Vom Innen und Außen der Klänge
Die Hörgeschichte der Musik des
20. Jahrhunderts
Rudolf Frisius
AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN
HARMONIE
I. Tonal oder atonal?
Alte und neue Klangstrukturen - Diesseits und jenseits der Tonalität
Sendung:
Montag, 11.12.2000, 22.05 bis 23 Uhr
in
SWR2 "Musik Spezial"
(VORLÄUFIGES)
MANUSKRIPT
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Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information
überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der
ausdrücklichen vorherigen Genemigung des Urhebers
© SWR
Anmerkung:
Dies ist eine vorläufiges Manuskript ohne die sonst in
dieser Sendreihe üblichen Verweise zu
Informationen auf unseren Internetseiten(www.swr2.de/hoergeschichte).
Die begleitenden Internet -Informationen zu dieser Sendung können
aus organisatorischen Gründen erst im Laufe der 50. Woche 2000 eingesetllt
werden.
Wir bitten um Ihr Verständnis.
Hörbeispiel: Charles Ives, Symphonie Nr. 2, CD CBS 77 424. Leonard
Bernhard, New York Philharmonic Orchestra
Tonal oder atonal?
Konsonant oder dissonant?
Triumphaler Abschluß oder Ausbruch aus trügerischer Harmonie?
1901, im ersten Jahre
eines neuen Jahrhunderts, setzt Charles Ives einige Fragezeichen in den letzten
Takten seiner zweiten Symphonie. Er führt die Musik in eine triumphale Harmonie
hinein, die jeder traditionell geschulte Hörer als Abschlußharmonie kennt. Mit
dieser Harmonie aber schließt Ives nicht:
Sein Schlußakkord ist eine wilde Dissonanz, die allen vorausgegangenen
F-Dur-Jubel in die Luft sprengt.
Die letzte Kadenz geht
schief: Kurz vor Schluß spielen alle Instrumente zusammen: Man hört einen
wuchtigen Auftakt, mit dem Dominantton c in allen 6 Oktavlagen. Danach aber
platzt die Harmonie auseinander: Nur einige Instrumente kommen richtig in der
Schlußharmonie an; andere treffen daneben oder geraten sogar in die falsche
Tonart. Am Schluß hört man keine bekannte Harmonie, sondern einen riesigen, den
ganzen Tonraum erfüllenden Tonklumpen.
Dies ist ein kräftiges Lebewohl an die klassische Harmonie.
11 Jahre später sind
die Abschiedsworte leiser geworden.
Hörbeispiel: Arnold Schönberg, Pierrot lunaire, Helga
Pilarcyk u.a., Leitung: Pierre Boulez, CD Ades ADE 680
Gedämpfte
Streicherterzen, schwankend zwischen Dur und Moll, zwischen Grundtönigkeit und
schwebender Ganztönigkeit - einige zögernde, weit auseinander gezogene, sich
stark verlangsamende Akkorde und ein dumpf nachschlagender Grundton im Klavier
- gleichzeitig einige Textworte: zuerst sehnsüchtig aufsteigend, dann
melancholisch-nostalgisch absinkend: So schließt Arnold Schönberg 1912 seinen
Melodramen-Zyklus „Pierrot lunaire“. Die Musik ist so behutsam komponiert, daß
in der Schwebe bleibt, ob die Sehnsucht nach dem alten Duft aus Märchenzeit
hier sentimental oder ironisch, ambivalent oder einfach rätselhaft klingt - vielleicht
als Suche nach der verlorenen Harmonie?
Die Suche nach der
verlorenen Harmonie erscheint im 20. Jahrhundert bald als Suche nach Neuem,
bald als Suche nach der Konservierung oder Wiederbelebung des Vergangenen, z.
B. als Bekenntnis zur überlieferten Tonalität.
Hörbeispiel: Igor Strawinsky, Psalmensinfonie, 3.
Satz, CBC Orchestra, Leitung: Igor Strawinsky, CD SM2K 46294
1930 schließt Igor
Strawinsky seine Psalmensinfonie mit einem C-Dur-Dreiklang.
Dieser Dreiklang wird gesungen auf dem Schlußwort einer Psalmzeile, das in der
Partitur mit Großbuchstaden geschrieben ist: (Alleluia. Laudate) DOMINUM
Der Lobgesang des
150. Psalm schließt hier mit dem Namen Gottes, der sich mit einer altvertrauten
Harmonie verbindet - der endgültigen Auflösung
nach einigen eher fremdartigen Akkorden,
die gleichsam tastend nach einer Auflösung suchen.
Das Lob Gottes artikuliert sich als Suche nach der verlorenen Harmonie. Ist in
der Musik des 20. Jahrhunderts die Harmonie verloren gegangen? Oder ist sie
unbeschädigt erhalten geblieben? - Es gibt verschiedene Antworten.
