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7.39 MESSIAEN - Im Brennpunkt musikalischer Traditionen


Rudolf Frisius

Olivier Messiaen

im Brennpunkt musikalischer Traditionen -

Olivier Messiaen

und die Musik des 20. Jahrhunderts

Ich fühle mich aller Welt und jedermann verbunden.

Ich war immer allein, vollkommen allein.

Dies waren die ersten Sätze, die Olivier Messiaen mir in einem Gespräch sagte, das ich im März 1982 mit ihm in Luxemburg führte. Messiaen antwortete damit auf meine Bitte, sich über seine Stellung als französischer Komponist zu äußern. Trotz meiner Frage vermied er es, seine Position im Kontext der französischen Musiktradition zu definieren. Sein Schweigen ist wahrscheinlich ähnlich zu deuten wie die explizite Antwort, die er 1977 gab, als Karin Ernst ihn nach seinem Verhältnis zur französischen Orgeltradition fragte - und als Messiaen ihr eine Antwort gab, die sich, auch über die Orgelmusik hinaus, von einer Festlegung auf die französische Tradition distanzierte. Damals sagte Messiaen:

Ich habe mich nie um die Tradition der französischen Orgelmusik gekümmert, auch nicht um die Tradition in anderen Ländern(...) Durch Zufall befinde ich mich auch in Paris, und wenn ich irgendwo anders geboren worden wäre, hätte ich andere Musik gemacht.

Wenn Messiaen es vermeidet, sein eigenes Werk, seine eigene Arbeit und sein eigenes historisches Denken selbst in weiter umfassende stilistische und historische Zusammenhänge einzuordnen, dann hängt dies möglicherweise auch damit zusammen, daß er den Aussagewert solcher und ähnlicher Versuche der Subsumtion gründlich bezweifelt. In einer Podiumsdission am 7. Dezember 1968 in Düsseldorf hat er sich hierzu mit folgenden Worten geäußert:

Ich glaube nicht, daß es jemals eine gemeinsame ästhetische Sprache geben wird, weder im Bereich der Nationen noch im kleineren Bereich der Komponisten und Kompositions-Schulen - das scheint mir utopisch zu sein... Die Ästhetik kann für die Komponisten nicht die gleiche sein - die Technik übrigens auch nicht.

Auch im Urteil über sich selbst geht Messiaen davon aus, daß die individuelle Positionsbestimmung und Profilierung des Künstlers wichtiger ist als der Versuch seiner musikologischen Klassifizierung. In diesem Sinne äußerte er sich am 25. Juni 1971 in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Praemium Erasmianum:

... Ich bin frei geblieben und gehöre keiner Schule an... Die Freiheit ist für die Künstler notwendig. Indem sie ihre Zukunft wählt, schafft die Freiheit neue Vergangenheit, und das ist es, was uns aufbaut. Das ist es auch, was den Stil des Künstlers, seine Eigenarten, seine Handschrift ausmacht...

Die Selbständigkeit und Freiheit, in der Messiaen sich selbst sieht und in deren Geiste er sich mit anderen großen Künstlern verbunden weiß, ist auch von anderen diagnostiziert worden - beispielsweise von André Boucourechliev. In seinem 1980 erschienenen Messiaen-Artikel in Grove´s Dictionary äußert er sich darüber mit folgenden Worten:

Er ist total unabhängig von allen Schulen oder irgenwelchen anderen Gruppierungen, aber er hat gleichwohl eine wichtige Rolle gespielt in der Entwicklung der modernen Musik von der Zeit vor dem 2. Weltkrieg bis zur Gegenwart - und zwar sowohl durch seine Werke als auch durch seine Lehrtätigkeit.

Die Paradoxie des einflußreichen Einsamen hat, in anderer Weise, auch Paul Griffith beschreiben. In "The New Oxford Companion to Music" schreibt er 1983 über Messiaen Folgendes:

Als führender französischer Komponist in der Generation nach Debussy und Ravel entwickelte er schnell einen sehr charakteristischen musikalischen Stil, der auf seinen begrenzt transponierbaren Modi und einem spekulativen Interesse am Rhythmus basiert, ferner auch auf seinem Verlangen, in der Musik die Wahrheiten des katholischen Glaubens auszudrücken. Obwohl diese Anliegen nicht von weiten Kreisen geteilt werden, hat er einen entscheidenden Einfluß auf die Avantgarde gewonnen als Lehrer von Boulez, Stockhausen und anderen.

Messiaen als Komponist - Messiaen als Lehrer jüngerer Komponisten, die in der neuen Musik der zweiten Jahrhunderthälfte eine wichtige Rolle gespielt haben: Beim Versuch, beide Aspekte miteinander zu verbinden und aufeinander zu beziehen, könnten sich Ansatzpunkte für ein Messiaen-Bild ergeben, das den Komponisten im Brennpunkt verschiedener musikalischer Traditionen zeigt, die in verschiedenen Richtungen teils zu ihm hinführen, teils von ihm ausgehen.

Die Frage, ob und inwieweit bei der Frage nach der Bedeutung Messiaens zwischen dem Komponisten und dem Kompositionslehrer unterschieden werden kann und soll, ist schwer zu beantworten - schon deswegen, weil wohl kaum ein intelligenter Kompositionsschüler es versäumt (oder versäumen sollte), seinen Lehrer auch als Komponisten wahrzunehmen: Ein Kompositionslehrer, der wirklich das beherrscht, was er zu lehren sich vorgenommen hat, prägt seine Schüler häufig nicht so sehr durch das, was er lehrt, sondern eher durch das, was er selbst kompositorisch tut. Dies gilt auch dann, wenn selbst prominente Schüler Messiaens zwischen seinen Rollen als Komponist und als Kompositionslehrer unterscheiden und dabei gelegentlich zu so zwiespältigen Einschätzungen gelangen, wie sie Pierre Boulez 1974 in einer Fernsehsendung der BBC formulierte:

Messiaens Position ist einmalig. Auf der einen Seite durch äußert traditionelle Vorlieben sozusagen eingekelit, liegt sie in anderen Bereichen des musikalischen Schaffens an der Spitze. Schon seit dreißig Jahren beeinflußt Messiaen eine große Anzahl von Komponisten, einmal durch seine Kompositionen, zum anderen - und das wohl in noch höherem Maß - durch seine Lehre. Er übt die Unterrichtstätigkeit parallel zu seiner Aktivität als Komponist aus: ein Bewei dafür, daß ihm selbst viel daran gelegen ist; er hat das Gefühl, daß seine Erfindungsgabe, zumindest teilweise, in der Pädagogik wurzelt.

