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7.15 Diesseits und jenseits der neuen Musik


Rudolf Frisius

MUSIQUE CONCRÈTE (I)

Diesseits und jenseits der Neuen Musik

Wandlungen der Musik und des musikalischen Hörens

Z: Schaeffer: Pochette surprise (Ausschnitt Schott-CD: take 1)

55´´

Was ist konkrete Musik? Gefällt diese Musik dem Hörer oder nicht?

Pierre Schaeffer, der 1948 diese Musikart begründet

und die Leitung ihres ersten Produktionsstudios übernommen hat,

hat in einem kleinen Hörspot, der 1952 entstanden ist,

vorgeführt, wie schwierig diese Frage zu beantworten ist:

Man hört, wie verschiedene Musikausschnitte vorgeführt werden

und wie ein Mann seine Kommentare dazu abgibt:

Populäre Filmmusik und radikal avantgardistische Musik mag er nicht.

Er liebt das Volkslied in klassischer (oder auch pseudo-klassischer) Aufbereitung.

Als ihm aber schließlich konkrete Musik vorgeführt wird, bleibt er stumm:

Er kann nicht spontan sagen, ob ihm diese Musik gefällt oder nicht.

Statt dessen ist die Stimme des Autors Schaeffer zu hören:

Er fragt seinen Hörer nach dem Urteil über diese Musik. Die Antwort aber bleibt offen.

Deutlich wird allerdings, daß die konkrete Musik kein eindeutiges Profil hat:

Bald erscheint sie im radikal avantgardistischen Klangbild,

bald in rätselhaft subtilen, schwer zu bewertenden Klangstrukturen

als Lautsprechermusik, die sich nur schwer rubrizieren läßt.

Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der etikettierten Musik.

Besonders beliebt geworden sind etikettierende Unterscheidungen

zwischen dem eingängig Populären und dem sperrig Avantgardistischen.

In vielen Bereichen des Musiklebens dominiert Musik, die sich leicht einordnen läßt

und dies gilt nicht nur im Bereich der live dargebotenen,

in Aufführungen präsentierten Musik,

sondern vor allem auch für die über Massenmedien verbreitete Musik

für Musik auf Tonträgern, für Musik in Radio, Fernsehen und Film.

Es gibt viele Musik,

zu der der Hörer sich schon nach wenigen Sekunden eine Meinung bilden kann

sei sie positiv oder auch negativ.

Z: Aus pochette: Der dritte Mann Männerstimme: Oh non, non, pas ca!

4´´ - 12´´ (anfangen nach "Voulez vous... pochette surprise?")

Musik, die sich schon nach wenigen Sekunden identifizieren läßt, macht es dem Hörer einfach:

Er kann sich ziemlich leicht vorstellen, wie es weitergeht.

Wenn keine größeren Überraschungen zu erwarten sind, erleichtert ihm das die rasche Urteilsbildung.

Insofern ist er selbst dann zufrieden,

wenn er rasch herausfindet, daß die Musik nicht nach seinem Geschmack ist.

Dies zeigt Schaeffer zu Beginn seiner Hörszene:

Ein Hit aus der damaligen Zeit wird angespielt: Musik zum Film "Der dritte Mann."

Dann meldet sich ein französischer Hörer mit gehobenem Durchschnittsgeschmack:

Diese Musik ist ihm offensichtlich zu vordergründig populär, zu vulgär.

Die Fortsetzung der Szene zeigt dann aber, daß auch das andere Extrem ihm nicht gefällt:

Eine radikal avantgardistische konkrete Musik.

Z: Fortsetzung pochette: Antiphonie Männerstimme:... ce n´est pas possible!

12´´-20´´

Pierre Schaeffer, der französische Radiopionier, zeigt in dieser kleinen Hörszene,

daß Musik des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich klingen kann

daß z. B. auch die konkrete Musik

sich keineswegs immer auf rigorosen Avantgardismus festlegen läßt.

Andererseits bleibt unbestritten, daß Musik auch in extrem unterschiedlichen Erscheinungsformen

sich oft für einfache Etikettierungen anbietet.

Unter dieser Perspektive erscheinen marktgängige Massenmusik

und experimentelle Avantgardemusik wie zwei Seiten derselben Medaille

zumindest dann, wenn im einen wie im anderen Falle

die Musik so weitergeht, wie sie angefangen hat;

wenn der Hörer also rasch das passende Etikett finden

und sich seine Meinung dazu bilden kann.

Überraschende Vielfalt, die sich wirksam gegen voreilige, klischeebelastete Wertungen sperrt,

bleibt dennoch für konkrete Musik ein hohes, allerdings schwer erreichbares Ideal.

Pierre Schaeffer hat in seiner Radioarbeit schon frühzeitig versucht,

etablierte Abgrenzungen zwischen verschiedenen Sektoren des Musiklebens aufzubrechen.

und dabei auch dem scheinbar Bekannten neue Seiten abzugewinnen.

Er ging davon aus, daß hierfür die Arbeit in einem modernen Massenmedium wie dem Radio

wichtige Ansatzmöglichkeiten bietet

zumindest dann, wenn die Radioprogramme über die etablierten Spartentrennungen hinausführen;

wenn also Musik gesendet wird, die von den spezifischen

Produktions- und Verbreitungsmöglichkeiten des Radios Gebrauch macht.

Deswegen hat Schaeffer im Rundfunk Musik realisiert,

obwohl er eigentlich kein professionell ausgebildeter Komponist,

sondern gelernter Radioingenieur war.

Überdies hat er schon frühzeitig Sorge dafür getragen,

daß in seinem Studio auch Musiker arbeiten konnten,

die nicht unbedingt den Standards eines professionellen Avantgarde-Komponisten entsprechen.

Dies kümmerte ihn nicht, sofern nur sichergestellt war,

daß in seinem Studio medienspezifische Musik produziert wurde,

die anders klingt als live Gesungenes und Gespieltes:

Konkrete Musik als radiophon produzierte Lautsprechermusik.