Hörbeispiel: Terry Riley, In C, Members of the Center
of the Creative and Perfoming Arts in the State University of New York at
Buffalo, LP CBS 34-61237
1964 schrieb Terry
Riley eine Komposition, die die Rückkehr zur Tonalität schon im Titel
ankündigt: In C
Der Ton c, nach dem
das Stück benannt ist, wird durchweg in Achtelrepetitionen gespielt, als
rhythmische Pulsation. Dieser Pulsation überlagern sich einfache, mehrfach zu
wiederholende Motive, die ebenfalls vom Ton C ausgehen und
Schritt für Schritt den Tonraum diatonisch auffüllen. Jeder Spieler des
(variabel besetzbaren) Instrumentalensembles kann selbst entscheiden, wann er
von einem Motiv zum nächsten übergeht. So kommt es zu einer Art aleatorischem
C-Dur -
mit vielfältigen Überlappungen der einfachen Motive, in Konstellationen, die
von Aufführung zur Aufführung unterschiedlich ausfallen können. Auf diese Weise
entsteht tonale minimal music.
Tonal oder atonal?
Es gibt Musik, die sich nicht auf eine der beiden Alternativen festlegen läßt -
Musik, die eher die Alternative ausspricht, als dass sie sich zwischen
beiden Möglichkeiten entscheidet.
Ein 1965 entstandenes
Bläserquintett beginnt mit einer Kadenzfloskel, die aus der Zeit Mozarts zu
stammen scheint: Adieu von Karlheinz
Stockhausen ist eine Musik des Abschieds, ein Stück des Gedenkens an einen jung
verstorbenen Musiker. Kurze Kadenzframente sind in der Komposition konfrontiert
mit langen Passen, in denen neue Passagen sich ohne tonale Bindungen frei
entfalten: subtil ausgehört in den Konstellationen der einzelnen Töne und in
deren inneren Bewegungen.
Tonal oder atonal?
Die Frage ist zu einfach gestellt, wenn sie auf einfache Ja-oder-Nein-Antworten
zielt - sei es bezogen auf bestimmte Entwicklungsabschnitte des 20.
Jahrhunderts,
sei es bezogen auf das oeuvre eines Komponisten oder auf ein einzelnes Werk:
Was für einzelne Takte, was vielleicht sogar für den Schluß eines Stückes gilt,
ist nicht in jedem Fall repräsentativ für das ganze Werk.
Hörbeispiel: Frederik Rzweski: The people united will
never be defeated, Frederik Rzewski, Klavier, CD Hat Art 6066
Frederick Rzewski hat
1975 Klaviervariationen über ein chilenisches Lied komponiert, das damals zum
Symbol des Widerstandes gegen die Militärdiktatur von Augusto Pinochet geworden
war:
„El pueblo unido jamas sera vencido
(The people united will never be defeated)
(Das vereinigte Volk wird niemals besiegt werden)“
An vielen Stellen des
Stückes erscheint die einfache Moll-Melodie in konventioneller Aussetzung - z.
B. am Anfang und am Ende des über einstündigen Werkes. An anderen Stellen löst
die Musik sich fast vollständig von der Tonalität ihres Themas (und nähert sich
virtuoser Neuer Musik,
wie sie der Pianist Rzewski seit den frühen 1960er Jahren aufgeführt hat).
Hörbeispiel: Frederik Rzweski: The people united will
never be defeated, Frederik Rzewski, Klavier, CD Hat Art 6066
The people
united will never be defeated ist politisch engagierte Musik,
die sich auf Tonalität oder Atonalität nicht festlegen läßt; Musik, die
verschiedene Hörweisen und Hörinteressen anzusprechen versucht. Den Ansatz
dieses Stückes hat der Komponist mit folgenden Worten beschrieben:
„Ich erforschte
Formen, in denen existierende musikalische Sprachen zusammengebracht werden konnten.“
Tonal oder atonal:
Auf diese Frage sind in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts viele
durchaus unterschiedliche Antworten versucht worden: Ein kunstvoll verpatzter
sinfonischer Tuttischluß bei Ives - pseudo-nostalgische Schlußharmonien bei
Schönberg - neoklassizistisches C-Dur in geistlicher Musik bei Igor Strawinsky
-
kristalline tonale minimal music bei Terry Riley - eine traditionelle
harmonische Schlußfloskel als Einleitung zu, später im Wechsel mit
unkonventionellen Harmonien bei Karlheinz Stockhausen - politisch engagierte
Musik mit tonalen und atonalen Elementen bei Frederick Rzewski: Dies sind
einige Beispiele
für den Wandel des harmonischen Denkens im 20. Jahrhundert. Diese und andere
Beispiele verweisen auf Veränderungen in der Harmonie und im harmonischen Hören
des 20. Jahrhunderts.
Die Frage nach der
Harmonie hat sich im 20. Jahrhundert immer wieder neu gestellt als die Frage
nach musikalischer Gegenwart und Vergangenheit - als Frage danach, wie dieses
Jahrhundert sich in seinem Harmonieverständnis von früheren Zeiten
unterscheidet. Musik der Gegenwart artikulierte sich auch als offene Frage an
die Vergangenheit.
„Tunes we heard in „ninety two“,
soft and sweet,
always ending „I love you“ -
phrases nice and neat;
The same old chords, the same old time, the same old sentimental sound,
Shades of ... in new songs abound.“
Dies ist der Text
eines Liedes, das Charles Ives 1920 komponiert hat. Den Autor des Textes verrät
er nicht - vielleicht ist er es selbst. In sanfter Ironie ist von musikalischer
Nostalgie die Rede: Von kitschigen Musikerlebnissen aus dem Jahre 1892: Sanfte,
hörerfreundliche Melodien von Liebesschnulzen;
altbewährte Harmonien; empfindsame Klänge aus der guten alten Zeit:
Klänge, die hineinwirken auch in neuere Zeiten; Die Beschwörung vergangener
Harmonie - einer Harmonie, die womöglich in neueren Zeiten verloren gegangen
ist.
