Vom Innen und Außen der Klänge
Die Hörgeschichte der Musik des
20. Jahrhunderts
Rudolf Frisius
AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN
HARMONIE
II. Harmonie und Klangkunst:
Freigesetzte Klänge - Anarchic Harmony
Sendung:
Montag, 11.12.2000, 22.05 bis 23 Uhr
in
SWR2 "Musik Spezial"
(VORLÄUFIGES)
MANUSKRIPT
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überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der
ausdrücklichen vorherigen Genemigung des Urhebers
© SWR
Anmerkung:
Dies ist eine vorläufiges Manuskript ohne die sonst in
dieser Sendreihe üblichen Verweise zu
Informationen auf unseren Internetseiten(www.swr2.de/hoergeschichte).
Die begleitenden Internet -Informationen zu dieser Sendung
können aus organisatorischen Gründen erst im Laufe der 50. Woche 2000
eingesetllt werden.
Wir bitten um Ihr
Verständnis.
Hörbeispiel: Alban Berg, Wozzzeck, Chor und Orchester Deutsche Oper
Berlin, Leitung: Karl Böhm, CD DG 435 705-2
Ein
anschwellender Ton - eine scharf akzentuierte, den ganzen Tonraum erfüllende
vieltönige Dissonanz - ein rhythmisch sich wiederholendes Geräusch: eine Musik
der freigesetzten Klänge, die sich in extreme Umbrüche hineinsteigert. Im 3.
Akt von Alban Bergs Oper Wozzeck - in einem kurzen Zwischenspiel nach der
dramatischen Schlüsselszene der Ermordung Maries - sind auf knappstem Raum
verschiedene Extremphänomene der Harmonik konfrontiert: der einzelne Ton - die
komplexe Dissonanz - das Geräusch.
Jedes dieser Phänomene steht für sich, als freigesetzter Klang. Die Radikalität
dieser Isolierung hat Berg deutlich gemacht, indem er an anderen Stellen der
Oper deutlich macht, wie radikal sich der Ton, die Dissonanz und das Geräusch
verändern können, wenn sie in musikalische Zusammenhänge eingeschmolzen werden.
Besonders sinnfällig wird dies am Beispiel des Tones: Zunächst steht er für
sich: Leise, in der Mittellage, setzt der Ton h ein, zunächst nur als
gedämpfter Hornton. Dann kommen Schriff für Schritt andere Einsätze in
Streichern und Bläsern hinzu. Alle Instrumente steigern ihre Lautstärke vom
vierfachen Piano bis zum dreifachen Forte, auf dem die Harmonie dann umschlägt
in die schrille Dissonanz. - Erst im weiteren Verlauf zeigt sich, daß derselbe
Ton, das h,
auch aus der Isolierung herausgeholt werden kann: Er kehrt wieder und wird zum
Leitton - er löst sich auf zum Beginn der folgenden Szene.
Hörbeispiel: Alban Berg, Wozzzeck, Chor und Orchester Deutsche Oper
Berlin, Leitung: Karl Böhm, CD DG 435 705-2
Die
funktionale Einbindung des einzelnen Tones, seine tonale Einbindung als
Leitton, der anschließend aufgelöst wird, hat Berg gleichzeitig bestätigt und
dementiert: Dem Leitton h folgt kein reines C-Dur, sondern ein ganztönig
verschmutztes: ein C-Durdreiklang mit hochgequetschter Quinte, der auf einem
verstimmten Pianino, einem Wirtshausklavier, gespielt wird. Die trügerische
Auflösung bestätigt nachträglich, daß der einzelne Ton seine Eigenwertigkeit
behält. Gerade in der Konfrontation mit seinem extremen Gegenteil, der
komplexen Harmonie mit vielen Tönen und weitem Tonumfang, kann deutlich werden,
welche Kräfte sich schon im einzelnen Ton freisetzen lassen.
Wenn Berg dies deutlich macht, dann setzt er damit an harmoniche Neuerungen an,
die zuvor schon in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts eingesetzt hatten, z. B.
1901 in der 5. Symphonie von Gustav Mahler.