Eines der ersten Beispiele dieser spartenübergreifenden Medienmusik

war eine Produktion, zu der Pierre Schaeffer 1951

den Jazzexperten André Hodeir in sein Studio eingeladen hatte.

Dieses Stück läßt sich beschreiben als Musik zweiten Grades:

Komponiert sind nicht notierte, von Interpreten klanglich zu realisierende Klänge,

sondern Aufnahmen gespielter Jazzmusik, die sich verbinden

mit verfremdeten, im Studio produzierten Klängen.

So erscheint scheinbar wohlbekannte Jazzmusik in neuartigen Zusammenhänge,

z. B. ein vom Komponisten ausnotiertes Klaviersolo

und ein Tutti mit Passagen von Trompete, Kontrabaß und Schlagzeug.

So entsteht eine Musik mit zwei Gesichtern, auf die auch der Doppeltitel verweist:

"Jazz et Jazz"

Musik im Niemandsland zwischen improvisierten und komponierten,

zwischen live gespielten und technisch produzierten Klängen.

Z: Hodeir, Jazz et Jazz 3´02 (1951) vollständig

"Jazz et Jazz", Aufnahmen gespielter und technisch produzierter Klänge, verbindet André Hodeir 1951 in einer Produktion, die sich nur schwer klassifizieren läßt. Sie paßt weder zu den standards der Jazzmusik noch zu denen der Neuen Musik. Klangkunst aus dem Lautsprecher artikuliert sich hier als ästhetische Grenzüberschreitung: Musik zwischen E und U, zwischen konventionellem Jazz und experimenteller Moderne.

Was André Hodeir 1951 mit Jazzmusik versuchte, hat 1969, fast zwei Jahrzehnte später, Bernard Parmegiani auf den Bereich der Popmusik übertragen. Auch er hat seine Absicht programmatisch schon im Werktitel deutlich gemacht. Das Stück heißt "Popeclectic". Bei der kompositorischen Ausführung geht Parmegiani allerdings noch einen Schritt weiter als Hodeir: Ihm geht es nicht nur um eine einzige Musikart und um ihre Konfrontation mit technischen Klängen. Wichtiger erscheint im der Versuch einer umfassenden klanglichen Integration: Popularmusik wird hier bruchlos eingeschmolzen in ein umfassendes Klangkontinuum. Man hört nicht nur an Popmusik erinnernde Schlagzeugrhythmen und Synthesizerklänge, sondern auch Anklänge an klassische Musik und sogar an Alltagsklänge: an Motorgengeräusche.

Z: Parmegiani, Popeclectic, DAT Sequenzen take 26, 2´23

Lautsprechermusik, die sich über die Grenzen vorgegebener Musikarten hinausbegibt, kann sich verwandeln in "Musik im weiteren Sinne": Als technisch produzierte Allklang-Kunst, als deren Material sogar vorgegebene, musiksprachlich und stilistisch vorfixierte Musik dienen kann, die sich vielfältig weiterverarbeiten läßt in Montagen, Klangveränderungen und Mischungen. Diese Musik präsentiert zugleich das Bekannte um Unbekannten und das Unbekannte im Bekannten. Es ist dabei zu vielfältigen Grenzüberschreitungen zwischen populärer und avantgardistischer Musik gekommen. In diesem Kontext einer grenzüberschreitenden Musik konnten neuartige experimentelle Klänge auch weitere Publikumsschichten erreichen, die bis dahin mit Neuer Musik wenig in Berührung gekommen waren. Eines der bekanntesten Beispiele für solchen Avantgarde-Pop (bzw. für solche Pop-Avantgarde) ist eine 1967 entstandene Produktion, in der der Tonbandmusiker Pierre Henry und der Popmusiker Michel Colombier zusammenarbeiteten: "Messe pour le temps présent" ("Messe für die gegenwärtige Zeit"). Als Ballettmusik für Maurice Béjart, aber auch als Schallplatte und als Musikkonserve für die juke box wurde diese Musik außerordentlich populär. Eine ihrer Nummern erschien interessant und eingängig genug, um lange Zeit als Erkennungsmusik einer Abendsendung des Südwestfunks zu fungieren: der "Jéricho Jerk".

Z: Henry, Messe pour le temps présent, Jéricho Jerk (SWF-Kennmusik),

vollständig 2´26 (evtl. kürzer von Anfang, ausblenden je nach Sendezeit)

Eine der erfolgreichsten Schallplatten Neuer Musik, die später auch als CD herausgebracht worden ist, war die Kopplung der populären "Messe pour le temps présent" mit einer radikal experimentellen Tonbandkomposition: "Le Voyage" Musik nach dem tibetanischen Totenbuch von Pierre Henry. In dieser Komposition gibt es keinerlei Anklänge an Muster der Popularmusik. Dennoch ist sie in einer originellen und wagemutigen Schallplatten-Kopplung einem breiteren Publikum zugänglich geworden also Musik, die sich dem Stempel des angeblich Exklusiven, Unzugänglichen widersetzt.

Diese Lautsprechermusik stellt sich einem größeren Publikum, ohne sich dabei im mindesten anzubiedern.

Z: Henry: Le Voyage, take 10, Divinités irrités, 3´41 (evtl. nur Anfang, je nach Sendezeit)

Die 1962 entstandene Komposition "Le Voyage" von Pierre Henry ist klanglich radikale konkrete Musik, die gleichwohl weiteren Hörerkreisen zugänglich geworden ist. Sie steht in einer Tradition radikal-experimenteller konkreter Musik, die sich bis in die frühen fünfziger Jahre zurückverfolgen läßt als Musik, die zu ihrer Entstehungszeit mit heftigem Hörerprotest rechnen durfte.