In ähnlicher Weise hat sich Boulez nochmals 1992, im Todesjahr Messiaens, geäußert, als er Messiaen in den drei Rollen als Organist, als Pädagogen und als Komponist charakterisierte. Wieder hob er die besondere Bedeutung der pädagogischen Arbeit hervor, und er schrieb dazu:

Die Aktivität des Pädagogen... bildete Messiaens Verbindung zur Welt. Allem Anschein nach besaß er eine echte Leidenschaft für das Unterrichten... Ich selbst habe davon zwei unvergeßliche Lehren im Gedächtnis behalten: die der geschichtlichen Perspektive, die zur Einordnung der musikalischen Sprache unerläßlich ist, und die der zeitlich begrenzten, nur vorläufigen Gültigkeit jeder Entwicklungsstufe dieser Sprache.

Es genügt, nur einige der bekannteren Namen unter den Schülern Messiaens aufzuzählen, um zu belegen, wie fern es ihm gelegen haben muß, seine Schüler auf die eigenen kompositorischen Positionen festzulegen, geschweige denn eine stilistisch homogene Schule zu bilden. Die musikalischen Anregungen, die er seinen Schülern gab, waren vielfältig genug, um der Gefahr einer stilistisch konformen Ausbeutung vorzubeugen. Wesentlich war es, daß er in seinem Unterricht einerseits ein breites Spektrum von Musik aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen erschluß, daß er andererseits aber auch über die eigene kompositorische Arbeit berichtete. Auch dies trug dazu bei, daß er mit vielfältigen Anregungen auch durchaus unterschiedliche Individualitäten unter seinen Kompositionsschülern zu inspirieren vermochte.

Ein wichtiger Grundsatz des Kompositionslehrers Messiaen war es, daß seine Schüler einen möglichst vielseitigen Überblick über aktuelle kompositorische Tendenzen gewinnen sollten. In seinem Unterricht sollte aktuelle Musik zur Sprache kommen, die bei anderen Kompositionslehrern nicht vorkam. Daran hat Messiaen sich über mehrere Jahrzehnte hinweg gehalten. Dies bezeugt Pierre Boulez schon für die ersten Unterrichtsjahre 1943 und 1944, in denen nach seiner Erinnerung Messiaen beispielsweise die Violinsonaten und Streichquartette sowie die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Bela Bartók, die lyrische Suite von Alban Berg und den Pierrot lunaire von Arnold Schönberg erwähnt - Werke also, von denen die meisten für die weitere Entwicklung von Pierre Boulez von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Als er sich bei Olivier Messiaen zum Unterricht anmeldete, kanne er nur ein einziges Werk seines künftigen Lehrers: "Thème et Variations" für Violine und Klavier. Seine kompositorische Entwicklung in den künftigen Jahren zeigt, wie intensiv er sich in der Folgezeit mit den Kompositionen und Theorien Messiaens auseinandergesetzt hat, insbesondere mit seinen rhythmischen Innovationen. Als er 1948 mit dem theoretischen Text "Propositions" (Vorschläge) an die Öffentlichkeit trat, hat er dies schon im einleitenden Absatz deutlich gemacht. Er sagt dort:

Wir werden in dieser Studie von der Lehre Messiaens ausgehen, die in diesem Zusammenhang allein interessiert.

Die einleitenden Sätze dieses theoretischen Textes machen deutlich, daß Boulez sich hierbei nur auf einen Teilaspekt der Musiksprache Messiaens bezieht, nämlich auf den Rhythmus. Die Schwierigkeit, einen einzelnen Aspekt aus dem Musikdenken Messiaens herauszulösen, ist ihm offensichtlich bewußt. Er begegnet ihr nach der Devise, daß Angriff die beste Verteidigung sein kann: Er legt einen in diesem Zusammenhang naheliegenden Einwand René Leibowitz in den Mund - dem Apologeten Schönbergs, Bergs und Weberns und französischen Antipoden Messiaens, auch seinem zeitweiligen Rivalen im Einfluß auf radikal gesinnte jüngere Komponisten der französischen Musikszene. Boulez zitiert den Einwand von Leibowitz, und er vesucht mit einer verächtlichen Nebenbemerkung über dessen Kompetenz in rhythmischen Fragen diesem Einwand sein Gewicht zu nehmen. Dieses Argument ad hominem hebt das Argument selbst aber nicht auf - und dies führt dazu, daß Boulez schon in den ersten Sätzen seines Textes ein kritisches Argument einführt, daß sich eigentlich nicht nur gegen Messiaen richten ließe, sondern auch gegen seinen ihn verteidigenden einstigen Schüler.

Boulez schreibt:

Als Leibowitz die Technique de mon langage musical von Messiaen kritisierte, äußerte er, man könne den Rhythmus nicht von der Polyphonie trennen. Ich wundere mich, daß ausgerechnet derjenige, der diesem Buch die vielen Binsenwahrheiten ankreidet, eine Wahrheit von gleichem Rang ausspricht. Wenn man jedoch den Versuch macht, die Bestandteile einer Polyphonie durch Analyse zu ergründen, muß man sie für eine Zeitlang voneinander trennen.

Nun wird ein Argument nicht unbedingt dadurch entkräftet, daß man es zur Binsenweisheit erklärt. Dies bestätigt Boulez selbst in einem späteren Absatz seines Textes, wenn er die disparate Handlung von Rhythms, Harmonie und Polyphonie bei Messiaen kritisiert. Er sagt:

Besonders bei Messiaen, dessen rein harmonische Seite selbst auf den Sanftmütigsten haarsträubenhd wirken kann, bleiben die Untersuchungen im Zustand eines Netzwerks, das recht und schlecht mit Akkordmassen ausgefüllt wird. Wenn Messiaen zum Beispiel einen rhythmischen Kanon schreibt, verdickt er seine Konturen sofort und ohne die geringste Notwendigkeit durch Akkordbrocken; der Kanon tritt aufs Geratewohl in die Konstruktion ein und verschwindet daraus ohne weitere Umstände. Kurz, die Untersuchungen Messiaens vermögen sich seiner Sprache nicht wirklich einzugliedern, weil er nicht komponiert, sondern nebeneinanderstellt und weil er sich stets auf eine rein harmonische Schreibweise stützt - ich hätte in diesem Zusammenhang beinahe von begleiteter Melodie gesprochen.

Diese Kritik des jungen Boulez sollte nicht das einzige Beispiel dafür bleiben, daß Messiaen von nicht wenigen seiner Schüler zwar als Lehrer respektiert, aber als Komponist teilweise heftig kritisiert worden ist. Was gerade die radikalen unter seinen Schülern vor allem in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren kritisierten - und was damals zeitweise auch zu einer Entfremdung Messiaens von damals profilierten jüngeren Komponisten geführt hat - kann allerdings aus anderer Perspektive auch weniger kritisch beurteilt werden - beispielsweise so, wie es Witold Lutoslawski 1992 in einem Nachruf auf Messiaen formulierte:

Sein Schaffen bezieht sich klar auf den empirischen Zugang zum Klangphänomen.