Hörbeispiel:
Gustav Mahler, 5. Symphonie,
Wiener Philharmoniker, Leitung: Pierre Boulez
Der
einzelne Ton als polarer Gegensatz des vieltönigen Zusammenklanges: Dieser
polare Gegensatz ist ein wichtiger Aspekt neuen harmonischen Denkens. Für die
Verbindung dieser beiden Phänomene bietet sich eine Fülle unterschiedlicher
Möglichkeiten an. Bei Gustav Mahler erscheint dieser Gegensatz zunächst als
radikale Umfunktionierung des traditionellen Musikdenkens: Ton und
Zusammenklang werden konfrontiert als Konzentrate von Melodie und Harmonie.
Hörbeispiel:
Gustav Mahler, 5. Symphonie,
Wiener Philharmoniker, Leitung: Pierre Boulez
Der
einzelne Ton und der vieltönige Klang: Diese harmonische Polarität hat in vielen
Zusammenhängen und Bereichen der Musik des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle
gespielt - ncht nur in jähen Kontrasten, sondern auch in Ansätzen der
universellen Vermittlung. Eine besonders konsequente und radikale Position
hat in diesem Zusammenhang Iannis Xenakis bezogen. Er war der erste, der das
Kontinuum zwischen Einklang und Vielklang dadurch herstellte, daß er die
Alleinherrschaft der festen Töne auflöste und den stehenden Ton in den bewegten
Ton auflöste. Das 1954 vollendete Orchesterstück Metastaseis führt vom einzelnen Ton über ein dichtes
Glissandoknäuel in eine dichte, weiträumige Tontraube.
Hörbeispiel: Iannis Xenakis, Metastaseis, SWF-Sinfonieorchester,
Leigung: Hans Rosbaud, CD WWE 12 CD 31899
Der
einzelne Ton - der dichte, weiträumige Klang: Beide Extreme können in extremer
Gegensätzlichkeit aufeinander stoßen, aber auch sich kontinuierlich ineinander
verwandeln. Die Gleichwertigkeit plötzlicher und allmählicher Veränderungen ist
ein wichtiger Aspekt neuer Harmonik - und zwar nicht nur in Verbindungen extrem
unterschiedlicher Phänomene wie Ton oder Tontraube, sondern auch in anderen
harmonischen Konstellationen. Plötzliche und allmähliche Veränderung, Techniken
des harten Schnittes oder der weichen Überblendung verschiedenster Harmonien
finden sich schon in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts.
Bereits
in Mahlers Musik wird deutlich, daß bei der Verbindung extrem unterschiedlicher
Phänomene die kontrastierende Aneinanderreihung, der Schnitt,
sich als besonders sinnfällige Möglichkeit anbietet, aber keineswegs als die
einzige. Nicht weniger wirkungsvoll ist es, wenn kontrastierende harmonische
Gebilde nicht einfach nur aufeinanderfolgen, sondern statt dessen sich
überlagern oder ineinanderschieben. Auch so können sie ihre unverwechselbaren
Eigenheiten bewahren - als kontrastierende freigesetzte Klänge.
Hörbeispiel: Gustav Mahler, 7. Sinfonie, 4. Satz, Tschechische
Philharmonie, Leitung: Václav Neumann
Zwei
wichtige Aspekte neuen harmonischen Denkens, die Verselbständigung der
einzelnen Harmonie und die Verbindung selbständiger Harmonien durch Schnitt
oder Montage, ermöglichen die Komposition des freigesetzten Klanges - seine
Herauslösung aus den Ablaufsmustern der traditionellen mehrstimmigen Musik und
ihrer Satzlehren. Gustav Mahler hat gezeigt, daß auf diese Weise sogar
scheinbar bekannte Harmonie-Verbindungen in völlig neuem Licht erscheinen
können: Im Finale seiner siebten Symphonie verbindet er die Tonarten der beiden
Tonarten, C-Dur und As-Dur, nicht traditionsgerecht durch Modulation, sondern
auf neue Weise, durch Überblendung. Diese Technik hat später, in anderen
Konstellationen der Harmonien und ihrer
Bedeutungszusammenhänge, Alban Berg aufgegriffen und weitergeführt: In der Oper
Wozzeck verwandelt sich ein
vieltöniger, weit gefächerter Akkord in einen einfachen C-Dur-Dreiklang - und
zwar nicht durch Auflösung, sondern durch Überblendung.