Hörbeispiel: Charles Ives, On the Counter (114 Songs,
Nr. 28), Roberta Alexander, Sopran, Tan Crones, Klavier, CD Etcetera KTC 1020
In der Partitur ist
ausdrücklich vorgeschrieben, wie das Lied vorgetragen werden soll: „con molto
sentiment“. Eine Fußnote des Komponisten macht unmißverständlich deutlich, wie
das Lied gemeint ist:
„Obwohl wenig Gefahr
besteht,
wird die Hoffnung ausgesprochen,
daß dieser Gesang nicht ernst genommen
oder, zumindest öffentlich, gesungen wird.“
„Auf der Suche nach
der verlorenen Harmonie“: Dies ist ein Schlagwort,
mit dem sich viele Tendenzen in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
beschreiben lassen. Das Schlagwort läßt viele Möglichkeiten offen: Es sagt
nicht genau, was hier verloren wurde, wie die Suche zu beschreiben ist und ob
hier eher das angeblich Verlorene oder statt dessen etwas Neues gesucht wird -
ob an das Vergangene mit Wehmut zurückgedacht wird oder mit leisem Spott.
Bereits 1891 hatte
Ives einen Variationensatz für Orgel komponiert, in dem verschiedene Tonarten
nicht nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig zu hören waren: Schon damals
brachte Ives aufmerksame Zuhörer zum Lachen dadurch, daß er in einem
Zwischenspiel seine populäre Hauptmelodie nicht nur in der Haupttonart F-Dur
brachte, sondern gleichzeitig, und in anderer Rhythmisierung, auch im
kontrastierenden Des-Dur.
Hörbeispiel: Charles Ives, Interlude, Orgelfassung,
Hans-Ola Ericsson, Orgel, Bis-CD 510
Wie kühn die
Rebellion des jungen Charles Ives gegen die Normen der Tonalität war, läßt sich
auch daran ablesen, daß noch lange später, mehr als vier Jahrzehnte nach der
Entstehung dieses Orgelstückes, ein profilierter Komponist eine hier verwendete
harmonische Kühnheit verdammte: Die Bitonalität, die gleichzeitige Verwendung
von zwei verschiedenen Tonarten.
Die „Unterweisung im Tonsatz“ von Paul Hindemith, ein musiktheoretisches
Bekenntnis zur unveränderlichen Gültigkeit der tonalen Harmonie, erschien 1937
und 1940 in einem Lande, das Abweichungen von der Tonalität nicht zuletzt aus
politischen Gründen tabuisiert hatte. Hindemith, der selbst mit den
nazistischen Machthabern, den Apologeten einer angeblich germanischen
Dreiklangs-Harmonie, seine Schwierigkeiten hatte, war von der Notwendigkeit
harmonischer Einheit so stark überzeugt, daß er selbst die Überlagerung
verschiedener Tonalitäten nicht akzeptierte. Seine Kritik formuliert er in
einem polemischen Kapitel mit dem Doppeltitel:
Aus Hindemiths Worten
läßt sich entnehmen, daß er polytonale Musik nicht in frühen Beispielen, etwa
von Ives, kannte, sondern erst aus späterer Zeit. Am Schluß seines Kapitels,
nach einer scharfen Kritik aller Atonalität, schreibt er:
„Noch ein Schlagwort aus der
Nachkriegszeit: Polytonalität.
Das nette Spiel, zwei oder mehr Tonarten zugleich nebeneinander herlaufen zu
lassen und damit neue harmonische Wirkungen zu erzielen, ist für den
Komponisten zwar sehr unterhaltend, der Hörer kann den verschiedenen tonalen
Abläufen aber nicht folgen, da er jeden Einzelklang doch immer wieder auf das
Fundament bezieht - und damit ist die Zwecklosigkeit des Bemühens erwiesen.
(...) Da aber eine organische, aus den natürlichen Wurzeln gewachsene Arbeit
immer auf festeren Füßen stehen wird als die aus willkürlicher Zusammenlegung
beliebiger Elemente entstehende, ist auch die Polytonalität als Arbeitsprinzip
einer harmonischen Setzweise abzulehnen.“
(Paul Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, S. 187)
Es ist auffallend,
mit welcher Selbstgewißheit Hindemith sich hier äußert - zu einer Zeit, in der
man Beispiele polytonaler Akkordschichtung selbst in seiner eigenen Musik noch
finden kann, beispielsweise im langsamen Satz der zweiten Klaviersonate, wo
sich Akkorde verschiedener Tonarten dicht geballt überlagern,
so daß die Auflösung in einfachere, einheitliche Harmonien einige Zeit auf sich
warten läßt.
Hörbeispiel: Hindemith, 2. Klaviersonate, Siegfried
Mauser, Klavier, CD WER 6202-2
Paul Hindemith gehört
zu den überzeugtesten Anhängern der monistischen Tonalität. Wir wissen heute,
daß deren Auflösung schon eher und an anderen Stellen begonnen hat, als
Hindemith zu seiner Zeit bekannt sein konnte.