Charakteristisches Beispiel hierfür ist die bedeutsame Rolle, die Messiaen in seiner Musik der Harmonik zuweist. Der harmonische Faktor ist hier führend und ordnet sich nicht einem anderen, angeblich wichtigeren Element unter. In dieser Sphäre schuf Messiaen eine mächtige, überreiche Klangwelt, wie sie für seine Persönlichkeit so außergewöhnlich charakteristisch ist.

Die Bedeutung der Harmonik für Messiaens gesamtes Schaffen läßt sich - zumindest in einigen wesentlichen Teilaspekten - beziehen auf den übergeordneten Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Klang und Farbe. Als Messiaen sich mir gegenüber dazu äußerte, reagierte er damit auf meine Bemerkung, er habe im Unterschied zu anderen Komponisten in seiner kompositorischen Laufbahn seinen Stil nicht vollkommen verändert. Messiaen sagte daraufhin:

Ich persönlich glaube weder an die Tonalität noch an die Reihen noch an irgendetwas, das sich klassifizieren läßt. All das sind Erfindungen, die nicht der Realisät entsprechen. Es gibt nur eine Realität: die der Resonanz. Die harmonische Resonanz und die Korrespondenz zwischen der Farbe und der harmonischen Resonanz, das sind reale Phänomene! Alles andere - das sind Worte, fast schon Trugbilder der Theoretiker!

Als ich Messiaen daran erinnerte, daß er trotzdem wichtige technische Neuerungen in die Musik seines Jahrhunderts eingeführt hat, erwiderte er:

Ich hatte menschliche Pläne - schließlich bin ich ein Mensch. Ich bin auch den Moden meiner Zeit gefolgt; so habe ich zu einem bestimmten Zeitpunkt seriell komponiert, ich habe auch modal komponiert, aber all das ist ein Irrtum. Real ist allein die Resonanz und ihre Entsprechung in der Farbe.

Messiaen machte diese Bemerkungen zur Entstehungszeit seiner Oper "Saint Francois d´Assise" - eines Werkes, in dem der Durdreiklang als Symbol der Harmonie wieder eine wichtige Bedeutung gewonnen hat. Die Reetablierung des Durdreiklanges als Farbwert verbindet sich in seinem Musikdenken mit der kompositorischen Affirmation der Naturtonreihe: Der Durdreiklang, der zuvor bereits in Bergs "Wozzeck" zum Klangbild des nüchternen Geldes geworden war und den Schönberg in seiner ersten Chorsatire als triviales Bruchstück einer Zwölftonreihe denunziert hatte - er wird zum Klangsymbol der irdischen und himmlischen Freude beim frühen und, nach einigen Jahren der konstruktiven Abstinenz, dann wieder beim späten Messiaen. In der Franziskus-Oper wird er zum Freuden-Akkord - zum Leitakkord der "joie".

Erste Anzeichen einer Rückwendung zur Harmonie im traditionellen Sinne finden sich bei Messiaen schon seit den späten fünfziger Jahren. Damals erschienen sie zunächst als Anzeichen des ästhetischen Rückzugs, der Distanzierung von aktuellen Tendenzen in der jüngeren Komponisten-Generation. Erst später wurde deutlich, daß einfache, sich von der Chromatik abgrenzende Tonbeziehungen auch unter jüngeren Komponisten wieder Interesse zu finden vermochten - und zwar nicht nur bei (Messiaen fernstehenden) amerikanischen minimal-Artisten, die wie La Monte Young eine extrem lange ausgehaltene reine Quinte vorschrieben oder wie Terry Riley zu einfachen diatonischen Pattern zurückkehrten, sondern auch bei dem einstigen Messiaen-Schüler Karlheinz Stockhausen, der - nachdem er die Naturtonreihe in den fünfziger Jahren zunächst nur latent zur Ableitung serieller Zahlenstrukturen ausgenutzt hatte - 1968 Aufsehen erregte mit der Komposition "Stimmung", einem seriell auskonstruierten abendfüllenden Naturtongesang. Später, in den siebziger Jahren, konnten sich die Vertreter der französischen Spektralmusik auf das Harmonieverständnis Messiaens berufen. Daran hat Tristan Murail, ein einstiger Schüler Messiaens, 1992 in seinem Nachruf auf Olivier Messiaen erinnert. Er schreibt dort:

Messiaen sprach oft von der "wahren Harmonie" einer Musik, und das ist eine Vorstellung, die weniger naiv ist, als es den Anschein hat; das ist etwas, das ich jeden Tag in meiner Arbeit nachvollziehe, und gleich mir alle diejenigen, die es sich zur Aufgabe machen, eine Musik zu komponieren, die auf den Qualitäten der Klänge begründet ist.

Messiaen hat die seit den siebziger Jahren sich vollziehende ästhetische Umorientierung der Neuen Musik, vor allem in Frankreich, genau verfolgt. Als Almut Rößler ihn 1983 danach fragte, antwortete er:

Die serielle, die abstrakte, die aleatorische Musik - all das ist vorbei! Die Richtung heute geht völlig anderswo hin.

Als Almut Rößler Messiaen fragte, ob er sich als geistiger Anführer dieser neuen Bewegung, an der man sich orientiert, finde, antwortete dieser zurückhaltend - aber immerhin unter Nennung einiger seiner Schüler:

Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Leute wie Tristan Murail aus Frankreich, Thien Dao aus Vietnam und George Benjamin aus England sind Leute, die nach der Farbe orientiert sind.

Das Bewußtsein, als Komponist allein zu stehen, hat Messiaen mit resignativem Stolz erfüllt, aber andererseits auch mit dem Trost, letztlich doch nicht vollständig isoliert zu sein - und zwar einerseits im größeren Kontext der Musikgeschichte, andererseits seit den siebziger Jahren wiederum im Kontakt mit jüngeren Komponisten. Nicht nur als Komponist, sondern auch als Kompositionslehrer konzentrierte er sich, wie er am Schluß seiner Erasmus-Preis-Rede es ausgedrückt hat, auf eine Freiheit, die einerseits durch Selbstbeherrschung erlangt wird, andererseits aber auch durch Ehrfurcht vor den anderen, Staunen vor dem Geschaffenen, Meditation des Geheimnisses und Suche nach der Wahrheit.

