das Gesangsthema im ersten Satz der 3. Symphonie, die in d-moll geschrieben ist, beginnt schulgerecht in der parallelen Durtonart F-Dur. Im Folgenden aber zeigt sich, daß Bruckner von den Schulregeln abweicht und eigene Tonartenabläufe erfindet - im Geiste Schuberts. Bruckners Thema wiederholt sich mehrmals in stets wechselnden Tonarten. Den überraschend neuartigen harmonischen Bauplan erkennt man, wenn man die verschiedenen Themenanfänge miteinander vergleicht: Sie stehen in verschiedenen, chromatisch miteinander verwandten Tonarten. Beim zweiten Mal setzt das Thema einen Halbton höher ein als zuvor, beim dritten Mal einen Halbton tiefer; erst danach kehrt das Thema wieder in die Ausgangstonart zurück.

Z: III Gesangsthema Anfänge: F - Ges, E - F

Im letzten Satz von Bruckners dritter Symphonie wird noch deutlicher, wohin seine reichen, an Schubert und Späteren geschulten Harmoniewendungen führen: Zu einem quasi-unendlichen melodischen Liniengeflecht, das sich entwickelt in völliger Eigenständigkeit gegenüber Konzepten der "unendlichen Melodie", wie sie sich bei Richard Wagner finden. Bruckner findet andere Ansätze einer quasi unendlichen Melodik: immer wieder neu ansetzend, sich erfüllend und verwandelnd.

Z: III 4 1. Fassung SS 1´01 - 4´02

In Musik, wie sie Bruckner im Gesangsthema des Finalsatzes seiner 3. Symphonie erfunden hat, zeigt sich er stmals eine neue Perspektive des Komponierens und Hörens - eine Vision von Klangereignissen, wie sie erst im 20. Jahrhundert in Worten beschrieben werden konnten: Die Erscheinung von Klangereignissen, "die immer schon angefangen haben und unbegrenzt so weitergehen könnten." Mit diesen Worten hat 1960 Karlheinz Stockhausen die Aufmerksamkeit auf neue musikalische Perspektiven gelenkt, die gleichwohl bei Bruckner schon vorgeprägt sind: "Momentformen" nannte Stockhausen solche musikalischen Verläufe, die scheinbar das Zeitbewußtsein aufheben und sich ohne Anfang und Ende präsentieren.

Im finalen Gesangsthema seiner dritten Symphonie komponiert Bruckner Musik, die in sich ruht - Musik von einer inneren Ausgeglichenheit, die deutlich kontrastiert zu den mächtig ausladenden Steigerungsentwicklungen, wie sie Bruckner sonst so häufig verwendet.

An den breit ausgestalteten Ruhezonen seiner Musik hat Bruckner nicht weniger intensiv gearbeitet als an der Dynamik seiner großen sinfonischen Wellen. So erklärt es sich, daß er, als er seine 3. Symphonie überarbeitete, in einer zweiten Fassung auch den Gesangsabschnitt des letzten Satzes veränderte - in stärkerer Durchbildung und Konzentrierung der Details.

Z: III 4 2. (evtl. 3.) Fassung Gesangsthema (Kubelik, evtl. Jochum)

Im Schlußsatz von Bruckners 3. Symphonie erscheint eine Polyphonie völlig neuer Art: Man hört gleichzeitig einen Tanz und einen Chora - weltliche und geistliche Musik, deutbar auch Symbole des Lebens und des Todes. Verschiedene Musikstücke verbinden sich zu Musik höherer Ordnung - nicht nur verschiedene Tanzmusiken wie in Mozarts "Don Giovanni", sondern zwei vollkommen unterschiedliche Musikarten - in ähnlicher Weise, wie es später andeutungsweise bei Gustav Mahler und in voller Komplexität bei Charles Ives und John Cage geschieht. Dieser Ansatz ist auch für Bruckner selbst singulär geblieben. Er weist, auch über Bruckner hinaus, weit in die Zukunft.

Bruckners Choräle sind nicht nur religiöse Symbole, sondern auch Auseinandersetzungen mit aktueller Musik seiner Zeit - vor allem mit einem Werk Richard Wagners, das für Bruckner zum Schlüsselerlebnis geworden ist: Tannhäuser.