Hörbeispiel: Alban Berg, Wozzzeck, Chor und Orchester Deutsche Oper
Berlin, Leitung: Karl Böhm, CD DG 435 705-2
Der
einzelne Ton und die Gesamtheit der Töne: In diesen Extremen begegnen sich
extreme Reduktion und extreme Komplexität: Der Ton als einfachster Bestandteil
nicht nur der Harmonie, sondern auch der Melodie - die Tontraube als
Gesamtreservoir der Harmonie, aus der sich alle einzelnen harmonischen
Bildungen durch Auswahl ableiten lassen. Der erste Komponist, der die
weitreichenden Möglichkeiten einer solchen, aus der Tontraube entwickelten
Harmonie erkannt hat, war Henry Cowell. 1912 schrieb er ein Klavierstück,
in dem die Melodie- und Akkordtöne der rechten mit dichten Clustern der linken
Hand begleitet werden: Der Komponist beschreibt das Stück als Musik der
Beschwörung einer alten Gottheit - eines Gottes, der die Bewegung und die
Gezeiten erschaffen hat: die rhythmische Bewegung des Materie des Universums.
Hörbeispiel: The Tides of Manaunaum, Henry Cowell, Kommentar, CD
Smithsonian Folkways SF 40801
Cowells
Klavierstück ist als große Bogenform komponiert: Die Gottheit erscheint und
verschwindet wieder. Schon in den ersten Takten wird der Formprozeß deutlich:
Dumpfe Cluster - Eine Melodie tritt hinzu, verdichtet sich mit Intervallen und
Akkorden, gewinnt allmählich an Höhe und dynamischer Kraft.
Hörbeispiel: The Tides of Manaunaum, Henry Cowell, Klavier, CD
Smithsonian Folkways SF 40801
Im
weiteren Verlauf des Stückes werden auch die Cluster, zunächst nur in einer
einfachen pendelnden Begleitung der Melodie zu hören waren, dichter, weiter und
lauter. Auf dem Höherpunkt Melodie kommen auch die Cluster in quasi-melodische,
in mehreren Ansätzen aufsteigende Bewegung. Danach wird die Musik wieder
schwächer und verlöscht schließlich.
Hörbeispiel: The Tides of Manaunaum, Henry Cowell, Klavier, CD
Smithsonian Folkways SF 40801
In
seiner 1928 entstandenen Komposition Tiger
löst Cowell die Cluster aus herkömmlichen Konstellationen von Melodie und
Begleitung. Statt dessen komponiert er ein buntes Panorama der Rhythmen,
Harmonien und Klangfarben - beginnend mit gehämmerten Akkordrepetitionen - sich
verwandelnd in massive Cluster - ausklingend im Nachhall eines ätherischen
Akkordes im Klavierflageolett.
Hörbeispiel: Henry Cowell, Tiger, Henry Cowell Klavier, CD Smithsonian
Folkways SF 40801
Henry
Cowell gehört zu den wichtigsten Neuerern der experimentellen Musik. Viele
seiner Innovationen sind erst in der Popularisierung durch Jüngere bekannt
geworden - z. B. seine Tontrauben, seine Cluster. Sie spielen eine
beherrschende Rolle bei zwei Komponisten, die in den frühen sechziger Jahren
durch Orchesterstücke bei den Donaueschinger Musiktagen Aufsehen erregten:
Krzystof Penderecki mit Anaklasis und
György Liegti mit Atmosphères.
Hörbeispiel: Krystof Penderecki, Anaklasis, SWF-Sinfonieorchester,
Leitung: Hans Rosbaud, CD WWE 12 CD 31899
Hörbeispiel: György Ligeti, Atmosphères, SWF-Sinfonieorchester, Leitung:
Hans Rosbaud, CD WWE 12 CD 31899
Die
dichte Überlagerung der Töne zum Cluster ist ein erster Schritt zur Auflösung
traditioneller Harmonie im Geräusch: Im dichten Knäuel von Überlagerungen und
Schwebungen lassen einzelne Tonhöhen sich kaum noch exakt heraushören. So
ergibt sich ein erster Ansatz der Komposition mit unbestimmten Tonhöhen. Auch
dieser Ansatz hat seine Wurzeln in älterer Musik, die über die Grenzen der
harmonischen Tonkunst hinausdrängt.