Wie weit Olivier Messiaen bei dem Versuch gegangen ist, sich vollständig auf die Dispositionen und Motivationen seiner Schüler einzustellen, zeigt sich besonders eindrucksvoll in seinem Umgang mit Iannis Xenakis. Im Dezember 1968, während des Düsseldorfer Xenakis-Festes, hat Messiaen in einer öffentlichen Diskussion hierüber Folgendes berichtet:

Vor einigen Jahren kam ein junger Grieche in meine Klasse, der hieß Jannis Xenakis - jetzt ist er ein sehr bedeutender Komponist geworden. Nun - ich habe ihn ziemlich lange beobachtet. Ungefäht eine Woche lang habe ich ihm gar nichts gesagt, und ich habe nacheinander erfahren, daß er Philosophie und Mathematik studiert hat, Architekt und Assistent bei Le Corbusier war. Ich habe dann etwas Schreckliches gemacht: ich habe ihn nicht be dem beraten, was er machen wollte: nämlich ernsthaft Harmonielehre, Fuge und Kontrapunkt studieren. Ich habe ihm gesagt: Sie sind Mathematiker, Philosoph, Architekt - machen Sie damit Musik. Und das hat er dann gemacht. Und ich glaube, daß ich recht hatte,denn die Ereignisse haben gezeigt, daß es genau das war, war er ton sollte.

Antoine Goléa, der zuvor lobend die kompositorische Emanzipation des einstigen Messiaen-Schülers Pierre Boulez erwähnt hatte, widersprach:

Ich meine, Messiaen hat nicht recht gehabt!

Messiaens Replik ist bezeichnend für sein Selbstverständnis als Kompositionslehrer. Er sagte:

Ich protestiere, ich habe einen heroischen Akt vollzogen, weil ich gegen mich selbst gesprochen habe, indem ich nur darauf geachtet habe, was er tun konnte - selbst gegen mein eigenes Empfinden.

Es ist aufschlußreich, zum Vergleich nachzulesen, wie die hier berichteten und kommentierten Ereignisse sich in der Erinnerung von Xenakis darstellen. 1992 schreibt er in seinem Nachruf auf Messiaen:

Meine erste Begegnung mit Olivier Messiaen geht auf das Jahr 1948 zurück. Zu der Zeit suchte ich jemanden, der mich unterrichten konnte, weil ich meine Studien wiederaufnehmen wollte, die durch die Résistance unterbrochen worden waren. Messiaen hat meine Partituren angeschaut, und er hat dieses für einen Professor am Conservatoire unglaubliche Urteil ausgesprochen: "Sie brauchen keinen Lehrer... Schreiben Sie Musik... Hören Sie Musik."

Die Datierung der ersten Begegnung mit Olivier Messiaen, die Xenakis hier angibt, ist unsicher. André Baltensperger gibt an, Xenakis habe ihm 1981 mitgeteilt, er habe sich Messiaen im Laufe des Jahres 1951 vorgestellt; an anderer Stelle (Bourgeois 1968) nennt Xenakis unter Vorbehalt, sich nicht genau erinnern zu können, die Datierung 1950-51. Jedenfalls laßt sich feststellen, daß bereits seit den frühen fünfziger Jahren sich Spuren des Einflusses von Olivier Messiaen in Kompositionen von Xenakis nachweisen lassen. Auffällig sind vor allem Spuren des auf mehrere Parameter erweiterten modalen Denkens von Messiaen, wie sie vor Messaien auch schon andere jüngere Komponisten interessiert hatten (und wie sie sich insbesondere zurückverfolgen lassen in das Frühwerk von Boulez). Die wichtige Rolle, die Messiaen sowohl für die Entstehung als auch für die Weiterentwicklung der seriellen Musik gespielt hat, hat vielleicht keiner unter seinen prominenten Schülern nachdrücklicher hervorgehoben als Iannis Xenakis. In seinem 1955 verfaßten und veröffentlichten Manifest über die Krise der seriellen Musik beschreibt er die Position Messiaens als Alternative zu den tonhöhenorientierten Konzeptionen der zweiten Wiener Schule mit folgenden Worten:

Indessen hatte MESSIAEN - als Folge seiner gründlichen Untersuchungen zum Rhythmus - die Dauer, dieses Stiefkind der seriellen Musik, wieder aufgewertet und an ihren Ehrenplatz gestellt.

Zur selben Zeit zog MESSIAEN die äussersten Konsequenzen aus der seriellen Musik; dies ermöglichte es ihm, mit der Organisierung sämtlicher Klangkomponenten einen genialen Schritt in die Zukunft zu tätigen.

In der Tat, als er 1942 seinen Schülern Nigg, Boulez und Martinet die serielle Musik näherbrachte, schlug er diesen vor, in ihren Werken nicht nur Reihen von Tonhöhen zu verwenden, sondern auch Reihen von Intensitäten, Klangfarben und Dauern. Erst 1949 realisierte er selbst seine fruchtbare Idee in seinem Klavierstück "Mode de valeurs et d´intensités". Sogleich waren davon alle Jungen wie erleuchtet und stürzten sich in Kompositionen, die dieses Werk mehr oder weniger paraphrasierten.

Solchermaßen wurde in einem Vierteljahrhundert die Pyramide der Klangentfaltunlg erbaut, deren Spitze die Synthese von MESSIAEN einnimmt.

Beherrschung der Klangwelt, mittels Analyse ihrer Komponenten sowie durch ihre Synthese; so lautet die Parole sämtlicher Vertreter der Avantgarde: Besessenheit des Zergliederns des Klangs, des Verschachtelns seiner Komponenten, der Re-Komposition (ist die Folge davon).

Den Ansatz der Verallgemeinerung des Reihendenkens auf andere Parameter bezeichnet Xenakis in diesem frühen Text noch als fruchtbare Idee und lobt sie als totale Synthese. Andererseits signalisiert Messiaens Klavieretüde für Xenakis aber auch einen kritischen Schlußpunkt, der eine Krise und die Notwendigkeit eines Neubeginns signalisiert. Xenakis sagt hierzu in einem Resume der Entwicklung serieller Musik bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein:

Es scheint, daß die totale Synthese Messiaens zu dieser Evolution einen Schlußpunkt gesetzt habe. Seit Jahren vermögen Vervollkommnungen in details keinen Ausweg aus der Sackgasse (mehr) aufzuzeigen. Die Krise der seriellen Musik ist akut.

Messiaen kritisiert in seinem Text Kompositionen, die, von Messiaens Klavier-Etüde inspiriert, dieses Werk mehr oder weniger paraphrasierten. Wahrscheinlich ist seine Kritik in erster Linie auf die Structure Ia von Pierre Boulez gemünzt, deren Grundreihe einem Ausschnitt aus dem "Mode de valeurs et d´intensités" entnommen ist. Die Überlagerung mehrerer, in verschiedenen Parametern punktueller organisierter Reihenschichten führt nach der Auffassung von Xenakis in diesem Stück dazu, daß kompositorische Faktur und klingendes Resultat sich nicht mehr in angemessener Weise entsprechen. Xenakis sagt hierzu:

Die lineare Polyphonie zerstört sich selbst durch die Komplexität, die ihr gegenwärtig eigen ist. Was man beim Hören wahrnimmt, ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Anhäufung von Tönen in vielfältigen Registern. Diese ungeheure Komplexität verhindert den hörenden Nachvollzug der versickelten Linien und zeitigt als makroskopischen Effekt eine irrationale, zufällige Streuung der Töne im gesamten Tonspektrum. Somit besteht ein Widerspruch zwischen dem linear-polyphonen System und dem Hörergebnis: Flächen und Massen.