Z: Pochette mit Antiphonie Henry und Männerstimme: ce n´est pas possible Schott 1, 12´´ - 20´´

Was in den frühen fünfziger Jahren manchen Hörer zu schockieren vermochte, hat auch am Ende des 20. Jahrhunderts seine provozierende Kraft noch nicht verloren. In knapp drei Minuten präsentiert sich das Stück "Antiphonie" als schroffe Absage an alle kulinarischen Hörerwartungen.

Z: Henry: Antiphonie. Les années 50, disque 2 take 6, vollst. 2´58

evtl. nur etwas längerer Ausschnitt von Anfang

In der Tonbandkomposition "Antiphonie" arbeitet Pierre Henry mit winzigen, minutiös geschnittenenen und kontrastweise montierten Fragmenten auf Tonband aufgenommener Klänge. Die kurzen Tonbandfragmente lassen häufig noch ihre ursprüngliche Herkunft erkennen zum Beispiel dann, wenn es sich um aufgenommene Stimm- und Sprachfetzen handelt. Andererseits ist aber auch unverkennbar, daß die Verarbeitung der Klänge, ihre Einbindung in rigoros durchkonstruierte Montagestrukturen, hier wichtiger ist als ihre ursprüngliche Herkunft. Dennoch bleibt die Musik janusköpfig: Die Klänge verleugnen nicht ihre Herkunft aus der alltäglichen Hörwelt, die zuvor in der Musik weitgehend tabuisiert gewesen war. Andererseits steht ihre anekdotische Herkunft in produktiver Spannung zu ihrer radikal konstruktiven Verwendung. Das Stück entstand zu einer Zeit, in der auch außerhalb des Pariser konkreten Musikstudios jüngere Komponisten Interesse an kompromißlos rigorosen musikalischen Konstruktionen gefunden hatten. Erste Anregungen hierfür hatte Olivier Messiaen schon vor 1950 gegeben. Einige seiner Schüler gingen noch weiter und entwickelten erste Modelle radikal durchkonstruierter serieller Musik. Einer der ersten unter ihnen war Pierre Boulez. Serielle Verfahren erprobte er zunächst in instrumentalen Werken, dann auch in der Arbeit mit konkreten Klängen. 1951, also in demselben Jahr wie Henrys "Antiphonie", entstand seine "Etude 1" für Tonband ein Werk, dessen gesamtes Material aus einem einzigen Ausgangsklang abgeleitet ist.

Z: Boulez, Etude 1. 2´25

DAT GRM février 1995, 14´07 16´32

Ende 1952 bekam auch Karlheinz Stockhausen Gelegenheit, in Schaeffers Studio eine konkrete Tonbandmusik zu realisieren. Auch seine Komposition verarbeitet aufgenommenes Material in strengen Reihenstrukturen, die durch mechanische Transposition und Bandschnitt genauestens reguliert werden.

Z: Stockhausen: Etude, Musique concrète. 3´15. Evtl. nur kurzer Ausschnitt von Anfang

Radikal durchkonstruierte, exponiert avantgardistische konkrete Musik entstand vor allem in den frühen fünfziger Jahren Musik aus präzis geschnittenen, montierten und (z. B. durch Transposition oder Rückwärtswiedergabe) veränderten Klängen. Besonderheiten im Klangbild dieser Musik ergaben sich daraus, daß rigorose, theoretisch exakt vorbestimmte kompositionstechnische Verfahren hier ausprobiert werden an aufgenommenen, der empirischen Realität entnommenen Klängen, die eigentlich sich gegen theoretische Vorausbestimmungen weitgehend sperren. So kann hörbar werden, daß Klänge, die sich im ursprünglichen Zustand frei artikuliert hatten, in der technischen Verarbeitung geradezu malträtiert erscheinen. Dieses paradoxe Spannungsverhältnis zwischen Klangmaterial und Kompositionstechnik kann beim Hören solcher Stücke extrem deutlich werden. Mit geradezu sarkastischer Schärfe hat dies Pierre Henry herausgearbeitet, als er 1952 seine "Vocalises" realisierte, die aus einem einzigen Gesangslaut abgeleitet sind, der dann aber in extremen Transpositionen mit Zeitraffer- und Zeitlupeneffekten vielfältig verzerrt und verfremdet wird.

Z: Henry: Vocalises Schott 14, 2´49 (evtl. ohne a zuBeginn wegschneiden)

Musique concréte im Sinne einer radikal durchkonstruierten Musik hat es nur in wenigen historischen Ausnahmesituationen gegeben. Viele Musiker, die dies zunächst in den frühen fünfziger Jahren versucht hatten, wandten sich bald wieder davon ab und gaben die konkrete Musik auf, um entweder wie Pierre Boulez zur Instrumentalmusik zurückzukehren oder wie Karlheinz Stockhausen theoretische Konstruktionen im Bereich der Arbeit mit synthetischen Klängen, in der elektronischen Musik zu erproben, die sich besser hierfür zu eignen schien. Es stellte sich dann relativ rasch heraus, daß seriell-konstruktives Musikdenken, das damals viele jüngere Komponisten lebhaft interessierte, sich nicht ohne weiteres aus der Instrumentalmusik in den Bereich der elektroakustischen Musik übertragen ließ. Insofern klingen die "Vocalises" von Pierre Henry aus heutiger Sicht wie ein Adieu an eine in allen Details fixierte serielle Tonbandmusik als auskomponierte Paradoxie, vergleichbar der fast gleichzeitig entstandenen Tonbandcollage "Williams Mix" von John Cage, deren Klang- und Zeitorganisation sich aus der Synthese von strukturierendem Denken und Zufallsmanipulationen ergibt. Bei Cage zeigt sich, wie auch in anderer Weise bei Henry, das schwierige Spannungsverhältnis zwischen Zufälligkeit und Vorherbestimmung in der elektroakustischen Musik.

Z: Cage: Williams Mix. Retrospective. CD 3, take 2, 5´43 (Anfang) Länge je nach Sendezeit

Die konkrete Musik ist entstanden als Kunst der aufgenommenen, technisch verarbeiteten und über Lautsprecher wiedergegebenen Klänge.

