Rudolf Frisius

„Alte“ und „Neue“ Musik - „altes“ und „neues“ Hören?

Alt und Neu - alt und neu

Was meinen wir, wenn wir von „Neuer Musik“ sprechen - vor allem dann, wenn wir uns diesen Begriff mit deklamatorisch großem N geschrieben denken oder tatsächlich schreiben? Was ist das Neue am Neuen, von dem wir hier hier sprechen - in welchem Kontext definieren wir es, und wie haben wir uns in diesem Zusammenhang das Alte vorzustellen, von dem man Neues abgrenzen muß, wenn man es präzisieren und konkretisieren will? Welche Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen lassen sich vorstellen zwischen „Neuer“ („neuer“) Musik und „neuem“ („Neuem“) Hören (mit großem oder kleinem n hier und da), zwischen „alten“ („Alten“) und „neuen“ („Neuen“) Aspekten des Musik und des Hörens (mit großen oder kleinen Anfangsbuchstaben des Neuen und des Alten)?

 

„Altes“ und „Neues“ lassen sich in vielfältigen Erfahrungszusammenhängen voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen. In der Musik können sich dabei aber besondere Probleme ergeben, die heute selbst in benachbarten Künsten nicht (oder nicht mehr) vergleichbar wichtig sind: „Neue Musik“ erscheint heute als wenig attraktiver Begriff - und dies in einem Zeitalter, das angeblich von großer Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem geprägt ist. Die Vorsicht vor Neuer Musik hingegen geht so weit, daß eine große deutsche Sendeanstalt in einem ihrer Programme den Begriff „Neue Musik“ kürzlich durch einen anderen ersetzt hat: Wer am späten Montagabend das Kultur-Hörfunkprogramm des Südwestrundfunks einschaltet, bekommt dort nicht „Neue Musik“ geboten, sondern „JetztMusik“. Dieser Begriff ist erstaunlich weit gefaßt; denn in letzter Zeit dominierte auf diesem Sendeplatz eine Reihe, die per definitionem nicht die jüngste Gegenwart behandelt, sondern die (immerhin jüngste) Vergangenheit, nämlich die Musik des 20. Jahrhunderts - facettenreich aufbereitet in einer umfangreichen „Hörgeschichte“.

 

„Neu“ ist ein Relationsbegriff - ausgerichtet auf den ständig wechselnden Bezugspunkt der jeweils unmittelbaren Gegenwart. „Neue Musik“ ist deswegen ein Begriff, der Verschiedenes bedeuten kann - je nach dem Zeitpunkt seiner Verwendung und nach der Verallgemeinerung seiner Bedeutung über die unmittelbare Gegenwart hinaus.

 

Dies prägt auch die Frage danach, ob man - analog zum Begriff „Neue Musik“ - auch einen Begriff „Neues Hören“ zur Diskussion sollten sollte. Hier wie dort kann sich die Frage nach der Bedeutung des Neuen, Gegenwärtigen, zum Alten, Vergangenen stellen.

 

Neues - Heutiges

Neues und Altes - neue und alte Musik - neues und altes (Musik-)Hören: Diese und ähnliche Gegenüberstellungen könnten Fragen aufwerfen, die sich auf die Relativität des Neuen richten, z.  B.: Was ist „neu“ - das bis heute nicht bewältigte Gestrige oder das bis heute noch völlig Unbekannte, Unerschlossene?

 

Das hier angesprochene Problem läßt sich auch von einer anderen Seite aus angehen: Was ist neu - was läßt sich wie und wann als neu erkennen? Inwieweit wird Neues geprägt nicht nur durch das unmittelbar Gegenwärtige, sondern auch durch das jüngst Vergangene, das noch in das (bis jetzt unabgeschlossene) Heutige hineinwirkt? - Diese und ähnliche Fragen lassen sich überprüfen, beispielsweise in des aktuellen Situation des September 2002.