Dieser der Polyphonie inhärente Widerspruch wird erst aufgelöst werden, wenn die Unabhängigkeit der Töne untereinander absolut sein wird.

Das Postulat der völligen Unabhängigkeit der Töne voneinander, das Xenakis hier ausspricht, definiert die dialektische Aufhebung des seriellen Musikdenkens - und dies in einer Radikalität, mit der sich Xenakis damals entschieden von seriellen kompositionstechnischen Prämissen etwa von Pierre Boulez, weitgehend auch von Karlheinz Stockhausen abgrenzte.

Es liegt nahe, die von Xenakis geäußerte Kritik, insbesondere seinen Vorwurf der epigonalen Ausbeutung von Messiaens "Mode de valeurs et d´intensités", in erster Linie zu beziehen auf die beiden damals prominentesten Schüler Messiaens - also nicht nur auf Pierre Boulez, sondern auch auf Karlheinz Stockhausen. Für Stockhausen trifft diese Kritik allerdings in anderer Weise zu als für Boulez. Denn er reagierte auf diese Musik nicht als langjähriger Schüler von Messiaen, sondern er reagierte auf sie, nachdem er ihr plötzlich, fast unvorbereitet begegnet war: 1951 spielte der Musikkritiker Antoine Goléa auf den Darmstädter Ferienkursen (zu denen Stockhausen damals erstmals gekommen war) eine Schallplattenaufnahme von Messiaens Klavieretüde vor. Stockhausen hörte sich diese Aufnahme, die ihn außerordentlich interessierte, mehrmals an - zusammen mit dem belgischen Komponisten Karel Goeyvaerts, den er kurz zuvor auf den Ferienkursen kennengelernt hatte und der zuvor bei Messiaen studiert hatte. Goeyvaerts hatte, ohne damals die Klavieretüde Messiaens zu kennen, schon im Winter 1950-1951 Anregungen seines einstigen Lehrers Messiaen selbständig weiter entwickelt in seiner Sonate für zwei Klaviere, deren zweiten Satz er und Goeyvaerts 1951 in einem Kompositionsseminar Adornos, der den erkrankten Schönberg vertrat, vorspielten. Durch Goeyvaerts erfuhr Stockhausen nicht nur von neuen Ideen Messiaens, sondern auch von der Möglichkeit ihrer Weiterentwicklung in einer jüngeren Komponistengeneration. Karl H. Wörner hat dies 1963, in einer aus Gesprächen mit Stockhausen hervorgegangenen Darstellung, in folgender Weise referiert:

Im Sommer 1951 erfuhr Stockhausen in Darmstadt durch Karel Goeyvaerts von den mehrdimensionalen, modalen Arbeiten Messiaens, bei denen alle Komponenten mit Ausnahme der Klangfarbe, also Melodik, Harmonik, Rhythmik, Dynamik und Anschlagsarten durch Modi geordnet sind.

Welche Werke Messiaens - abgesehen von der damals zunächst Stockhausen wie Goeyvaerts noch unbekannten Klavieretüde - hier gemeint sein sollen, bleibt dunkel. Was Wörner hier berichtet, hat - wie auch Xenakis bestätigt - Messiaen selbst ja erst im "Mode de valeurs et d´intensités" konsequent angewendet. (Erste Ansätze in dem 1948 entstandenen Klavierstück "Canteyodyaya" blieben zunächst der Öffentlichkeit unbekannt, und es dürfte heute schwer zu klären sein, ob dieses Klavierstück trotzdem Goeyvaerts schon 1951 bekannt war). Gleichwohl wird deutlich, in welchen Zusammenhang Stockhausen Messiaens Klavieretüde auch in der nachträglichen Erinnerung gesetzt hat: Ihn interessierte vor allem die Komposition mit verschiedenen Parametern. Inwieweit Karel Goeyvaerts ihn dabei nicht nur als Informant über Messiaen, sondern auch als Komponist interessierte, hat Stockhausen später, aus verschiedenen historischen Distanzen, durchaus unterschiedlich beschrieben. In den ältesten Quellen, vor allem in seinen zahlreichen Briefen an Goeyvaerts aus den frühen fünfziger Jahren, wird die direkte Affinität zu Goeyvaeerts Musikdenken und zu seiner Sonate sehr deutlich. Später hat Stockhausen häufige von dem Eindruck gesprochen, den Messiaens Klavieretüde auf ihn gemacht hat. Wörner berichtet, daß Stockhausen damals spontan begeistert war und von phantastischer Sternenmusik gesprochen hat; Wörner zitiert Stockhausen überdies mit Beschreibungen, die er als Kommentare zu einem damals für sie gefundenen neuen Musikbegriff einführt: Punktuelle Musik. Diesen Begriff hat nach Wörners Angaben damals Herbert Eimert in einem Gespräch gefunden. Stockhausen benutzt ihn, um Messiaens Etüde mit folgenden Worten zu beschreiben:

Punktuell - Warum? Man hört lauter einzelne Töne, die fast für sich hätten bestehen können, wie in einem Klangmosaik; in einer Konfigutation, die es nicht mehr auf Gestalten abgesehen hat, die sich wie in der überlieferten Weise mischen oder verschmelzen, sondern auf Punkte, die ganz frei für sich bestehen und weit auseinander gehalten individuell formuliert sind. Jeder Ton hat seine fixierte Lage, kein anderer kommt ihm ins Gehege; jeder Ton hat seine eigene Dauer, seine eigene Tonhöhe, seine eigene Akzentuation, und jedes Mal, wenn er in diesem Messiaenschen Stückchen nach einiger Zeit wiedr erklingt, erkennt man ihn schon etwas besser. Diese Musik hat mich leicht gestimmt; sie war sehr anmutig und hatte etwas Schwebendes, etwas von jeder dramatischen Musik weit Entferntes. Ich entschied mich, bei Messiaen in Paris zu studieren. Dort erkannt ich, was Messiaen von anderen gelernt hat und was an ihm neu ist.