Um ihr Wesen genauer zu ergründen, empfiehlt sich die genauere Bestimmung ihres Verhältnisses

nicht nur zur gegenwärtigen, sondern auch zur traditionellen Musik.

Dieses Verhältnis hat Pierre Schaeffer in eigenwilliger Weise charakterisiert,

als er 1952 in seinem Hörspot "Pochette surprise" darstellte,

wie ein Hörer einerseits auf traditionelle Musik reagiert,

anderseits auf konkrete Musik, die sich vom eindeutig Avantgardistischen entfernt.

Z: pochette Klassik konkrete Musik

Schott 1, 20´´ - 55´´

Der Schauspieler Jean Toscane, der in diesem Hörspot die Rolle des Radiohörers spielt,

ist erst dann zufrieden, wenn traditionelle Musik erklingt:

Ein französisches Volkslied,

gesungen von einer Belcanto-Sängerin mit Klavierbegleitung,

findet sein uneingeschränktes Lob.

Es ist das erste Musikbeispiel, das nicht unter Protest abgebrochen wird, sondern sich fortsetzt.

Allerdings verändert sich die Musik:

Zuerst wird das Lied kurz variiert.

Dann wechselt die Musik:

Man hört hohe, zwitschernde Klänge, die anders sind als alles vorher Gehörte.

Pierre Schaeffer fragt seinen Hörer, ob ihm nun diese Klänge gefallen oder nicht.

(evl. Nochmals Z: pochette Ah vous dirai-je maman, Melodie

Variation; hoch zwitschernde konkrete Klänge

Frage Schaeffer: ... plaisant ou non?

20´´ - 55´´)

Pierre Schaeffer ist ein Pionier

neuer Radiokunst und einer neuen, mit radiophonen Mitteln arbeitenden neuen Musik.

Voreilige Etikettierungen, denen solche und andere Musik oft ausgesetzt ist,

greift er auf, um sie in Frage zu stellen.

Deswegen interessiert er sich auch für Klänge und Klangstrukturen,

die sich nicht ohne weiteres einordnen lassen

für Musik, der man längere Zeit zuhören muß, um ihr Wesen zu ergründen;

für Musik jenseits der Abgrenzungen zwischem dem Populären und dem Avantgardistischen,

zwischen dem Altvertrauten und Neuartigen.

Seit den vierziger Jahren hat Schaeffer maßgeblich dazu beigetragen,

die musikalische Erfindung und das Hören von Musik

im Zeitalter des Lautsprechers grundlegend zu verändern.

Die neuartige Lautsprechermusik, die er produzierte,

hat ihn immer wieder dazu angeregt,

Neues genauer zu erforschen auch im Vergleich mit dem scheinbar Wohlbekannten.

In seiner letzten Komposition, die 1979 entstanden ist, ging er so weit,

seine eigenen Klänge zu infiltrieren in ein Präludium von Johann Sebastian Bach.

Z: Bilude CD Schott take 2, 2´15

"Bilude" ist eine Komposition für Klavier und Tonband.

Das Stück beginnt mit vier (vom Tonband erklingenden) Metronomschlägen,

die dem Pianisten den Takt angeben sollen.

Er beginnt, ein bekanntes Musikstück zu spielen:

Das c-moll-Präludium aus dem ersten Teil

des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach.

Er spielt zwei Takte und bricht dann ab.

Danach setzt das Tonband ein:

Man hört die zwei folgenden Takte

allerdings nicht auf dem Klavier, sondern auf dem Cembalo.

Wenn das Stück im Konzertsaal aufgeführt wird,

antwortet dem sichtbaren Klavierspieler also ein unsichtbarer Cembalospieler.

Dem live-Spiel auf dem modernen Klavier

folgt technisch konserviertes Spiel auf einem historischen Instrument, dem Cembalo.

Z: Bilude Anfang, Takt 1-4: 2 Takte Klavier 2 Takte Cembalo

0´´ (oder erst nach 4. Metronomschlag bei 2´´ beginnen) 12´´

Wechsel zwischen Klavier und Tonband finden sich auch im weiteren Verlauf,

jetzt aber in kürzeren Abständen zunächst im Wechsel von Takt zu Takt.

Vom Tonband sind jetzt nicht Cembaloklänge zu hören,

sondern technisch verfremdete, gleichsam verwackelte Klavierklänge.

Z: Bilude Fortsetzung mit taktweisem Wechsel, T. 5-8: Klavier live verwackelt, live verwackelt

13´´ - 23´´

Im Tonbandpart wird deutlich, daß die Musik sich von den live-Klängen entfernt:

Zu hören sind nicht gespielte, sondern technisch aufzeichnete, aufgenommene Klänge.

Im Folgenden wird dies noch deutlicher,

wenn die Musik sich mehr und mehr von Bachs Tonstrukturen löst

und wenn dann in Bachs Rhythmen nicht mehr Töne,

sondern verfremdete Töne oder sogar Geräusche zu hören sind:

In zunehmend kürzeren Abständen;

mit zunehmend stärker hervortretenden Tonband-Einschüben,

die bald länger werden als die Klavier-Fragmente

und schließlich sogar gleichzeitig mit dem Klavier zu hören sind.

Z: Bilude, Fortsetzung mit verfremdeten Tönen und Geräuschen,

bis 1. Zäsurton auf Orgelpunkt (ausblenden auf klappernden Stäben)

24´´ - 1´12 evtl. nur Tonband (DAT Hesse für Schott)

Sobald die aufgenommenen Geräusche gleichzeitig mit dem live-Klavierspiel zu hören sind, lösen sie sich endgültig vom Rhythmus des Bach-Präludiums:

Gleichzeitig mit der Steigerung, die in Bachs Präludium zu einem Orgelpunktton führt,

hört man sich beschleunigende Klänge eines Blechtellers.