Hörbeispiel: Richard Wagner, Rheingold, Orchester der Bayreuther
Festspiele, Leitung: Pierre Boulez, CBS, Klett 90175
An
zentraler Stelle von Richard Wagners Rheingold
gibt es eine Passage, in der die Tonkunst sich in akustische Kunst verwandelt:
Die Rhythmen verlagern sich von den Tönen und von ihren Einbindungen in Melodie
und Harmonie auf das Geräusch: Wagner komponiert Rhythmen von Ambossen in drei
Klangschichten:
Langsam, als Akzente, in den tiefsten Instrumenten - mittelschnell, als
Pulsationen, in höheren Instrumenten - schnell, als quasi-melodische
rhythmische Gestalten, in den höchsten Instrumenten. Für kurze Zeit löst die
Musik sich hier vollständig von den fixierten (und traditionell notierbaren)
Tonhöhen: Die Harmonie zwischen tiefen, mittleren und hohen Klängen ist nur
noch approximativ notierbar.
Damit ist eine Position erreicht, die später im 20. Jahrhundert zentrale
Bedeutung gewinnen sollte - vor allem bei Edgard Varèse. In seiner Komposition Ionisation
spielen fixierte Tonhöhen für die musikalische Konstruktion keine konstitutive
Rolle mehr. Statt dessen bildet sich eine neuartige Harmonie der Geräuschlagen
verschiedener Schlaginstrumente - sogar der innerlich belebten, z. B. im
Glissando gleitenden Klänge.
Hörbeispiel: Edgard Varèse, Ionisation, Asko-Ensemble, Leitung: Riccardo
Chailly, CD Decca 460 208-2
Die
Geräuschmusik von Edgard Varèse markiert eine wichtige Position in der
Begründung eines Denkens, das die musikalischen Klänge und insbesondere die
musikalischen Harmonien nicht mehr streng deterministisch behandelt, sondern
auskomponiert mit Spielräumen mit Spielräumen für klangliche Unbestimmtheit.
Diese Unbestimmtheit prägt das konventionell geschulte Hören - und zwar selbst
dann, wenn die Klänge genau festgelegt sind. Wenn beispielsweise Geräusche
nicht von konventionellen Schlaginstrumenten gespielt, sondern im
elektronischen Studio erzeugt werden, kann es für den Hörer schwierig werden,
die Klangfarben zu differenzieren. Er ist interessanten, aber unbenennbaren
Klängen konfrontiert -beispielsweise in der 1960 entstandenen Komposition Kontakte von Karlheinz Stockhausen. Hier
überlagern sich in vier verschiedenen Klangschichten komplexe Geräusche - und
jedes dieser Geräusche ist in sich so variabel, daß es sich von einem
konventionellen Akkordton deutlich unterscheidet. Was bei der Überlagerung der
vier Klänge herauskommt, ist also ein Geräuschakkord neuer Art - in
vielschichtiger, unbenennbarer komplexer Klang.
Hörbeispiel: Karlheinz Stockhausen, Kontakte, Karlheniz Stockhausen,
David Tudor, Christoph Caskesl, Gottfried Michael Koenig, CD WER 6009-2
Musik
mit unbestimmten Klängen: Dieser Ansatz hat in der Musik des 20. Jahrhunderts,
vor allem in dessen zweiter Hälfte, so große Bedeutung gewonnen, daß es sogar
auf scheinbar Bekanntes zurückwirken konnte: Auf Musik mit scheinbar bekannten
Tönen und Harmonien.
1990:
Cage komponiert Four2. Four2 erinnert vielleicht am stärksten an Harmonieübungen: wenn man es
hört, kann man sich die ganzen Noten auf vier Linien vostellen, das perfekte
Bild einer Harmoniemethode.
Hörbeispiel: John Cage, Four2,Vocal
Group Ars Nova, Leitung: Támas Vetö, CD Cage Edition 18, mode 71
Im Spätwerk von John
Cage findet sich eine Komposition für gemischten Chor, die der
Musikwissenschaftler und Cage-Spezialist James Pritchett in einem
Schallplattenkommentar mit Harmonieübungen vergleicht. Das Stück heißt: Four2. Die compact disc, der
Pritchetts Kommentar beigegeben ist, enthält zwei Versionen desselben Stückes.