 

Etwa ein Jahr nach den Flugzeug-Attentaten auf die Twin Towers in New York (und auf das Pentagon in Washington, von dem in diesem Zusammenhang seltener die Rede ist) liegt es nahe, nach der Bedeutung dieser Ereignisse für künftige Entwicklungen zu fragen - beispielsweise nach der Bedeutung ihres Jahrestages in einer Situation neuer Kriegsgefahr: Kann Neues von gestern wichtig werden auch für heute? Was ist und bleibt bedeutsam, wenn wir „Neues vom Tage“ im ständigen Wandel der Aktualität erleben?

 

Die Schwierigkeit, relevantes (auch für die Zukunft bedeutsames) Neues auch in der verwirrenden Vielfalt des Heutigen, in der Informationsflut der modernen Mediengesellschaft zu entdecken und adäquat zu bewerten, ist offensichtlich - ebenso wie die Schwierigkeit, solche Versuche der Entdeckung und Bewertung aus damaliger oder späterer Sicht zutreffend zu beurteilen. Erinnern wir uns, um dies zu konkretisieren, beispielsweise an zwei Reaktionen auf den 11. September 2001, die diesseits und jenseits des Musiklebens zu registrieren waren:

 

Kurz nach den Ereignissen des 11. September 2001 verkündete ein bekannter Journalist im deutschen Fernsehen das Ende das Spaßgesellschaft. Ein bekannter deutscher Komponist (aus der älteren Generation) beschrieb in einem Pressegespräch die (langfristig geplanten und perfekt ausgeführten, in massenhaftem Tod mündenden) Attentate als größtes Kunstwerk aller Zeiten. Sein statement provozierte damals heftige Diskussionen und (neben einzelnen Reaktionen des Verständnisses und der Verteidigung gegen mögliche Mißverständnisse) scharfe Reaktionen nicht nur von Politikern und Publizisten, sondern auch aus dem Munde prominenter Kollegen. Einige Zeit später meldete sich - in der (inzwischen eingestellten) Hochglanz-Wochenendbeilage einer großen deutschen Tageszeitung - ein jüngerer Komponistenkollege nicht nur mit Kritik, sondern auch mit einer über diese hinaus führenden Frage: Hat der 11. 9. 2001 - unabhängig vom Streit über seine Bedeutung - eine wichtige Zäsur vielleicht nicht nur für die allgemeine Zeitgeschichte markiert, sondern auch für die (Neue) Musik?

 

Wer etwa ein Jahr später Spuren des damals Geschehenen im Informationsangebot der Massenmedien, vor allem in auditiven und audiovisuellen Medien sucht, kann feststellen, daß, vor allem in Fernsehbeiträgen, die Musik eine wichtige Rolle spielt - aber keineswegs neuartige Musik, die auf diese neuartigen Ereignisse zu reagieren versuchte, sondern Musik, deren Klangbild und Emotionalität, die an Bekanntes anknüpft und es offensichtlich einem Massenpublikum erlauben soll, den Schock des Neuartigen (insbesondere der Fernsehbilder) in bereits bekannte und vertraute Erlebnis- und Empfindungswelten zu integrieren - sei es auch in Popsongs oder spontan erfundenen Liedern. Symptomatisch ist die markante Verwendung eines Beispiels, das heute zu einem Klassiker der Moderne geworden ist, aber zu seine Entstehungszeit eine Extremposition Neuer Musik markiert hat: Das Orchesterstück The Unanswered Question von Charles Ives. Diese 1906 in New York entstandene Komposition konfrontiert - in damals völlig neuartiger Weise - tonale und atonale Elemente. Im Fernsehfilm verwendet wurde allerdings nur die (später nachkomponierte) Einleitung, in der die atonalen Einsprengsel noch fehlen und die deswegen, als getragener Choral in G-Dur, wie eine konventionelle Trauermusik wirken kann. Das Fernsehen dokumentiert hier das zeitgeschichtlich Neue in der Untermalung mit Neuer Musik aus früherer Zeit - in sinnentstellender, traditionell umfunktionierender Verkürzung.