Später werden die Geräusche noch wichtiger,

da sie die Musik nicht nur überlagern, sondern auch dabei verändern:

Jedes Mal, wenn der Orgelpunktton erreicht ist,

bleibt die Musik stehen,

und der ausgehaltene Klavierton überlagert sich dann mit Tonbandklängen.

Z: Bilude, Hinführung zum Orgelpunktton, umspielter Orgelpunkt

(ausblenden vor Einsatz der Stretta über ausgehaltenem Orgelpunktton),

accelerierend rotierender Blechteller

Tonbandeinschübe klappernder Stab, Impulse, mex. Flöte, Eisenbahn

53´´ (f-moll) bis vor Stretta 1´35

Am Schluß des Stückes erklingt die Musik Bachs gleichzeitig vom Klavier

und (teilweise mit verfremdeten, präparierten Klavierklängen) vom Tonband.

Hier wird vollends deutlich, daß selbst Bachs Notentext

die live gespielten und die aufgenommenen Klänge nicht zu vereinigen vermag:

Ein synchrones Miteinander beider Klangschichten gelingt nicht,

die Musik fällt auseinander.

Z: Bilude Schluß Stretta 1´35 2´15

Die kurze Tonbandkomposition "Bilude" läßt sich interpretieren als umfunktionierte traditionelle Musik: Eine vollständige traditionelle Komposition erklingt im antitraditionellen Kontext:

Nicht live gespielt im Konzert, auch nicht in einer die live-Atmosphäre suggerierenden technischen Aufzeichnung, sondern im Kontext von Klängen, die sich live im Konzertsaal nicht produzieren lassen. Das Stück präsentiert sich als ironisch-nostalgisches Eingeständnis dessen, daß beide Welten anscheinend miteinander unvereinbar sind die traditionelle live-Musik und die moderne technisch produzierte Musik. Bachs Musik ertönt gleichsam geklont als technisches Abbild des eigentlich technisch nicht Abbildbaren.

Die Tonbandklänge, die Schaeffer in Bachs Präludium einschiebt, sind Ausschnitte aus seinen eigenen Kompositionen.

Das älteste von Schaeffer zitierte Stück stamme aus dem Jahre 1948.

Es führt den Titel "Etude aux chemins de fer" (" Eisenbahn-Etüde").

Z: Etude aux chemins de fer, Schott take 5 (oder CD-Album Schaeffer)

von Anfang bis zum 2. Pfeifsignal bei 0´55

Das Stück beginnt scheinbar realistisch, wie ein Hörfilm:

Man hört einen Pfiff, dann eine anfahrende Dampflok.

Z: Eisenbahnetüde

Pfiff anfahrende Dampflok

0´´ - 0´15

Die Hörszene wird beendet durch einen Schnitt.

Anschließend hört man das Geräusch fahrender Waggons -

also andersartige Eisenbahnklänge, aufgenommen aus einer anderen Perspektive.

Z: Eisenbahnetüde

Fortsetzung: zusammenhängendes Waggon-Geräusch

16´´ - 21´´

Wenn diese beiden Hörszenen aneinandermontiert werden,

entsteht eine einfache Montagestruktur:

Die erste Einstellung zeigt, gleichsam als Außenaufnahme vom Bahnhof aus, den anfahrenden Zug;

die zweite Sequenz präsentiert, gleichsam als Innenaufnahme im Zug, den Zug in Fahrt.

Z: Eisenbahnetüde: Montagestruktur Anfahren (Dampflok) Zug in Fahrt (Waggongeräusche)

0´´ - 21´´

Im größeren Zusammenhang des Stückes wird deutlich,

daß die Aufmerksamkeit des Hörers sich Schritt für Schritt verlagern kann:

von realen, hörspielartigen Geräuschen zu eher musikalischen Klangstrukturen.

Dieser Prozeß wird vor allem dadurch deutlich,

daß sich die Montage-Einheiten Schritt für Schritt verkürzen:

Man hört über längere Zeit hinweg, wie die Lok anfährt.

Dann hört man für kürzere Zeit Waggongeräusche des fahrenden Zuges.

Anschließend geht das Stück über zu noch kürzeren, musikalisch strukturierten Montage-Einheiten:

Man hört zwei verschiedenartige, rhythmisch profilierte Waggongeräusche

in einer Art Wechselmontage.

Ursprünglich hatte Schaeffer geplant, die Wechsel zwischen diesen Geräuschen

nach einem einfachen musikalischen Schema zu organisieren

mit zunehmend kürzeren Zeiteinheiten:

4 4, 3 3, 2 2, 1 1.

Z: Soirée Schaeffer, Waggonrhythmen ursprüngliches Schema

aus Soirée Schaeffer SWF (evtl. mitzählen, evtl. links-rechts-Verteil. der Wechselmontage)

Später wurde diese schematische Abfolge durch Schnitt verkürzt,

so daß die prozeßhafte Veränderung in der Wechselmontage schließlich rascher ablief.

Z: Eisenbahnetüde, Montagestruktur mit Waggonrhythmen

4 4, 3 3, 1 1 (Schnitt vor Einsatz der Kolbengeräusche)

21´´ - 44´´

Nach dem Anfahren der Dampflok und nach den Waggonrhytmen

hört man in Schaeffers Eisenbahnetüde Kolbenstöße.

(Dies geschieht in einer Passage, die Schaeffer mehr als drei Jahrzehnte später

in seiner Abschiedskomposition "Bilude" nochmals als Souvenir zitiert).

Schaeffer hat deutlich gemacht, daß er mit diesen Geräuschen

hier nicht die Illusion einer realen Zugfahrt suggerieren wollte,

sondern daß er diese Geräusche hier aus musikalischen Gründen eingeführt hat:

Als Kadenz als Abschluß einer Montage-Sequenz.

Der Abschluß ist deutlich erkennbar,

weil anschließend ein neuer Pfiff zu hören ist

als Eröffnungssignal für eine neue Hörsequenz.