Z: Tannhäuser-Ouv bis 5´09 gis-fis dim

Richard Wagners choralartiger Pilgerchor präsentiert sich unzweideutig als religiös-szenisches Symbol: Schon das Orchestervorspiel soll, ähnlich wie eine Programmusik, die akustische Illusion eines Pilgerzuges erzeugen, der sich nähert und später wieder entfernt. So artikuliert sich zunächst in instrumentaler Vorahnung, was sich später erfüllt in Verbindung mit Text, Gesang und Szene: Die Erlösung des reuigen Tannhäuser aus der Gewalt des Venusberges. Der Schluß der Oper wird zu einer Apotheose, die alle verfügbaren Mittel des Klanges, der Darstellung und des Ausdrucks in einer umfassenden Synthese zusammenfaßt.

Z: Tannhäuser Schluß Pilgerchor-Apotheose

Wagners Lösung, der Durchbruch von der Instrumentalmusik zum Musiktheater, konnte für Bruckner kein Modell sein. Für waren, anders als für Richard Wagner, trotz Beethovens neunter Symphonie die Mittel der rein instrumentalen Musik noch keineswegs erschöpft - und er hat mit seiner sinfonischen Musik ja sogar Wagner überzeugt. - Offensichtlich ist allerdings auch, daß Bruckner sich von Wagners organisch entwickelndem Musikdenken hat beeinflussen lassen - in thematischen Entwicklungen, die auf verschlungenen Wegen von ersten leisen Andeutungen schließlich zur monumentalen Apotheose führen. Anregungen hierfür konnte Bruckner aus vielen Werken Wagners gewinnen - beispielsweise aus dem Fliegenden Holländer.

Holländer: Schlußapotheose Ouverture (Pl) Endfassung Ouv

Auch für Wagner ist es typisch, daß er bestimmte Formentwicklungen in mehreren Fassungen auskomponiert hat.So gibt es beispielsweise den Schluß seiner Ouverture zu "Der fliegende Holländer" nicht nur in der endgültigen, bereits auf den Tristanstil vorausweisenden, milde ausklingenden Fassung, sondern auch, in früherer Fassung, als markant ausklingende Apotheose. Gerade diese frühe Fassung steht den späteren Apotheosen Bruckners besonders nahe.

Holländer: Schluß 1. Fassung

Bruckners Auseinandersetzung mit Wagner hat viele Facetten. Ein besonders wichtiger Aspekt ist die Gestaltung seiner Schlüsse. Im Finale seiner dritten Symphonie, die Richard Wagner gewidmet ist, hat Bruckner eine Apotheose komponiert, die, im Gesamtverlauf der Symphonie vielfältig vorbereitet, zu einer überzeugenden Huldigung an Wagner gerät (- und dies jenseits aller vordergründigen Wagner-Zitate, die Bruckner offensichtlich als weniger wichtig ansah und deswegen teilweise in spätereren Fassungen wieder entfernt hat). Bruckners Finalschluß ist ein Beispiel produktiver Auseinandersetzung mit aktueller Tradition und aus der Tradition gespeister Aktualität.

Z: III 4 Finale, Länge je nach Sendezeit

Bruckners Musik im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aktualität - Bruckners Musik in der Auseinandersetzung mit Richard Wagner: Beide Aspekte hängen - in schwer auflösbarer Weise - miteinander zusammen. Dies erklärt viele Schwierigkeiten, das Verhältnis zwischen Bruckner und Wagner genauer zu bestimmen: Einerseits ist unbestreitbar, daß die Auseinandersetzung mit der Musik Wagners für Bruckner entscheidend war im vielleicht wichtigsten Stadium seiner kompositorischen Entwicklung - in den frühen 1860er Jahren, als er den Weg von instrumentalen Studienwerken zur Komposition großer Messen und Symphonien fand. Andererseits läßt sich keineswegs behaupten, daß Bruckner in damals zum unselbständigen Nachahmer geworden wäre. Wagner war für ihn ein entscheidender Anreger, aber keineswegs ein nachzuahmendes Vorbild - und es ist bemerkenswert, daß Wagner offensichtlich gerade das zu schätzen wußte. Bruckner hat einen Kompositionsstil gefunden, der es ihm erlaubte, als Wagnerianer gleichwohl Messen und Symphonien zu komponieren. Sein Bekenntnis zu Wagner muß deutlich unterschieden werden von der Bestimmung seines kompositorischen Standortes. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Bruckners dritter Symphonie. Daß dieses Werk Wagner zugleich nahe und fern steht, zeigt sich wohl nirgends deutlicher als in den Wagner-Zitaten, die Bruckner in verschiedenen Sätzen in seine Komposition eingefügt hat. Daß die Zitate für die Endgestalt dieser Wagner gewidmeten Symphonie nicht von entscheidender Bedeutung sind, zeigt sich schon daran, daß in Wagners Widmungsexemplar, einer Partitur der ersten Fassung, einige Wagner-Zitate zu finden sind, die Bruckner in späteren Fassungen wieder entfernt hat. Aufschlußreich ist, daß diese Zitate sich nicht an markanten Höhepunkten in triumphaler Lautstärke finden, sondern in Episoden der Zurückhaltung und Beruhigung nach dem Höhepunkt einer Steigerung.