 

Die Frage liegt nahe: Worauf können Fragen nach dem Neuen heute zielen, wenn sie sich, über die unmittelbare Tagesaktualität hinaus, nur auf das schon heute oder spätestens morgen Veraltete zielen - sei es in der Musik, sei es in anderen Zusammenhängen? Können sie beispielsweise bei der aktuellen Situation seit dem 11. 9. 2001 ansetzen oder müssen sie, um das Verständnis größerer Entwicklungszusammenhänge zu ermöglichen, zeitlich noch weiter zurückgreifen - z. B. bis zum Umbruchsjahr 1989 oder noch weiter zurück, etwa bis 1968?

 

Offensichtlich ist es schwierig, seismographisch exakte Reaktionen auf zeitgeschichtliche Veränderungen auch im Bereich der Musik - oder gar in speziellen Sektoren des aktuellen Musiklebens - exakt zu lokalisieren und rechtzeitig zu erkennen. Dies gilt nicht zuletzt für „Neue Musik“ im engeren Sinne - für avantgardistische Musik, die heute entsteht und die - in ihrer zeitaufwendigen kompositorischen Ausarbeitung und aufführungspraktischen Präparation - auf aktuelle Zeitereignisse in der Regel nur zeitverzögert reagieren kann (es sei denn, innovative Künstler spürten künftige Entwicklungen bereits im voraus, wofür sich Beispiele etwa aus der Musikgeschichte vor 1914 anführen ließen).

 

Wir wissen inzwischen (oder wir glauben zumindest, es zu wissen), wie stark die allgemeine zeitgeschichtliche Entwicklung im vorigen Jahrhundert auch die Musik geprägt hat - vor allem durch beide Weltkriege, vielleicht auch in Jahren weltweiter Veränderungen wie 1968 oder 1989. Daß die beiden Weltkriege auch wichtige musikgeschichtliche Zäsuren, zumindest in der abendländischen Entwicklung, bilden, wird kaum jemand bestreiten. Für 1968, ebenso noch mehr für 2001, sind entsprechende Aussagen offensichtlich schwieriger: Die von wichtigen Ereignissen dieser Jahre ausgelösten längerfristigen Veränderungen sind weniger sinnfällig (auch in ihren Auswirkungen im Bereich der Musik, z. B. auf die Lebensumstände prominenter Komponisten und Interpreten), und sie lassen sich, zumal im letzteren Falle, heute noch nicht in allen Aspekten zweifelsfrei analysieren.

 

Ungewißheiten dieser Art legen es nahe, bei der Frage nach neuen Aspekten der Musik und des Hörens „Neues“ nicht nur in der unmittelbaren Tagesaktualität zu suchen, sondern auch im Zusammenhang größerer Entwicklungen, die bis heute nicht abgeschlossen und insofern von aktueller Bedeutung geblieben sind.

 

Musik und Hören - Neue Musik und JetztMusik

„Alte“ und „neue“ Musik - altes und neues Hören: Solche und ähnliche Unterscheidungen sind geprägt von verführerischen, aber womöglich auch irreführenden Analogien: Veränderungen der Musik und Veränderungen des Hörens, die womöglich auch zu neuen Abgrenzungen zwischen Altem und Neuem führen, erfolgen offensichtlich nicht unabhängig voneinander. Wenn man aber die Zusammenhänge zwischen beiden genauer zu bestimmen versucht, stößt man auf zahlreiche Schwierigkeiten, z. B.: Welche dieser Veränderungen sollte man als Ursache beschreiben, welche als Wirkung? Als Ursache oder Wirkung wovon - und gegebenenfalls in welchen Wechselwirkungen?

 

Antworten auf diese und ähnliche Fragen können durchaus unterschiedlich ausfallen - je nachdem, wie eng oder weit der Begriff des Neuen gefaßt wird; ob man sich eher dem schwierigen Extem(punkt) der „JetztMusik“, der Musik der unmittelbaren Gegenwart, nähert oder dem entgegengesetzten Extrem der „Neuen Musik“ in größeren Zusammenhängen, die weit in das vorige Jahrhundert zurückweisen können.