Er suchte, in seiner Musik und in der Musik seiner Zeit, nach einer Harmonie,
die vorhandene Ordnungen im größeren Zusammenhang behutsam weiter entwickelte,
ohne aber dabei ihren Grundansatz in Frage zu stellen.
Hörbeispiel: Paul Hindemith, Symphonie „Mathis der
Maler“, 1. Satz, Pittsburg Symphony Orchestra, Leitung: William Steinberg, CD
Emi Classics
Auf der Suche nach
der verlorenen Harmonie finden wir im 20. Jahrhundert nicht nur viele
Komponisten, sondern auch viele Musiktheoretiker - darunter nicht wenige
theoretisierende Komponisten. Komponisten als Theoretiker können aus
verschiedenen Perspektiven gedeutet werden - nicht zuletzt auch als Interpreten
und Apologeten ihrer eigenen kompositorischen Überzeugungen. Was sie
kritisieren oder als unmöglich erklären, widerspricht manchmal weniger der
komplexen musikalischen Realität als ihren enger umgrenzten eigenen
kompositorischen Überzeugungen. Dies gilt auch für viele Aussagen von Paul
Hindemith, z. B. für seine Kritik der Atonalität:
„Es gibt heutzutage
eine ganze Anzahl von Komponisten, die ihre Werke als atonal ausgeben. (...)
Ich glaube nicht (abgesehen davon, daß ich es für unmöglich halte, den
Gegebenheiten des Tonmaterials auszuweichen),
daß die Freiheit errungen wird, wenn man das Prinzip natürlicher Ordnung durch
das bloßer Abwechslung ersetzt.(...) Heute wissen wir freilich, daß es keine
Atonalität geben kann, daß höchstens der harmonischen Unordnung dieser Titel
zukommt.
(Paul Hindemith, Unterweisung, S. 185 und 187)
Musik, die Hindemith
mit solchen Worten kritisiert oder sogar für unmöglich erklärt, gab es schon
vor seiner Zeit. Aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts
wären als markante frühe Beispiele vor allem Kompositionen von Charles Ives zu
nennen - Musikstücke, die sich anbieten für die genauere Überprüfung von
Einwänden, wie sie etwa Paul Hindemith erhoben hat. Man kann sich
beispielsweise die Klänge anhören, mit denen Ives sein 1906 entstandenes
Klavierlied „The Cage“ eröffnet: Sind diese atonalen Zusammenklänge ungeordnet,
chaotisch - oder lassen sie sich als strukturierte Akkorde hören, als geordnete
Harmonien?
Hörbeispiel: Charles Ives, The Cage (114 Songs, Nr.
64), Henry Herford, Bariton, Robin Bowman, Klavier, CD Univorn-Kanchana DKP
9112
Die erste
Harmoniefolge, die anschließend sogleich unverändert wiederholt wird,
besteht aus sieben Akkorden. Die ersten sechs Akkorde, die in zwei
Dreiergruppen unterteilt sind, haben einen neuartigen, aber in sich vollkommen
einheitlichen Intervallaufbau: Die Töne überlagern sich nicht in Terzen wie in
der traditionellen tonalen Musik, sondern in reinen Quarten. Die Musik geht von
einem Akkord zum nächsten, indem dieser einfach in eine andere Lage
transponiert wird.
Hörbeispiel: Charles Ives, The Cage (114 Songs, Nr.
64), Henry Herford, Bariton, Robin Bowman, Klavier, CD Univorn-Kanchana DKP
9112
Die ersten drei
Akkorde hört man, schrittweise sich verkürzend, in aufsteigender Bewegung:
Zunächst weiter aufsteigend, eine Quinte, dann etwas weniger weit, eine kleine
Terz. Die folgenden drei Akkorde sind eine Abwandlung der ersten Dreierfolge:
Aufstieg und Beschleunigung, die auf den ersten drei Akkorden langsam und tief
begannen, setzen sich in den folgenden drei Akkorden rascher und in höherer Lage
fort; ein langer Schlußakkord schließt die Entwicklung ab.
Hörbeispiel: Charles Ives, The Cage (114 Songs, Nr.
64), Henry Herford, Bariton, Robin Bowman, Klavier, CD Univorn-Kanchana DKP
9112
In der Abfolge der
Harmonien erkennt man monotone Strenge. Diese wird beim Hören um so deutlicher,
weil im gesamten Lied dieser atonale „Choral“ ständig wiederkehrt: nur
geringfügig abgewandelt durch Transpositionen, durch Verlängerung oder
Verkürzung, durch einen überraschend eingefügten neuen Zäsurakkord, schließlich
durch plötzliches Abreißen kurz nach einem letzten Neuansatz des Chorals. - Was
Monotonie und Wiederholung bedeuten sollen, verrät der Text des Liedes:
Beschrieben wird ein gefangenes Raubtier, ein Leopard im Käfig. Immer läuft er
hin und her. Nur selten stoppt er, wenn es einmal Futter gibt. Ein Junge sieht
dem stundenlang zu, und schließlich fragt er verwundert, ob denn das das Leben
sei.