Hermann Sabbe hat in seinen ausführlichen Untersuchungen zum Frühwerk Stockhausens und zu seiner Freundschaft mit Karel Goeyvaerts mit Recht die Frage aufgeworfen, ob diese punktuelle Musik Messiaens, die Stockhausen so beeindruckte, daß er sich zum Studium bei Messiaen entschloß, dann später von Stockhausen tatsächlich aufgegriffen und weitergeführt worden ist. Die erste Komposition Stockhausens, an der sich dies genauer überprüfen läßt, ist das 1951 entstandene KREUZSPIEL. Sowohl Stockhausens Briefe an Goeyvaerts als auch analytische Vergleiche mit dessen Sonate lassen deutlich erkennen, daß Stockhausens Stück in vielen kompositionstechnischen Details der Sonate von Goeyvaerts näher steht als der Klavieretüde von Messiaen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Verwendung verschiedener Oktavlagen: Während Messiaen die in verschiedenen Schichten überlagerten Töne in ihren Oktavlagen jeweils unverändert läßt, präsentiert Goeyvaerts Töne in wechselnden Oktavlagen, in prozeßartigen Bewegungen durch verschiedene Oktavräume. Diese Idee einer prozeßhaft sich entwickelnden Lagenform ist in Stockhausens KREUZSPIEL noch deutlicher ausgeprägt, und sie wird dort bedeutsam für den unmittelbaren Höreindruck im Gesamtzusammenhang des dreiteiligen Stückes. Dadurch unterscheidet sich Stockhausens Komposition wesentlich von der statisch-punktuellen Musik Messiaens. Stockhausen hat dies auch später im Rückblick nochmals deutlich hervorgehoben, als er - in einem Gespräch mit mir zum Thema "Musik als Prozeß" - die Statik, das Ablaufen von aneinandergereihten Modi in Messiaens Klavieretüde hervorhob.

Sowohl von Goeyvaerts´ Sonate als auch von Messiaens Klavieretüde unterscheidet Stockhausens KREUZSPIEL sich dadurch, daß der Komponist hier unterläßt, was Xenakis später der mehrparametrigen seriellen Musik vorwerfen sollte: Es gibt keine Polyphonie verschiedener Tonreihen nur, sondern nur die Überlagerung monodisch gesetzter Töne mit seriell strukturierten Schlagzeugrhythmen. Insofern trifft die Kritik von Xenakis dieses Stück weniger als die Structure Ia von Pierre Boulez.

Das von Iannis Xenakis verfaßte Manifest zur Krise der seriellen Musik erschien 1955, im Jahre der Uraufführung seines Orchesterstückes "Metastaseis" auf den Donaueschinger Musiktagen, in den "Gravesaner Blättern" - einer Zeitschrift, die herausgegeben wurde von Hermann Scherchen, dem wohl wichtigsten Förderer von Iannis Xenakis in jenen Jahren. Offensichtlich fand dieser Aufsatz damals weniger Beachtung als die eher affirmativ seriellen theoretischen Texte, die in dem Aperiodikum "die reihe" und anderwärts erschienen. Andererseits zeigt die theoretische Auseinandersetzung, wie breit das Spektrum der Meinungen selbst unter den bekanntesten Schülern Messiaens war: Der Messiaen-Schüler Xenakis übte produktive Kritik an anderen Messiaen-Schülern wie Boulez und Stockhausen, die ihrerseits auch nicht immer derselben Meinung waren und die überdies - zumindest was Stockhausen anbelangt, vor allem den Stockhausen der GRUPPEN für drei Orchester im Vergleich mit Orchesterwerken wie "Metastaseis" und "Pithoprakta" von Xenakis - in manchen Fällen, beispielsweise bei der Auseinandersetzung mit Massenphänomenen, durchaus auch sich bestimmten kompositionstechnischen und ästhetischen Prämissen nähern konnten, die Positionen von Xenakis einigermaßen nahe stehen. Andererseits wurde deutlich, daß Xenakis seine kühnen konstruktiven Ideen, anders als die seriellen Komponisten, mit unkonventionellen fauvistisch-bruitistischen Klangvorstellungen verband, die über serielle Traditionen hinausweisende historische Bezüge aufzeigen konnten: Zurück verweisend auf den auch von Messiaen hoch geschätzten Edgard Varèse (gegen dessen vom seriellen Denken völlig unabhängige Klangkonzepte der junge Boulez noch Vorbehalte angemeldet hatte), andererseits vorausweisend auf die unkonventionell bruitistischen Anfänge der polnischen Nachkriegs-Avantgarde etwa in einigen Werken der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre von Krzystof Penderecki. Auch das postserielle Orchesterstück "Atmosphères" von Ligeti mit seiner totalen Divisi-Technik des Streichorchester und mit seinem prägnanten Quasi-Aufstieg (vor dem spektakulären "Höllensturz") erinnert in vielen Details an Xenakis (dessen Musik Ligeti zum Zeitpunkt der Komposition allerdings noch nicht kannte) - vor allem an den Beginn von "Metastaseis". Für den undogmatischen Kompositionslehrer Olivier Messiaen dürfte also nicht zuletzt der Umstand sprechen, daß selbst von und seinen Schülern offensichtlich beeinflußte kompositorische Strömungen wie die serielle Musik schon in seinem unmittelbaren Schülerkreis wieder produktiv in Frage gestellt wurden. Auch dies läßt sich interpretieren im Geiste solidarischer Unabhängigkeit oder unabhängiger Solidarität von Schülern oder anderen mit dem Komponisten und Kompositionslehrer Messiaen. Messiaen selbst hat es im rückblickenden Gespräch mit mir für möglich gehalten, daß seine verstärkte Hinwendung zur ornithologischen Musik in den fünfziger Jahren als Distanzierung von der damals dominierenden seriellen und streng konstruktivistischen Musik gedeutet werden kann. In diesem Sinne hat Messiaen seinen "Catalogue des oiseaux" mit folgenden Worten charakterisiert:

Es kann sein, daß er ein unbeabsichtigter Protest war...

Zur Begründung fügte er hinzu:

Als ein Wesen von Fleisch und Glut wehre ich mich im Namen von Emotion und Empfindung gegen all das, was nichts anderes als interessant und intelligent ist. Ich habe einen Horror vor intelligenten Leuten, die interessante Sachen machen. Wenn ich ins Konzert gehe, dann will ich, daß mir die Tränen kommen; wenn ich nicht wene, bedeutet das: Es war nicht gut.

Meine Frage, ob er damals viel geweint habe, hat Messiaen - höflich wie er war - mit Ja geantwortet. Dann ging er noch einen Schritt weiter und stellte selbst - wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen - seinen eigenen Beitrag zur Entstehung der seriellen Musik, gegen deren Dominanz er später rebellierte, in den Kontext der freien kompositorischen Entscheidung, die sich vom mainstream der herrschenden Meinung distanziert. Messiaen sagte:

Selbst "Mode de valeurs et d´intensités" - eine ganz kleine Arbeit, der viel zu viel Bedeutung beigemessen worden ist - war ein unbeabsichtigter Protest. Es wurde damals nur mit Tonhöhen-Reihen gearbeitet, und deswegen sagte ich: Weswegen verwendet man nicht Reihen mit Dauern, Klangeinsätzen oder Tonstärken? Das sind musikalische Parameter, die gleichwertig neben der Tonhöhe stehen.