Z: III 1. Fassung 13´52

Seitensatz-Steigerung -

Beruhigung (Pk-Wirbel):

Tristan-Liebestod 14´24 - 14´39, (II 1) 14´40 - 15´03, Walküre 15´04 - 15´36, Rückl. -16´07

Die Durchführung des ersten Satzes der dritten Symphonie mündet in einer markanten Steigerung. Nachdem der Höhepunkt dieser Steigerung erreicht ist, beruhigt sich die Musik und leitet zur Wiederkehr des Hauptthemas zurück. In der ersten Fassung dieser Symphonie hat Bruckner in das Stadium der Beruhung und Rückführung zwei Passagen einbezogen, die als Wagner-Reminiszenzen gehört werden können. In der ersten Passage erscheint eine Anspielung relativ undeutlich - verändert in Klangbild und Formdynamik.

Z: III 1, 1. Fassung: Tristan-Liebestod (Höre ich nur diese Weise)

Diese Stelle läßt sich hören als ferne Erinnerung an die Schlußszene aus "Tristan und Isolde". Wenn man sie mit Wagners Tristan vergleicht, wird allerdings auch deutlich, wie stark Bruckner sich selbst im Zitat entfernt von Wagners Musik.

Z: Tristan Schluß ab Isolde: "Höre ich nur diese Weise"

Wagners "Tristan" und Bruckners dritte Symphonie sind in ihrem Ausdruckscharakter so grundverschieden und die Unterschiede sind selbst im möglichen Zitat so erheblich, daß man daran zweifeln kann, welchen Sinn es macht, an dieser Stelle eine Wagner-Reminiszenz zu identifizieren. Für Formzusammenhang und Ausdruckscharakter in Bruckners Symphonie ist es offenbar wichtiger, daß er hier eine breit ausschwingende Beruhigung komponieren wollte - mit einem Motiv, das vielleicht als Zitat zu verstehen ist, das aber jedenfalls auch Bruckners eigene Handschrift erkennen läßt.

Der Beruhigungsprozeß am Ende von Bruckners Durchführung setzt sich fort mit einer weiteren Passage, die als Wagner-Zitat gehört werden kann.

Z: III 1, 15´04 - 15´36 (bis F-Dur-Kadenz, aufhören vor Pk-Wirbel) Zitat Walküre Schlafmotiv

Das zweite Wagner-Zitat ist klarer identifizierbar als das erste: Es ist das Schlafmotiv aus dem dritten Akt der "Walküre".

Z: Die Walküre 3. Akt: Schlafmotiv

Auch das Zitat aus der "Walküre" hat Bruckner verändert und in den harmonischen Bauplan seiner Symphonie eingepaßt. Dennoch bleibt es bei Bruckner erkennbar. Als Symbol der Beruhigung erschien es ihm offensichtlich in der ersten Fassung wichtig genug, um an zwei verschiedenen Stellen der Symphonie Verwendung zu finden. Es erscheint auch kurz vor Schluß des zweiten Satzes - wiederum als Symbol der formalen und expressiven Beruhigung

Z: III 2, 2. Fassung (ab 16´43 Schluß-Welle mit Beruhigung)

ab 17´32 Zitat Walküre Schlafmotiv (ab 17´54 Wiederkehr Hauptthema) (ab 18´16 Th in Es)

Auch dann, wenn Bruckner Wagner zitiert, findet er anschließend immer wieder zur Prägnanz seiner eigenen Themen zurück. Sein Verhältnis zu Wagner ist die wohl eindrucksvollste Konkretisierung seines Verhältnisses zu Tradition und Gegenwart: Das Tradition Vorgefundene - auch das Erbe der aktuellen Musik seiner eigenen Zeit - ergreift Bruckner, um es einzuschmelzen in neue musikalische Zusammenhänge, die in die Zukunft weisen.

Z: III 2 1. Fassung Schlußwelle ab 16´43 - 18´52

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