Der Hörer kann feststellen, daß die zweite Version mit denselben Tönen beginnt
- allerdings in anderer Reihenfolge.
Hörbeispiel: John Cage, Four2,Vocal
Group Ars Nova, Leitung: Támas Vetö, CD Cage Edition 18, mode 71
Cage schreibt die
Töne auf - aber er legt nicht genau fest, wann sie erklingen sollen. Für jeden
in der Höhe genau fixierten, in ein konventionelles Fünfliniensystem
eingetragenen Ton sind Anfang und Ende in gegebenen Grenzen variabel. Die
Harmonie ist gegeben, aber ihre klangliche Realisierung ist zeitlich, für die
zeitliche Positionierung einsetzender oder aussetzender Töne, nicht starr
fixiert, sondern die Abfolge der Töne bleibt elastisch, flexibel. So ergibt
sich ein musikalisches Kontrastmodell zur tradierten Formgestaltung und zur
traditionellen Harmonie. Hierfür gibt es ein berühmtes Stichwort, unter dem
Stefan Schädler und Walter Zimmermann 1992 ein Cage-Festival veranstaltet und
anschließend darüber ein Buch publiziert haben: Anarchic Harmony.
Schädler und
Zimmermann haben versucht, den Leitbegriff des Buches genauer zu definieren und
zu analysieren:
„ANARCHIC HARMONY - so formuliert Cage
sein Gegenkonzept zum ‘europäischen’ Harmoniebegriff. Dieser Begriff ist ein
offenkundiges Paradox: Harmonie im traditionell europäischen Sinn bezeichnet
eine hierarchische Ordnung der Töne, während der Begriff der Anarchie von einer
demokratischen Utopie ausgeht. Cage hat diese Konzeption von Harmonie durch die
Erfahrung, daß Töne und Stille das gleiche Maß - Zeit - haben und durch sein
Verfahren des Zufalls aufgelöst. (Für die Krisen dieses Jahrhunderts hat er
schon sehr früh Auswege gesucht, die Lösungsmodelle sein könnten.)“
(Stefan Schädler, Walter Zimmermann, Anarchic Harmony, Mainz 1992, S. 12)
Das Chorstück klingt
ambivalent: Einerseits wie eine traditionell fixierte Harmonieübung,
andererseits wie anarchische Harmonie. Dies ist Musik eines Komponisten, der
einmal ein widerspenstiger Harmonieschüler war. Wir wissen das, weil Cage
einiges über seine Lehrzeit in den 1930er Jahren berichtet hat, über seine
Lehrzeit bei Arnold Schönberg:
„Für Schönberg war
Harmonie nicht einfach Kolorit, sie war Struktur. Mit ihrer Hilfe konnten die
verschiedenen Teile einer Komposition unterschieden werden.
Daher sagte er, ich würde nie fähig sein, Musik zu schreiben. ‘Warum nicht?’
‘Sie werden vor einer Wand stehen, und nicht hindurch können.’ ‘Dann werde ich
mein Leben lang mit dem Kopf gegen diese Wand rennen.’“
(John Cage, Eine autobiographische Skizze, in: Anarchic Harmony, S. 24)
Cage tat sich schwer
damit, daß Schönberg ausschließlich traditionelle Harmonie, Harmonie mit festen
und tonal zentrierten Tönen, unterrichtete, während Cage schon in seiner
Lehrzeit sich vor allem für die Komposition von Geräuschen interessierte. So
kam es dazu, daß Cage von Schönberg anderes lernte, als dieser ihm hatte
beibringen wollen. Strukturelles Denken, das Schönberg ihm an tonaler Musik
erklärt hatte, übertrug Cage auf die Komposition neuer Klang- und
Geräuschstrukturen. Ihm ging es darum, in seiner Musik dem Niveau des von
Schönberg praktizierten musikalischen Denkens gerecht zu werden. Eine Imitation
des Klangbildes von Schönbergs Musik interessierte ihn nicht - schon gar nicht
die Imitation einer Musik, in der Schönberg sich auch als Komponist
zu der von ihm gelehrten traditionellen Harmonie zurückzuwenden schien - etwa
in der 1934 komponierten neotonalen Suite in G-Dur für Streichorchester.