Z: Eisenbahn-Etüde

Kolbenstöße Pfiff (und eventuell anschließend Forts. Bis 1´08, Schluß Schott take 5)

45´´ - 55´´ (Pfiff) oder 1´08 (Ende Ausschnitt Schott take 5)

Schaeffers Eisenbahn-Etüde ist weder ein pseudo-realistisches Hörspiel

noch eine traditionelle Programmusik.

Sie ist vielmehr Klangkunst in einem Zwischenbereich zwischen Hörspiel und Musik.

Schaeffer selbst hat diese Studioproduktion interpretiert

als erstes Beispiel einer neuen Musikart, für die er selbst einen Namen gefunden hat:

Musique concrète Konkrete Musik.

Von herkömmlich komponierter Musik

unterscheiden sich Schaeffers Produktionen konkreter Musik dadurch,

daß sie nicht als Partitur fixiert sind, die von Interpreten ausgeführt werden muß,

sondern daß der Komponist selbst sie im Studio klanglich realisiert.

Diesen neuen Ansatz des Komponierens beschreibt Schaeffer

als radikalen Perspektivwechsel als Übergang von der abstrakten zur konkreten Musik.

In einem 1949 entstandenen theoretischen Text schreibt er:

Die beiden musikalischen Haltungen, die abstrakte und die konkrete,

lassen sich in exaktem Vergleich einander gegenüberstellen.

Wir wenden das Wort ´abstrakt´ auf die Musik im gewohnten Sinne an,

weil sie zuerst eine geistige Schöpfung ist,

dann theoretisch notiert wird

und schließlich in einer instrumentalen Aufführung ihre praktische Realisierung erfährt.

Unsere Musik haben wir ´konkret´ genannt,

weil sie auf vorherbestehenden, entlehnten Elementen einerlei welchen Materials

seien es Geräusche oder musikalische Klänge fußt

und dann experimentell zusammengesetzt wird

aufgrund einer unmittelbaren, nicht-theoretischen Konstruktion,

die darauf abzielt,

ein kompositorisches Vorhaben

ohne Zuhilfenahme der gewohnten Notation, die unmöglich geworden ist, zu realisieren.

Z: Eisenbahn-Etüde evtl. andere Fassung

Anfang oder Schluß Länge je nach Sendezeit Ausschnitt Schott 1´09

Die Entwicklung der Konkreten Musik,

die Pierre Schaeffer 1948 mit der Produktion seiner Eisenbahn-Etüde eingeleitet hat,

führte zu weitgehenden Veränderungen

vor allem in den Bereichen der musikalischen Komposition und des Musikhörens.

Entscheidend war hier, daß die musikalische Erfindung

nicht von einer mehr oder weniger abstrakten Klangvorstellung

oder vom Schreiben einer Partitur ausging,

sondern sich direkt bei der Klangrealisation im Studio konkretisierte.

So ließen sich auch neue Verbindungen

zwischen der musikalischen Erfindung und der allgemeinen Hörerfahrung knüpfen.

Die technischen Bedingungen und Möglichkeiten entwickelten sich

seit den fünfziger Jahren so rasch,

daß in späteren Entwicklungsstadien

auch schon früher bearbeitete Themen

auf einem veränderten Erfahrungsstand erneut aufgenommen werden können.

Dies zeigt sich auch beim Thema "Eisenbahn".

Dieses Themen behandelten,

unter anderen Perspektiven und unter veränderten technischen Gegebenheiten,

nach Schaeffer auch andere, jüngere Komponisten in späteren Jahrzehnten -

z. B. Bernard Parmegiani 1970 in seiner Tonbandkomposition "L´oeil écoute" ("Das Auge hört").

Z: Parmegiani: L´oeil écoute, Eisenbahnszene (Ausschnitt Schott: 1. Satz 3´30)

Wenn Bernard Parmegiani, mehr als zwei Jahrzehnte nach Pierre Schaeffer,

sich in seiner Lautsprechermusik wieder für Eisenbahnklänge interessiert,

dann geschieht dies unter deutlich veränderten ästhetischen und technischen Voraussetzungen:

Während Schaeffer sich noch damit begnügen mußte,

in einfachster Weise Fragmente von Schallplattenaufnahmen zu montieren,

verfügte Parmegiani über differenzierte Möglichkeiten

der Klangmischung und der klanglichen Verarbeitung.

So konnte er, anders als Schaeffer,

nicht nur kleingliedrige Montagestrukturen realisieren,

sondern auch größere Prozesse der Klangverwandlung.

Dabei veränderte sich auch das Verhältnis

zwischen der quasi-realistischen Verwendung von Klängen einerseits

und vorrangig klanglich-musikalischen Gestaltungsprinzipien andererseits.

In Parmegianis Stück führt dies so weit,

daß realistische Eisenbahngeräusche in raffinierten Mischungen und Verwandlungen

sich mehr und mehr in Musik verwandeln

daß anfangs Waggongeräusche im Vordergrund stehen,

später aber Schlagzeugrhythmen und Akkorde.

Auch diese Musik eignet sich offensichtlich nicht zur Einordnung in feste Rubriken,

sondern sie artikuliert sich im Niemandsland zwischen Bekanntem und Unbekanntem,

zwischen Montagen, Mischungen und Verwandlungen.

Z: evtl. Parmegiani Schluß

ab 2´02 Rauschklänge (oder evtl. ab 2´10 hoher Ton) 2´30 28´´

(Länge je nach Sendezeit)

Prozesse der Verwandlung von Eisenbahnklängen in Musik im engeren Sinne

realisiert auch Jacques Lejeune in seiner 1974 entstandenen Tonbandkomposition

"Rythme de parcours". Dieses Stück wechselt, in einer klar gegliederten, Schritt für Schritt klanglich verwandelnden Formentwicklung, zwischen Geräuschrhythmen und musikalischen Rhythmen, zwischen realistischen und fantastischen Klängen und Klangstrukturen.