Ich konstatierte:

Das war also ein Beweis durch den Nachweis der Absurdität.

Messiaen stimmte in aller Vorsicht zu:

Wenn Sie so wollen...

Ich fügte hinzu:

Damals hat das niemand verstanden.

Messiaen erwiderte:

Heute wird es verstanden.

Messiaen war sich sich vollständig darüber im Klaren, daß er als Kompositionslehrer die Distanz zu seinen Schülern keineswegs vordergründig dadurch aufheben durfte, daß er seine Schüler stilistisch zu beeinflussen versuchte. Hierzu sagte er mir:

Ich habe viele Schüler gehabt;

aber nicht ich habe sie beeinflußt, sondern sie mich.

Diese Feststellung ist sicherlich aus Höflichkeit übertrieben,

was die Beeinflussung Messiaens durch seine eigenen Schüler angeht;

wenn aber Messiaen andererseits bestreitet, seine Schüler beeinflußt zu haben,

so untertreibt er hier aus übermäßiger - und sachlich nicht gerechtfertigter -

Bescheidenheit: Die Einflüsse mußten sich ja nicht darauf beschränken, Schüler zu Nachahmern zu erziehen - was ja Messiaen und andere bedeutende Kompositionslehrer zu vermeiden wußten. Der Kompositionslehrer Messiaen bemühte sich nicht um die Heranziehung von Epigonen, sondern um die Förderung eigenständiger musikalischer Kreativität. Wenn ihm dies gelungen ist, so könnte dies allerdings um so nachdrücklicher beweisen, wie groß sein Einfluß als Kompositionslehrer gewesen ist: Der einsame Kompositionslehrer ermutigt seine befähigten Schüler, damit auch sie die Einsamkeit zu ertragen lernen. Das hat Konsequenzen auch für die Methodik des Kompositionsunterricht. Dazu sagte Messiaen mir Folgendes:

Ich hatte nie eine Lehrmethode - auch darin stehe ich allein(...)

Wenn ich einen Schüler vor mir habe, stimme ich meine Methode auf ihn ab,

denn es geht um eine eigenständige Persönlichkeit,

die ich zu entwickeln, die ich auf ihren Weg zu bringen habe.

Oft begegnet man sehr begabten Menschen,

die selbst nicht wissen, welche Richtung sie einschlagen müssen.

Es ist die Aufgabe des Lehrers, ihnen dabei zu helfen, daß sie ihren Weg finden.

Als Almut Rößler Messiaen 1979 fragte, ob Messiaen bei seinen Kompositionsschülern Interesse eher an seiner Kenntnis der gesamten Musik als an seiner eigenen Farb-Musik vermutete, antwortete Messiaen vorsichtig:

Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich meinen Schülern alles gezeigt, sie aber nie gezwungen, an das zu glauben, woran ich glaube. Ich habe sie nie veranlaßt, meine Musik nachzuahmen, ich wäre sogar darüber sehr unglücklich, denn es schiene mir ungeheuerlich, lauter kleine Messiaens zu fabrizieren.

Wie weitgehend Messiaen die Beeinflussung durch Nicht-Beeinflussung gelungen ist, hat einer seiner bekanntesten Schüler erklärt: Karlheinz Stockhausen.

1958 schrieb er:

Messiaen ist ein glühender Schmelztiegel.

Er nimmt klingende Formen in sich auf

und spiegelt sie in der Form seines musikalischen Verstandes.

Das wurde mir sehr klar; er zeigte es offen.

Ich lernte viel alte und neue Musik kennen,

studierte Partituren, hörte mit unermüdlicher Neugier

(Messiaen kennt ungewöhnlich viel Musik,

und er spielt fast alles am Klavier).

Aber ich lernte sie kennen, um etwas anderes zu machen;

hörte, was schon getan ist, was schon gelebt hat.

Ich hörte immer mehr in mich hinein, statt nach draußen.

Nicht das Ordnen und Verändern von Gefundenem beschäftigt mich,

sondern das Erfinden von Neuem.

´Der Mensch ist nur ein Gefäß´ sagt Webern.

Erfinden und Erstaunen vorm Unerhörten: vom einzelnen Ton bis zur Form.

Wundern.

Mitteilen.

Messiaen versuchte nicht, mich zu überzeugen. Darum war er ein guter Lehrer.

Der Kompositionslehrer Messiaen, der vor einer direkten Beeinflussung seiner Schüler zurückscheute, hat gleichwohl erleben müssen, daß diese trotzdem die Musik ihres Lehrers kommentierten und dabei nicht immer dessen Diskretion und Höflichkeit erreichtet. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür sind die Attacken des jungen Boulez gegen die weitherzige harmonische Üppigkeit seines Lehrers - eine Kritik, die Messiaen zumindest damals, in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, empfindlich getroffen haben dürfte. Stockhausens Geburtstagsartikel aus dem Jahre 1958 ist höflicher gehalten, läßt aber gleichwohl die Distanz der kompositorischen Positionsbestimmungen deutlich erkennen - wobei sich durchaus darüber streiten ließe, ob und inwieweit Stockhausens damalige Kritik von Gewicht war und ist, ob und inwieweit er selbst bis dahin und in späterer Zeit deren eigenen Kriterien gerecht worden ist. Andererseits hat Messiaen selbst wohl spätestens im Laufe der fünfziger Jahre erkannt und akzeptiert, daß sein eigener kompositorischer Weg letztlich doch ganz anders verlaufen mußte als die Entwicklung jüngerer Komponisten, die er zuvor nachhaltig beeindruckt hatte. Selbst Pierre Boulez, den er wohl - trotz aller beträchtlichen ästhetischen Divergenzen - noch am ehesten als seinen legitimen kompositorischen Erben anzuerkennen bereit war, hat in seinem zeitweilig vom heftigen Meinungswechsel, später von kritischer Solidarität geprägten Verhältnis zu Messiaen auch in späteren Jahren grundlegende Differenzen nicht verschwiegen - und in mancher Hinsicht lassen sich seine kritischen Vorbehalte durchaus vergleichen mit denjenigen seines seriellen Komponistenkollegen Stockhausen: In einer Parenthese bescheinigt Boulez seinem einstigen Lehrer

Eklektizismus auch in seiner Art zu schreiben, die mehr ein Nebeneinander- und Übereinanderstellen ist als eine Entwicklung und Transformation.

Boulez bringt dies in Verbindung mit fundamentalen Gegensätzen zwischen deutscher und französischer Musiktradition. Auch hier verwendet er Argumente, die - allerdings in anderer Gewichtung - auch Karlheinz Stockhausen verwendet hat: Während Boulez in seiner eigenen Arbeit eine Synthese zwischen deutschem und französischem Musikdenken herzustellen versucht, hat Stockhausen sich letztlich dafür entschieden, dem prozeßhaften Denken im Sinne der deutschen Musiktradition den Vorrang vor einem eher statischen und aneinanderreihenden Musikdenken zu lassen, wie er es in der französischen Musik diagnostiziert.