Hörbeispiel: Arnold Schönberg, Suite in G-Dur, RSO
Berlin, Leitung: John Mauceri, Decca 448 619-2
Schon der junge Cage
interessierte sich nicht für traditionelle Harmonien und Formen, sondern für
neue Rhythmen und Klänge. Schon 1935 schrieb er die Komposition Quartet, in der zwar die Rhythmen noch
in traditioneller Notation fixiert sind, in der aber die Spieler ihr
Instrumentarium selbst bestimmen können, so daß, anders als in einer
traditionellen Komposition, die Harmonien einerseits unbestimmt, andererseits
variabel sind.
Hörbeispiel: John Cage, Quartet, Percussion Ensemble
Mainz, Leitung: Markus Hauke. WWE 1 CD 20 15
Quartet ist eine
rhythmisch fixierte Komposition, die auf verschiedenen Geräuschinstrumenten
ausgeführt werden kann, die also in den Tonhöhen sowie in deren melodischen und
harmonischen Ordnungen unbestimmt, von Aufführung zu Aufführung variabel
bleibt, so daß durchaus unterschiedliche Interpretationen desselben Notentextes
zustande kommen können.
Hörbeispiel: John Cage, Quartet, Percussion Ensemble Mainz, Leitung:
Markus Hauke. WWE 1 CD 20 15
In der Musik von John
Cage artikuliert sich schon frühzeitig eine neuartige „Harmonie der Welt“, die
sich dieser Welt nicht im Schönklang entrückt, sondern sich ihrer Realität
stellt: Mit Geräuschen, sogar mit elektronisch erzeugten Klängen.
Hörbeispiel: Imaginary Landscape Nr.1, CD WER 6247-2
1939 schrieb John
Cage die Komposition Imaginary landscape
nr.1 - eine Partitur, in der sich Töne mit Geräuschen und instrumentale Klänge
mit (auf technisch manipulierten Schallplatten wiedergegebenen) elektronischen
Klängen
in einer strengen rhythmischen Konzeption verbinden. Cage komponiert hier eine
Harmonie neuer Art: eine Harmonie nicht der Töne, Intervalle und Akkorde,
sondern der Klangfarben und Rhythmen, der Lautstärken und Geräuschlagen. Das traditionelle Instrumentarium erweitert
er um unkonventionelle Klangerzeuger und um technische Medien - mit einer
durchaus unorthodoxen Auswahl der Klangmittel, bei der sich in unterschiedlichen
Interpretationen
durchaus unterschiedliche Resultate ergeben können.
Hörbeispiel: John Cage, Imaginary landscape nr. 1, Jan Williams
Percussion Ensemble, CD hat art 6179
Die neuen
Klangstrukturen, die John Cage komponiert, opponieren gegen die Harmonieideale
der traditionellen Musik. In Credo in Us,
einer 1942 entstandenen Komposition, treibt Cage den Konflikt auf die Spitze:
Nach den von Cage notierten Rhythmen und dynamischen Angaben sollen nicht nur
Instrumente und Geräuscherzeuger gespielt, sondern auch ein Plattenspieler
bedient werden, auf dem irgendeine, vom Interpreten auszuwählende Aufnahme
älterer oder neuerer „klassischer“ Musik abgespielt werden soll.
Hörbeispiel: John Cage, Credo in Us, Xemble München, Leitung: Nicolaus
Richter de Vroe, Aufnahme des SWR
Der Konflikt zwischen
alten und neuen Harmonien verbindet sich Cage mit dem Wechselspiel zwischen dem
Prädeterminierten und dem Unvorhersehbaren: Cage legt nicht fest, welche
klassische Schallplatte aufgelegt werden soll. Es bleibt also unvorhersehbar,
wie das Stück beginnt und wie später die Überlagerung der
Schallplattenwiedergabe mit den Geräuschinstrumenten klingen wird. Die genauen
Details der Tonkonstellationen und möglicher harmonischer Zusammenhänge hat Cage in dieser Komposition
nicht im voraus hören können, sondern sie ergeben sich in ihrer endgültigen
Gestalt erst als Resultate der klanglichen Realisation, in einer Aufführung.