„A leopard went around his cage
from one side back to the other side;
he stopped only when the keeper came around with meat;
A boy who had been there three hours
began to wounder,
‘Is live anything like that?’“
Öde und Monotonie des
Geschehens spiegeln sich nicht nur in der einförmigen Harmonie, sondern auch in
den melodischen Fortschreitungen: Das Hin- und Herlaufen des Raubtieres wird
dargestellt in völlig gleichartigen Melodischritten,
in auf- und absteigenden Ganztönen, in Ausschnitten aus der Ganztonleiter.
Hörbeispiel: Charles Ives, The Cage (114 Songs, Nr.
64), Henry Herford, Bariton, Robin Bowman, Klavier, CD Univorn-Kanchana DKP
9112
Tonal oder atonal?
Die Frage zielt auf klare Alternativen. Gleichwohl bleibt unverkennbar,
daß nicht alle Komponisten sich eindeutig festlegen. Charles Ives hat gezeigt,
daß es viele unterschiedliche Lösungen geben kann. Nur in einfachen Fällen
seiner Musik läßt sich Tonales und Atonales klar voneinander unterscheiden.
Häufiger kommt es vor, daß beides sich miteinander verbindet - daß sogar
womöglich in verschiedenen überlagerten Klangschichten Tonales gleichzeitig mit
Atonalem zu hören ist: sich aufbauend und dann wieder abbauend.
Der Titel des 1906
entstandenen Werkes verrät, wie Tonales und Atonales sich miteinander
verbinden: Die Ablaufsidee ist für alle Klangschichten dieses kurzen Scherzo-Stückes dieselbe:
Der ganze Weg vorwärts
und rückwärts - „All the way around and back“
Hörbeispiel: Charles Ives, All the way around and
back, Ensemble Modern, Leitung: Ingo Metzmacher, CD Emi Classics CDC 7545522
In seinem Scherzo All the way around and back wählt Ives
als Besetzung kein volles Sinfonieorchester, sondern ein Kammerensemble.
Traditionelle tonale Harmonien, Dreiklangs-Fanfaren, läßt Ives hier nicht
triumphal im vollen Blechbläsersatz spielen, sondern von einem einzigen
Instrument, von einer Trompete. Gleichzeitig mit den tonalen Dreiklangstönen
erklingt atonale Musik in anderen Instrumenten: Anfangs, vor dem ersten Einsatz
der Trompete, nur im Klavier; später auch in Geige, Röhrenglocken und
Klarinette. Die Musik verläuft, wie es der Titel ankündigt: vorwärts und
rückwärts. Nach und nach setzen die Instrumente ein, die Musik belebt sich
rhythmisch und wird lauter; dann geht die Entwicklung wieder rückwärts, zurück
bis zu den Anfangsakkorden des Klaviers.
In den letzten Takten, nach einer Generalpause, gibt es überraschend nochmals
einen knappen, energischen Höhepunkt.
Hörbeispiel: Charles Ives, All the way around and
back, Ensemble Modern, Leitung: Ingo Metzmacher, CD Emi Classics CDC 7545522
Die Harmonie der vielschichtigen,
polyphonen Hörwelt und Alltagswelt hat für mehrere profilierte Komponisten des
20. Jahrhunderts entscheidende Bedeutung gewonnen - seit Ives nicht zuletzt
auch in der amerikanischen Musik.
Ives war der erste amerikanische Komponist, der ein radikal verändertes
Verhältnis zur musikalischen und außermusikalischen Wirklichkeit avisierte und
der dadurch auch zu einem grundlegend veränderten Musikverständnis gelangte.
Sein Ansatz, der sich in fruchtbarer Spannung zum traditionellen
Musikverständnis entwickelt hat, leitete eine Entwicklung ein, die später von seinem
Landsmann John Cage weiter vorangetrieben werden sollte.
Auch bei Cage stellt sich die Frage nach einem weiteren Harmoniebegriff, der
über die Musik hinausweist und auch ihr Verhältnis zur außermusikalischen
Realität in Betracht zieht.
Hörbeispiel: John
Cage, Credo in Us, Ensemble Musica Negativa, Leitung: Rainer Riehn, LP C
165-28954/7
Musikalische Harmonie im weiteren Sinne
als Beziehung von erklingender Musik
zu anderen musikalischen oder außermusikalischen Klängen: Dieser Aspekt, der
sich in der Frühzeit der Neuen Musik bereits bei Gustav Mahler und vor allem
bei Charles Ives abgezeichnet hatte, gewann später entscheidende Bedeutung im
Musikdenken und in der kompositorischen Praxis von John Cage.
Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die 1942 entstandene Komposition
„Credo in Us“. Das Werk beginnt mit dem Abspielen einer Platte klassischer
Musik, deren Auswahl Cage dem Interpreten überläßt. Nach einiger Zeit kommen
von Cage ausnotierte Passagen für konventionelle und unkonventionelle Instrumente
hinzu. Die hämmernden Geräuschrhythmen bringen dann die klassische Musik
wenigstens vorübergehend zum Schweigen. -
Schon im Anfangsteil des Stückes wird deutlich, daß durchaus unterschiedliche
Klangergebnisse möglich sind - und zwar nicht nur deswegen, weil Cage teilweise
unkonventionelle, nicht standardisierte Geräuscherzeuger verwendet, sondern
auch deswegen, weil die Schallplattenzuspielungen sich von einer Aufführung zur
anderen ändern können: Polyphonie und Harmonie, die sich der Komplexität der modernen,
auch von technischen Medien geprägten Hörwelt nähern, sind hier dem Problem der
Unbestimmbarkeit konfrontiert - der wirklichkeitsnahen Umorientierung des
musikalischen Denkens, der erweiternden Neubestimmung von Form und Harmonie.