Z: Lejeune: Rythme de parcours 1´14

Eine 1994 entstandene Eisenbahn-Musik von Christian Zanesi gestaltet das Thema in grundsätzlich veränderter Perspektive: Der Komponist hat sein Stück nicht aus vielen einzelnen Aufnahmen zusammengesetzt, sondern gleichsam aus einer einzigen Aufnahme herausmodelliert: Er geht aus von einer zusammenhängenden, rund 20minütigen Aufnahme eines fahrenden Metro-Zuges.

Evtl. Z: Zanesi, originale Aufnahme zu Grand Bruit (Metro auf CD) herunterblenden bis 1´30

Anhalten Stehen (spätestens weg bei neuem Geräuschimpuls vor 1´40) (oder Schluß 20´-22´)

Diese Aufnahme verarbeitet Zanesi ähnlich wie ein Bildhauer, der aus einem großen Steinblock eine Skulptur gestaltet. Auch in Zanesis Komposition, die den Titel "Grand Bruit" ("Großes Geräusch") führt, spielen offensichtlich die Möglichkeiten der zusammenhängenden, kontinuierlichen Klanggestaltung und Klangveränderung eine wesentliche Rolle.

Z: Zanesi, Grand Bruit, Schott take 7, 1´42 oder Extra-CD Zanesi take 2(evtl. Mini-CD Noetinger)

Eisenbahn-Geräusche sind exemplarische Geräusche des technischen Zeitalters.

Ihre klangliche und kompositorische Verarbeitung artikuliert sich in mehreren Kompositionen

als Modell der Auseinandersetzung

mit komplexen Erfahrungen der technisch geprägten Hörwelt.

Sie stellt sich damit in den Zusammenhang einer musikalischen Entwicklung,

die schon vor der Erfindung der konkreten Musik begonnen hat

und deren erste Ansätze weiter gewirkt haben auch bis in spätere Jahrzehnte hinein.

Der wohl wichtigste Komponist, der die Entwicklung der konkreten Musik einerseits vorbereitet,

andererseits in eigenen Produktionen vorangetrieben hat, ist Edgard Varèse.

In den 1954 entstandenen Tonband-Interpolationen zu seinem Orchesterstück "Déserts"

werden nicht nur Instrumentalaufnahmen verarbeitet, sondern beispielsweise auch Fabrikgeräusche als Klangsymbole einer Geräuschästhetik, deren Anfänge sich zurückverfolgen lassen bis in die Anfangsjahre des musikalischen Futurismus. Die fauvisitischen Geräusch-Montagen, die Edgard Varése in Zusammenarbeit mit Pierre Henry realisierte, markieren eine ästhetische Extremposition der konkreten Musik in den fünfziger Jahren.

Z: Varèse-Henry: Déserts, Ausschnitt aus 1. Tonband-Interpolation 47´´

In der 1961 entstandenen Tonbandkomposition "Turmac" von Edgard Carson erscheinen Fabrikgeräusche als das gesamte Stück beherrschendes Klangmaterial. Carson verarbeitet hier Maschinengeräusche aus einer Zigarettenfabrik. In der Studioarbeit bemühte er sich vor allem darum, komplexe Geräusche individuell zu profilieren durch charakteristische Filterungen also gleichsam aus einem scheinbar amorphen Ausgangsmaterial verschiedenartige Gestaltcharaktere herauszufiltern.

Während Edgard Carson sich vorwiegend für die "unbelebten" Maschinengeräusche interessiert, hat Luigi Nono deutlich gemacht, daß für ihn klangliche Erfahrungen mit Maschinengeräuschen eng verbunden sind mit komplexen Erfahrungen in der industriellen Arbeitswelt. Seine Komposition "La fabbrica illuminata" ist keine objektivierte Maschinenmusik, sondern expressive politisch engagierte Musik.

Z: La fabbrica illuminata, Ausschnitt Sequenzen

In der 1967 entstandenen Tonbandkomposition "Espaces inhabitables" von Francois Bayle erscheinen Fabrikgeräusche nicht als politisch geprägtes Klangmaterial, sondern

als Artikulationen klanglicher Energien und Energieverläufe.

Z: Bayle: Hommage à Robur, aus Espaces inhabitables, Schott 9. 2´17

1975 realisierte Pierre Henry eine Tonbandkomposition, die schon im Titel an die Geräuschästhetik der Futuristen anknüpft. Das Werk heißt "Futuristie". Auch in diesem Stück spielen Maschinengeräusche eine wichtige Rolle in prägnanten Montagestrukturen, die Verwandtschaften auch zu andersartigen Klang- und Musikfragmenten aufscheinen lassen.

Z: Henry, Futuristie: Machines vitesse

Als Kontrastmodelle zur Maschinenmusik lassen sich Produktionen beschreiben, die von Naturlauten ausgehen. In den ersten Jahrzehnten der konkreten Musik spielten hierbei Vogelstimmen eine wichtige Rolle. Ein erstes Beispiel hierfür findet sich in der 1950 entstandenen Komposition

"L´oiseau RAI", in der Pierre Schaeffer Vogelgesang aus einem Sendezeichen des italienischen Rundfunks verarbeitet.

Z: L´oiseau RAI, CD Schott take 10, 2´56

Auch in späteren Entwicklungsstadien der konkreten Musik sind Vogelmusiken entstanden beispielsweise 1963 in "L´oiseau chanteur" ("Der Singvogel") von Francois Bayle.

Z: L´oiseau chanteur. CD Schott take 11, 3´26

In " L´oiseau chanteur" arbeitet Francois Bayle mit Gesangsaufnahmen des brasilianischen Totenvogels Uirapuru und mit deren Imitationen durch Singstimmen und Instrumente (die hinter der mühelosen Virtuosität der Vogelstimmen zurückbleiben und so groteske Situationen provozieren, wie man sie andeutungsweise auch beispielsweise aus Richard Wagners "Siegfried" kennt). 8 Jahre später stilisiert Bayle den Vogelgesang mit elektronischen Klängen in der Komposition "L´oiseau Zen" ("Der Vogel Zen").