Wie weit sich im Laufe der Jahrzehnte die verschiedenen Entwicklungslinien in der Musik Olivier Messiaens und der Musik seiner in den fünfziger Jahren berühmt gewordenen Schüler voneinander entfernt hatten, wurde spätestens in den achtziger Jahren deutlich, als einstige Schüler das Hauptwerk seines Spätstils, die Franziskus-Oper kennenlernten. Nachdem Iannis Xenakis die Oper gesehen hatte, machte er mir gegenüber lediglich die Bemerkung, das Stück sei sehr lang. Karlheinz Stockhausen, der zusammen mit seinem einstigen Lehrer eine Aufführung besucht hatte, äußerte sich später nicht gerade freundlich: Er hatte sich selbst mit Franz von Assisi befaßt und einen Text von ihm vertont, und er war zu einer anderen Einschätzung dieses Heiligen gelangt als Messiaen. Im Gespräch mit Hermann Conen und Jochen Hennlich machte Stockhausen deswegen eine kritische Anmerkung:

Francesco war ein Fou - und zwar einer mit viel Humor.

Das versteht kaum jemand(...)

Ich habe(...) die Messiaen-Oper über den Heiligen Franziskus in Paris gesehen.

Da war leider nichts von Humor zu spüren.

Das zog sich so hin wie Kaugummi, fünf Stunden lang.

Es wurde nur die eine Seite des Gottesgläubigen gezeigt.

Das sah auch relativ langweilig aus - muß ich sagen.

Es fehlte Humor, dieses verrückte Tänzchen.

So wenig die einstigen Messiaen-Schüler Xenakis und Stockhausen auch sonst gemein haben mögen - über die Oper ihres einstige Lehrers dürften sie wohl ähnlich gedacht haben. Sie und andere haben wichtige Anregungen von Messiaen empfangen, stehen aber - übrigens aus jeweils höchst unterschiedlichen Gründen - weiten Bereichen seiner geistig-musikalischen Welt sonst durchaus fern. Vieles spricht dafür, daß Messiaen sensibel genug war, dies zu spüren - und daß er gleichwohl auf polemische Distanzierungen nicht reagierte, sondern die eigene Einsamkeit akzeptierte.

Messiaen fühlt sich als Komponist einsam, aber in dieser Einsamkeit fühlt er sich im Kontext der Musikgeschichte durchaus nicht allein. Im Gespräch sagte er mir hierzu:

In der gesamten Geschichte der Musik sind die Komponisten immer einsam gewesen. Sie wurden erst nach ihrem Tod verstanden. Damit sie verstanden werden konnten, war ihr Tod unerläßlich.

Dies belegte Messiaen mit mehreren Beispielen aus der neueren Musikgeschichte:

Heute verstehen wir Mozart, Wagner und Debussy.

Zu seinen Lebzeiten ist Berlioz,

der Komponist unseres Landes, der seiner Zeit weit voraus war,

nicht verstanden worden -

ein Komponist der Farbe.

Als Komponist der Farbe ist Berlioz für Messiaen einerseits einsam, isoliert und unverstanden gewesen, er gehört aber andererseits deswegen für ihn auch in eine große Solidargemeinschaft anderer Komponisten, die - obwohl möglicherweise ebenfalls zur Einsamkeit verurteilt - die Farbe ebenfalls als zentralen Aspekt ihrer Musik behandeln. Messiaen sagt hierzu:

Es gibt Musiker, die stärker mit Farben arbeiten als andere. Die größten Koloristen unter den Musikern sind Debussy, Chopin, Berlioz, Mussorgsky, Wagner..., vielleicht auch Strawinsky, wegen der Farben seiner Orchestration...

In einem Gespräch mit Claude Samuel, das im Oktober 1988 stattfand und, im Rahmen einer CD-Kollektion, auch als Tonaufzeichnung öffentlich zugänglich ist, hat Messiaen die Liste der farborientierten Komponisten teilweise modifiziert: Er beginnt mit Monteverdi und Mozart; Chopin fehlt diesmal in seiner Aufstellung, aber Berlioz, Wagner und Mussorgsky werden erneut genannt; neben Debussy wird auch Ravel erwähnt. Strawinsky, der bereits 1982 nur mit Einschränkung genannt wurde, fehlt, und moderne Komponisten, angefangen mit Schönberg und selbst Berg, sind für Messiaen Vertreter weniger einer farbigen, sondern eher einer schwarzen (oder, in anderen Fällen, vielleicht auch grauen) Musik. In diesem Sinne hat er sich gegenüber Almut Rößler geäußert:

...In unserer Zeit ist die Musik, sogar sehr schöne, entweder schwarz, weiß oder grau, aber nicht farbig.

Im Gespräch mit mir hat Messiaen die Meinung vertreten, daß sein eigenes Verhältnis zur Farbe ihn nicht nur von anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts unterscheidet, sondern auch von Komponisten der Vergangenheit. Er sagte:

Da ist etwas, das mich, wie ich glaube, von allen Fachkollegen - denen, die der Vergangenheit angehören, und den künftigen - unterscheidet: Für mich ist die Musik eine Farbe, und ich sehe Farben in den komplexen Klängen... Das spüren viele Menschen so, aber sie können es nicht ausdrücken.

Im Gespräch mit Almut Rößler beschreibt Messiaen 1979 die Isolation, in der er sich sieht, in noch extremerer Weise: Er meint - anders als im Luxemburger Gespräch, daß sein Farbempfinden ihn letztlich auch vom Hörer isoliert:

... Ich habe vor allem die Leidenschaft für die Beziehung Klang-Farbe. Ich habe immer nur stückweise davon gesprochen, weil jedes Mal, wenn ich davon redete, die Leute dachten, ich sei verrückt.

Messiaens Plädoyer für Klang und Farbe gehört zu den am schwierigsten zu deutenden Aspekten seines Musikdenkens. Andererseits erscheint es von zentraler Bedeutung für die Würdigung seiner kompositorischen splendid isolation, die sich gleichwohl verbindet mit einer Schlüsselstellung in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts. Vielleicht läßt sich dies nirgendwo besser belegen als in seiner Einstellung zu einem der wichtigsten und zugleich umstrittensten Phänomene in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts: Zur elektroakustischen, insbesondere zur konkreten Musik, die entscheidend durch seinen Schüler Pierre Henry geprägt worden ist. Gerade in dieser Hinsicht zeigt sich, wie stark ein Musiker, der allzu oft auf traditionelle oder zumindest in ihrem Traditionsverständnis widersprüchliche Positionen festgelegt worden ist, in die Zukunft hineinzuwirken vermag.

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