Hörbeispiel: John Cage, Credo in Us, Percussion
Ensemble Mainz, Markus Hauke, CD WWW 1CD 20015
Musik kann sich harmonisch erneuern, indem
Komponisten die Fenster öffnen
und die Außenwelt in ihre Musik hineinlassen. Es gibt aber auch andere Wege,
die stärker von der freien Phantasie der Komponisten ausgehen - Versuche der
Erfindung völlig neuartiger, sich vom Vorgefundenen emanzipierender Klänge und
Klangstrukturen.
Hörbeispiel: Arnold Schönberg op. 16 Nr. 3,
Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden, Leitung: Hans Rosbaud, CD WER
6403-2
„Jeder Akkord, den ich hinsetze,
entspricht einem Zwang; einem Zwang meines Ausdrucksbedürfnisses, vielleicht
aber auch dem Zwang einer unerbittlichen, aber unbewußten Logik in der
harmonischen Konstruktion. Ich habe die feste Überzeugung, daß sie auch hier
vorhanden ist; mindestens in dem Ausmaß, wie in den früher bebauten Gebieten
der Harmonie.“
(Arnold Schönberg, Harmonielehre S. 502)
Arnold Schönberg hat in der Musik des 20.
Jahrhunderts einen Weg zur Erneuerung der Harmonie gewiesen, den er selbst als
konsequente Fortsetzung
einer jahrhundertelangen abendländischen Musikentwicklung ansieht.
Er selbst hat in seiner „Harmonielehre“
beschrieben, aus welchen Gründen er in seinen Kompositionen über die bereits
bekannten Strukturen hinausgegangen ist.
Für das dritte der 1909 entstandenen „Fünf
Orchesterstücke“ Schönbergs gibt es Titel, die auf Kompositionstechnisches oder
Programmatisches verweisen, ohne damit der spezifischen Besonderheit dieser
Musik voll gerecht zu werden: Farben Sommermorgen
an einem See.
Für ein genaueres Verständnis dieses
Stückes ist die Konzentration auf innermusikalische Vorgänge besonders wichtig:
Die Musik geht von einem neuartigen Akkord aus, der in wechselnden Farben
erscheint.
Hörbeispiel: Arnold Schönberg op. 16 Nr. 3,
Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden, Leitung: Hans Rosbaud, CD WER
6403-2
In subtilen Tonbewegungen und Umfärbungen
entfernt sich die Musik von diesem Akkord, um anschließend immer wieder zu ihm
zurückzufinden: Der Akkord, mit dem das Stück beginnt, wird anschließend zum
Klangzentrum, zum Angelpunkt der harmonisch-melodisch-farblichen Konstruktion
der Musik.
Wer die Musikentwicklung des 20.
Jahrhunderts zu bilanzieren versucht, kann feststellen, daß Schönbergs Postulat
der Hinwendung zur Klangfarbe, obwohl es auch am Jahrhundertende immer noch
nicht voll eingelöst ist, zumindest im größeren Kontext der Musikentwicklung
inzwischen genauer beurteilbar geworden ist. Die Wurzeln dieses Denkens liegen
der Krise des traditionellen,
auf standardisierte kadenzierende Akkordfolgen konzentrierten harmonischen
Denkens sowie in dessen allmählicher Ablösung durch die Konzentration auf die
selbständig gewordene, neu erfundene Harmonie, auf das Klangzentrum.
Schönbergs 1899 entstandenes Klavierlied
„Erwartung“ beginnt im Zeichen eines Klangzentrums - mit einem dissonanten
Akkord, der aus der Grundharmonie herauswächst und später wieder zu ihr
zurückkehrt; mit einem Akkord, der dann später, in anderen Tonlagen und
harmonischen Fortsetzungen, auch den weiteren Verlauf beherrscht.
Hörbeispiel: Arnold Schönberg, Erwartung, op. 2 Nr. 1, Dietrich
Fischer-Dieskau, Bariton, Aribert Reimann, Klavier. CD EMI CDM 7 63570 2
In einem späteren Werk geht Schönberg noch
einen Schritt weiter: Seine 1906 entstandene Kammersymphonie beginnt nicht mit
einer tonalen Harmonie, sondern direkt mit einem neu erfundenen Klangzentrum:
Mit einem sechstönigen Quartenakkord, der sich allmählich aufbaut, dann aber
bald schon wieder in eine Dreiklangsharmonie auflöst.
Hörbeispiel: Arnold
Schönberg, Kammersinfonie, Ensemble Intercontemporain, Leitung: Pierre Boulez,
CD Sony SMK 48 462
Erst an späterer Stelle des Werkes wird
das Klangzentrum vollends dominierend
und nähert sich dem autonomen, sich selbst genügenden Klang: In einer
vollständig verwandelten Reprise der Anfangstakte, die dem Beginn eines
Adagioteiles vorausgeht und die, in Spreizungen, Dehnungen und Verschiebungen,
vollständig aus dem Klangzentrum abgeleitet ist.