Z: L´oiseau Zen

(Jacques Lejeune hat eine konkrete Vogelmesse ("Messe des oiseaux") komponiert, in der er Vogellaute mit technisch veränderten menschlichen Stimmlauten verbindet. Menschen- und Vogelstimmen präsentieren sich im beziehungsreichen Kontrast.

Z: Lejeune, Messe des oiseaux)

Vogellaute und andere Naturlaute erscheinen, in subtilen und komplexen Klangmischungen, zu Beginn der 1985 entstandenen Tonbandkomposition "Sud" des in Südfrankreich lebenden Komponisten Jean-Claude Risset. Der Komponist schmilzt die Naturlaute ein in ein umfassendes Klangkontinuum, dessen Spannweite schließlich bis in den Bereich computergenerierter Klänge hineinwirkt und so die mit Naturlauten arbeitende konkrete Musik verbindet mit synthetischen Klängen.

Z: Risset Sud. Schott CD 12, 3´39

Konkrete Musik als Auseinandersetzung mit der Realität der Hörwelt

kann auch in Konfrontation geraten zu den Problemen politisch engagierter Musik.

Dies kann in ideologischer Kritik und Affirmation entstehen wie bei Luigi Nono,

aber auch in ideologischer Ambivalenz wie bei Francois Bayle.

Bayle hat 1969 ein Tonbandstück komponiert, in dem er bei den Pariser Maiunruhen 1968 aufgenommene Klänge konfrontiert mit unterhaltsamen Musikfetzen eines Gitarristen.

Klänge der Massen verbinden sich also mit individuellen musikalischen Äußerungen.

Kollektives und Individuelles stellen sich wechselseitig in Frage

in kräftig kontrastierenden, ironisch verfremdenden Klangwirkungen.

Z: Bayle Solitioude Ausschnitt Klett

In bestimmten politischen Situationen kann politisch engagierter Musik

die Funktion des kompositorisch gestalteten Zeitdokumentes zuwachsen.

Ein prägnantes Beispiel hierfür ist konkrete Musik eines deutschen Komponisten:

"Mein 1989" von Georg Katzer.

Dieses Werk verbindet aktuelle und historische Dokumentaraufnahmen

mit Sprache und elektronischen Klangdekors:

Konkrete Musik als Dokument der Zuwendung

zur hörbaren und politisch reflektierbaren Wirklichkeit.

Diese Musik stellt sich der Realität, ohne sich mit ihr abzufinden.

Z: Katzer Mein 1989 (längerer Ausschnitt je nach Sendezeit, mit Honecker-Zitat "Die Mauer...")

Konkrete Musik ist die Absage

an alle trügerischen Gewißheiten über das angebliche Wesen der Musik.

Ihre Musiker versuchen, die verwirrende Vielfalt

der bekannten und unbekannten, der dokumentarischen und imaginären Klänge

zum Sprechen zu bringen.

In dieser Musik geht es nicht darum, alte oder neue Klänge

vorgegebenen musikalischen Regeln zu unterwerfen.

Dieser technisch produzierten Musik steht potentiell

die unendliche Vielfalt aller Klänge zur Verfügung,

die sich aufnehmen oder synthetisch erzeugen

und, gegebenenfalls in klanglicher Verarbeitung,

konservieren und hörbar machen lassen.

Zu ihrem klanglichen Potential gehört also auch alle bereits existierende Musik,

sofern sie der technischen Konservierung und Verarbeitung zugänglich ist.

So entwickelt sich ein ambivalentes Konzept der Musik:

Einerseits erweitert sich ihr Areal

durch die Erweiterung der Tonkunst zur universellen Klangkunst

(unter Einbeziehung nicht nur beliebiger Geräusche oder Stimmäußerungen,

sondern auch beliebiger vorgefundener Musik).

Andererseits erweist Musik im bisher bekannten Sinne

sich als Spezialfall:

Klänge, die wir leicht als Musik identifizieren können,

werden hörbar in Verbindungen mit anderen Hörereignissen,

von denen wir vielleicht (noch) nicht wissen,

ob auch sie Musik sind

oder ob sie in Zusammenhänge hineinführen,

die über die Musik hinausreichen.

Wenn wir konkrete Musik hören,

dann kann uns auch an scheinbar altvertrauten Klängen deutlich werden,

daß wir eigentlich nicht wissen, was sie sind.

Evtl. Z:

Alternativen:

- Etude pathétique

- La reine verte, Deuxièmes insectes

- Hörclip: Daoust (Take 5): Mi bémol ausblenden bei 1´39 (vor leiser Forts.) oder 1´39 3´00

- Daoust-CD 2´38

- Hörclip take 6 Schryer: Anfang Steiterung und Rückentwicklung 0´´-1´19

oder nach 1´19-Schluß (mit Keuchen und Molldreiklang)

(Vinao Chant d´ailleurs)

Hörclip 21 Turcotte: Sich steigerndes Geräusch, Cdur,

leiser ab 1´04, 1´34 Vögel dazu, 2´02 Geräuschakzente

ab 1´18 Klangflächer, darüber Stimfragmente, Tärenknarren

Hörclip 22 Calon (mit Radio)

Verarbeitung von Geräuschen aus der technischen Arbeitswelt

Déserts

Turmac

La fabbrica illuminata

Espaces inhabitables

Machines vitesse, aus Futuristie

Vogellaute Naturlaute

L´oiseau RAI

Trois portraits d´oiseau

evtl. Messe des oiseaux

Risset, Sud

Verarbeitung von zeitgeschichtlich-dokumentarischen Aufnahmen

Solitioude

evtl. Katzer Mein 1989

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