 

„JetztMusik“ ist ein ansprechender Spartenbegriff, der mit seiner eigenen Unmöglichkeit kokettiert. Primär zielt er keineswegs auf die Vielfalt aller Musik, die heute - und nur heute - entsteht und die schon morgen der Vergangenheit angehören kann: Musik aus aller Welt - Musik, die allenthalben nicht nur live vorgeführt und gehört werden kann, sondern auch über alte und neue Medien gesendet und empfangen, konserviert und verbreitet: eingebettet in vielfältige komplexe Erfahrungszusammenhänge, bei denen meistens auch das Hören nicht mehr isoliert werden kann von anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen, insbesondere vom Sehen.

 

Der neue Slogan „JetztMusik“ ist - ebenso wie die ältere(!) Bezeichnung „Neue Musik“ - ein Begriff, der die eigene Enge aufzubrechen versucht. Im Bereich aktueller Musik distanziert er sich weitgehend von funktionell gebundenen und populären Sektoren des Musikbetriebes, und er verlagtert den Akzent von der „U-Musik“ auf die „E-Musik“ - genauer: auf einen der engsten Teilsektoren des letzteren, auf Musik der klassischen Avantgarde. In ihrer kompositionstechnischen und aufführungspraktischen Disposition und in ihren Klangmitteln ist diese Musik - zumal dann, wenn es sich um Auftragskompositionen für konventionelle Besetzungen, z. B. Streichquartett oder Symphonieorchester handelt - oft weniger „modern“ oder „neu“ als aktuelle (nicht nur exklusiv-experimentelle, sondern sogar auch populäre) Medienmusik. Überdies koinzidiert das chronologisch Neue in dieser Musik nicht immer mit dem Inhaltlichen Neuen - in dem Sinne, daß große Nähe zur „JetztMusik“ nicht immer Ansprüchen genügt, für die ambitionierte „Neue Musik“ einzustehen versucht.

 

Neue Musik - vor allem solche, die mit einem emphatischen großen N geschrieben wird - verweist darauf, daß im Bereich der Musik (vor allem der „E-Musik“, der „klassischen Musik“ im weitesten Sinne) „Altes“ und „Neues“, auch in ihren Relationen zueinander, anders abgegrenzt, aufgefaßt und gewichtet werden (können) als in anderen Bereichen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens: Musikalische Innovationen in „Neuer Musik“ sind selten populär - ebenso selten wie ein ihnen adäquates „Neues Hören“. Dies gilt um so mehr, weil umstritten ist, was allein die Musik (ohne Kombination mit anderen, womöglich  semantisch verdeutlichenden Kunst- und Präsentationsformen) zu weitreichenden Innovationen beizutragen vermag und wie diese mit Veränderungen des Hörens zusammenhängen können - auch mit deren Einbettung in Erfahrungskontexte, die über den engeren Bereich der Musik hinausführen. Die hier sich bietenden Möglichkeiten lassen sich durchaus unterschiedlich einschätzen - je nachdem, ob und inwieweit Musik darauf angelegt ist, der Öffnung zu anderen Erfahrung den Weg zu bereiten auch durch Überwindung ihrer eigenen traditionellen Abgrenzungen, z. B. durch Öffnung der Musik zur realen Hörwelt.    