Hörbeispiel: Arnold
Schönberg, Kammersinfonie, Ensemble Intercontemporain, Leitung: Pierre Boulez,
CD Sony SMK 48 462
Ein Klangzentrum als Dissonanz, deren
Auflösung scheinbar endlos herausgezögert wird. Dies ist ein Ansatz, der sich
zurückverfolgen läßt bis zu Wagners Tristan, und den nicht nur Schönberg in seiner
ersten Kammersymphonie verfolgt hat, sondern aus dem auch Alexander Scrijabin
die schließlich radikalste Konsequenz gezogen hat: In seiner Komposition Promethée prägt ein einziges dissonantes Klangzentrum den Formverlauf eines
vollständigen Stückes.
Hörbeispiel: Alexander Scrijabin, Promethée, Chicago
Symphony Orchestra, Leitung: Pierre Boulez, CD DG 459 643-2
Dieses Klangzentrum wird erst am Schluß
des Stückes in einen Dreiklang aufgelöst.
Hörbeispiel: Alexander Scrijabin, Promethée, Chicago
Symphony Orchestra, Leitung: Pierre Boulez, CD DG 459 643-2
Für die Komposition mit dissonierenden
Klangzentren gibt es seit Wagners Tristan zahllose Beispiele. Der sechstönige
Quartenakkord aus Schönbergs erster Kammersymphonie ist in diesem Zusammenhang ein
Beispiel unter vielen, aber zweifellos ein besonders spektakuläres Beispiel.
Jedenfalls blieb es Schönberg vorbehalten, als erster über die theoretische
Tragweite dieser harmonischen Neuerung genauer nachzudenken. Er überlegte, ob
eine moderne,
auch avancierter Musik angemessene Harmonielehre nicht - anstatt der
traditionell bevorzugten Terz - die Quart als harmonisches Grundintervall
annehmen sollte, weil sich aus Quartschichtungen auch die allerkomplizertesten
Akkordbildungen erklären ließen, wie sie Schönberg in seiner eigenen Musik
und in der Musik einiger seiner avanciertesten Zeitgenossen finden konnte. Er
schrieb:
„Der quartenweise Aufbau der Akkorde kann
zu einem Akkord führen, der sämtliche zwölf Töne der chromatischen Skala
enthält, und damit immerhin eine Möglichkeit der systematischen Betrachtung
jener harmonischen Phänomene erzielen, die in Werken von einigen von uns schon
vorkommen: sieben-, acht- neun-, zehn-, elf-, zwölfstimmige Akkorde. (...) Der
quartenweise Aufbau ermöglicht (...) die Unterbringung aller Phänomene der
Harmonie (...)“
(Arnold Schönber, Harmonielehre, S. 487f.)
Mit diesen Worten näherte Schönberg sich
einer Betrachtungsweise, die das Verständnis harmonischer Strukturen auf eine
neue Grundlage zu stellen versucht:
Das harmonische Denken geht nicht von einfachen Grundakkorden aus, aus denen
dann kompliziertere Bildungen abgeleitet werden, sondern es orientiert sich am
harmonischen Total aller zwölf verschiedenen Töne unseres Tonsystems:
am chromatischen Total, aus dem durch Auswahl- und Gruppierungsprozesse
spezifische Akkordbildungen herausgelöst werden können.
Der Zwölfklang, der in dieser theoretischen Betrachtung zum zentralen
Bezugspunkt wird, sollte nach Schönbergs theoretischen Prophezeiungen
auch in der kompositorischen Praxis eine wichtige Rolle spielen. Bei Alban Berg
erscheint er auf dem dramaturgischen Kulminationspunkt der Oper Lulu: als Unheilsakkord bei der Ermordung Lulus.
Hörbeispiel: Alban Berg, Lulu, Chor und Orchester der
Deutschen Oper Berlin, Leitung: Karl Böhm, DG 435 705-2
Der Zwölfklang läßt sich interpretieren
als musikalischer Endzustand, in dem alle melodischen Gestalten sich letztlich
auflösen: In Bergs letzter, unvollendet gebliebener Oper erscheint er als
Todessymbol - und gleichzeitig als Kern der gesamten musikalischen
Konstruktion.
Alban Berg greift in seinem Spätwerk, vor
allem in dessen dichten Akkordballungen, erneut Aspekte auf, die bereits
Jahrzehnte vorher in seinen radikalsten atonalen Werken eine wichtige Rolle
gespielt hatten. Die harmonische Universalität des Zwölfklanges findet sich
bereits in dem dritten der 1912 entstandenen Fünf
Orchesterlieder
nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg. Der breit gefächerte All-Klang
erscheint hier als Klang-Symbol des zentralen Textwortes: Symbolisiert wird
„das All“:
„Über die Grenzen des All
blicktest du sinnend hinaus;
Hattest nie Sorge um Hof und Haus!
Leben und Traum vom Leben
plötzlich ist alles aus....
Über die Grenzen des All
blickst du noch sinnend hinaus!“
Hörbeispiel: Alban Berg, op. 4 Nr. 3, Julia Banse,
Sopran, Wiener Philharmoniker, Leitung: Claudio Abbade, DG 447 794-2
Bei Alban Berg erscheint der Zwölfklang
als universelle harmonische Totalität, aus der alle speziellen harmonischen
Strukturen herauswachsen können.