Diese Musik hat deutlich gemacht,
daß klangliche Harmonie auch jenseits des vom Komponisten Vorgedachten
existieren kann. Dies haben, nicht zuletzt dank Cage, auch andere Komponisten
seines Jahrhunderts erkannt.
Hörbeispiel: Murray Schafer, The Vancouver
Soundscape, CD „riverrun“, WER 6307-2
Der kanadische
Komponist Murray Schafer hat 1973 ein Tonbandstück produziert,in dem Harmonien
vom Komponisten nicht vorgeplant, sondern gleichsam der alltäglichen
Hörerfahrung abgelauscht sind. Das Stück heißt The Vancouver Soundscape. In einer Kommentarnotiz zu dieser
Produktion Akustischer Kunst schreibt Klaus Schöning:
„Aufbewahrt sind in
dieser Soundscape Klänge von Instrumenten wie die der alten Nebelhörner von
Vancouver, die dort schon längst verstummt sind.“
(Booklet zur CD Wergo 6307-2, S. 58)
Hörbeispiel: Murray Schafer, The Vancouver
Soundscape, CD „riverrun“, WER 6307-2
Harmonie kann sich
jenseits des Vorgeplanten ergeben - beispielsweise in experimenteller Geräusch-
und Medienmusik von John Cage aus spezifischen Gegebenheiten der Aufführung
oder in der auf Tonband fixierten Vancouver
Soundscape von Murray Schafer aus den Gegenheiten und Möglichkeiten
realer Umweltsituationen und der Aufnahmetechnik. Sowohl bei Cage als auch bei
Schafer kann es geschehen, daß ein traditionell geschulter Hörer Harmonien
erkennt, die ihm vielleicht aus traditionell komponierter Musik geläufig sind,
die er in experimenteller Musik und Hörkunst aber nicht mehr in aus der
Tradition bekannte Zusammenhänge einordnen kann, da sie nicht im herkömmlichen
Sinne komponiert, da sie nicht mit anderen Harmonien nach hierarchisch abstufenden
Regeln verbunden sind. Auch scheinbar wohlbekannte Harmonien können
überraschend und rätselhaft erscheinen, wenn sie in ungewöhnlichen
Zusammenhängen erklingen, als Kontrastmodell zum Bekannten.
Musik als freigesetzter Klangprozeß -
Musik als Verarbeitung klanglicher Erfahrung: Beide Aspekte können sich
miteinander verbinden.
Besondere Möglichkeiten hierfür bieten sich in der elektroakustischen Musik
-Möglichkeiten der universellen Verwendung und Vermittlung verschiedener Klänge
und Klangwelten in neuartiger Harmonie. Ein charakteristisches Beispiel hierfür
(aus der Schlußphase des 20. Jahrhunderts) ist die 1995 entstandene Komposition
Sieben Stufen von Hans Tutschku. In diesem Stück bildet
sich eine mehrdimensionale Harmonie einerseits aus klingender Sprache - aus der
deutschen und französischen und deutschen Rezitation eines Gedichtes von Georg
Trakl -, andererseits aus einer komponierten Struktur von Akkorden und
Akkordverwandlungen. Harmonie aus neuen und vorgefundenen Klängen und deren
Transformationen. Klänge aus Sprache - sprechende Musik.
Die Musik des 20. Jahrhunderts hat Wege
gefunden nicht nur zur Freisetzung der Klänge und zur Erfindung neuer
Klangstrukturen, sondern auch zu deren Einbindung in klangliche Bewegung, in
den Strom der Klänge. Der Komponist erfindet harmonische Strukturen und
Prozesse, in denen die Verwandlung vorgefundener Sprache in musikalisch
geformten Klang konkrete Gestalt gewinnt: Musik nicht nur als starre
Konstruktion, sondern als lebendiger, sich fortwährend verändernder Klang;
nicht als festes Ziel, sondern als Weg: Auf der Suche nach der verlorenen
Harmonie, genauer: Auf der Suche nach einer neuen, umfassenden Harmonie, die
noch zu entdecken - oder vielleicht auch noch zu erfinden ist.
Hörbeispiel: Hans Tutschku, 7 Stufen, CD Enpreins
digital IMED 9947