Genau die gegensätzliche Konzeption findet
sich im Spätwerk von Anton Webern: Seine Akkorde ergeben sich aus dem Detail:
durch Vervielfältigung kleiner, klar konturierter Intervallzellen. In Weberns
Konzert für neun Instrumente op. 24 beispielsweise geschieht nichts, was sich
nicht aus der ersten Dreitonzelle des Stückes ableiten ließe: Man hört
fortwährend Abwandlungen der ersten drei Töne - zuerst rein melodisch; erst
später in harmonischen Überlagerungen von zwei oder sogar drei Tönen.
Hörbeispiel: Anton Webern, Konzert für 9 Instrumente,
op. 24, 1. Satz, London Symphony Orchestra, Leitung: Pierre Boulez; Sony SM3K
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Es dauert bis zum Schluß des ersten Satzes
von Weberns Konzert, bis erstmals mehr als drei Töne sich zu einem Akkord
vereinigen - und selbst hier wird die dichte Akkordbildung sorgfältig
vorbereitet: Zunächst hört man zwei dreitönige Akkorde, unter denen der zweite
das genaue intervallische Spiegelbild des ersten ist. Anschließend erklingt ein
sechstöniger Akkord, und zwar als klar erkennbare Konsequenz aus den beiden
vorausgegangenen Dreitonakkorden: Die beiden zuvor gehörten Akkorde erklingen
jetzt, auf andere Stufen versetzt, gleichzeitig: Der Grundakkord und sein
Spiegel überlagern sich zum strukturierten Sechsklang.
Hörbeispiel: Anton Webern, Konzert für 9 Instrumente,
op. 24, 1. Satz, London Symphony Orchestra, Leitung: Pierre Boulez; Sony SM3K
45 845
Weberns Konzert op. 24, vor allem der
erste Satz des Werkes, war in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts die
erste Instrumentalkomposition, die in ihren strengen Intervallstrukturen, in
ihren melodischen und harmonischen
Gestalten Wege vorzeichnete für Ansätze streng struktureller
Klangkomposition,
die alle klanglichen Details erfaßt.
Karlheinz Stockhausen orientierte sich 1953 am Modell dieser Komposition, als
er erstmals in Köln eine Studie mit elektronischen Klängen komponierte: Studie 1.
Hörbeispiel: Karlheinz Stockhausen, Studie 1, Aufnahme
des SWR
Auf der Suche nach der verlorenen Harmonie
sind die Musiker bis zum musikalischen Atom des einzelnen Sinustones
vorgedrungen. Versuche, durch mühselige Synthesen aus diesen Tönen durch
mühselige Synthesearbeiten neue Klangfarben zu entwickeln, können sich
bestimmten Idealen einer ständig beweglichen Klanggestaltung zumindest
ansatzweise nähern - in den Spuren eines
Musikdenkens, das Harmonie weiter faßt als in früheren Zeiten und das sich
gleichwohl, auch in der Reflexion von Vergangenem, weiter zu entwickeln vermag.
Spuren eines solchen Musikdenkens, das auf die Komplexität des lebendigen
Klangphänomens zielt, finden sich selbst bei streng konstruktivistisch
arbeitenden Komponisten, auch und in besonderem Maße bei Karlheinz Stockhausen.
Die Tendenz, rigorose, starre Strukturen zu etablieren, sie dann aber sogleich
wieder aufzubrechen und in organischen Klangfluß aufzulösen, zeigt sich schon
in frühen Werken Stockhausens und hat auch für spätere Werke des Komponisten
wesentliche Bedeutung behalten. In besonderem Maße gilt dies für die in den
Jahren 1990 und 1991 komponierte elektronische Musik Oktophonie: Tendenzen der Gestaltung organisch fließender Klangbewegung,
wie sie in frühen Werken allenfalls in kompositorischen Teilaspekten
realisierbar erschienen (vor allem bei der Gestaltung von Hüll- und
Hallkurven), sind in „Oktophonie“ zum beherrschenden Prinzip geworden:
Kontinuierlich gleitende Veränderungen hört man nicht nur etwa in an- oder
abschwellenden dynamischen Hüllkurven, sondern in den Klängen selbst: in ihren
Bewegungen im Tonraum, ansatzweise auch in ihren realen räumlichen Bewegungen
von einem Lautsprecher zum anderen. Hier erklingen nicht feste, melodisch oder
harmonisch gruppierte Töne, sondern komplexe Bewegungen in den Tönen selbst und
von einem Ton zum anderen. Die seriellen Tonkonstruktionen tendieren zu ihrer
eigenen Auflösung im kontinuierlichen Klangfluß. Daraus ergeben sich
weitreichende Konsequenzen auch für die Harmonik: Sie orientiert sich nicht
mehr an festen Tönen, Intervallen und Akkorden, sondern an der unablässigen,
kontinuierlichen Verwandlung des Klangstoffes. In technisch produzierten
Klängen konkretisieren sich hier Wandlungen harmonischen Denkens, deren (im
Detail längst noch nicht absehbare) Konsequenzen weiter wirken könnten über die
Grenzen des 20. Jahrhunderts hinaus.
Hörbeispiel: Oktophonie, CD Stockhausen