 

Musik - Hörwelt

Neue Entwicklungen in der Musik - neue Entwicklungen in der Alltagserfahrung und im allgemeinen Bewußtsein: Beides läßt sich nicht ohne weiteres aufeinander beziehen, da Musik in bestimmten Teilbereichen (z. B. in vielen Sektoren der „avantgardistischen E-Musik“) sich von außermusikalischen Realitäten mehr oder weniger weit zu distanzieren scheint. Deswegen findet diese Musik - jenseits des populär oder traditionell Etablierten - in der breiteren Öffentlichkeit und in aktuellen kulturellen Diskussionen nicht immer die allgemeine Beachtung, die man ihr wünschen möchte. Andererseits wächst das Interesse an Fragen, die weniger den abgehobenen ästhetischen Aspekt der Musik betreffen als ihren konkret sinnlichen Erfahrungshorizont, die alltägliche Hörerfahrung. Beispielsweise brachte ein großes deutsches Nachrichtenmagazin im August 2002 in zwei aufeinanderfolgenden Nummern je einen großen Artikel über aktuelle Probleme des Hörens und der Hörwelt:

 

- „Dröhnen über dem Kopf. Nächtlicher Lärm erhöht den Blutdruck und fördert Asthma, so das Ergebnis einer Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes. Die Fluglobby hingeen leugnet gesundheitliche Folgen von Krach.“

(Veronika Hackenbroch, in: DER SPIEGEL, Nr. 33 / 12.8. 02, S. 138 und 139)

 

- „Wimmern aus der Tiefe. Forscher horchen in die Tiefsee - und hören dort merkwürdige Geräusche. Sind es Rufe mysteriöser Meeresgiganten - oder nur Vulkane und ächzende Eisplatten?“

(Philip Bethge, ind: DER SPIEGEL, Nr. 34 / 19. 8. 02, S. 148 und 150)

 

Beide Artikel könnten den Lesen daran erinnen, daß Fragen nach neuen Aspekten des Hörens heute nicht nur im engeren Zusammenhang der Musik bedeutsam sind, sondern darüber hinaus auch im weiteren Kontext der allgemeinen Hörerfahrung - bei der Untersuchung von Umweltklängen und ihrer Bedeutung für den Menschen.

 

Die Gründe hierfür reichen teilweise historisch weiter zurück, aber sie sind bedeutsam geblieben bis in die unmittelbare Gegenwart hinein: Die Musik und das Hören haben sich, schon lange vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, grundlegend verändert - und zwar unter dem Einfluß von Entwicklungen nicht nur der Musik selbst, sondern vor allem auch der (musikübergreifenden und außermusikalischen) Wirklichkeit:

 

- Einerseits veränderte sich im Zeitalter der Maschinen die akustische Umwelt. Schon in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts führte dies zu Konsequenzen auch im Bereich der Musik - z. B. bei Luigi Russolo, der seit 1913 Musik zur „Kunst der Geräusche“ mit einem neu entwickelten Geräuschorchester umfunktioniert hat; später auch auch in Geräusch-Kompositionen für konventionelle oder unkonventionelle Schlaginstrumente etwa von Edgard Varèse oder des jungen John Cage.

 

- Andererseits hat die Technisierung auch im Bereich der Musik selbst ihre Spuren hinterlassen:

Seit 1877, seit der Erfindung des Phonographen durch Thomas Alva Edison, gibt es Möglichkeiten der Speicherung und massenweisen Reproduktion beliebiger Hörereignisse - nicht nur von aufgenommener Musik, sondern auch von aufgenommener Sprache und und von aufgenommenen Geräuschen. -

Nach dem 1. Weltkrieg verbreitete sich das Radio - zunächst gleichsam als ziviles Abfallprodukt von zuvor für militärische Zwecke entwickelten Funktechniken.

 

Technische Verfahren, die die Speicherung, Vervielfältigung und weltweite Verbreitung von beliebigen Hörereignissen, also auch von Musik, ermöglichten, veränderten die gesamte Hörerfahrung, und mit ihr auch die Musik. Im Zusammenhang einer längeren technischen Entwicklung spielten auch zahlreiche Veränderungen der Aufnahme- und Wiedergabetechnik eine wichtige Rolle, und nach einiger Zeit (ansatzweise seit den späten 1920er Jahren, in größeren Dimensionen einsetzend etwa 20 Jahre später) kam es auch dazu, daß Innovationen im Bereich der technisch produzierten Bilder, des Stummfilms, auf den Bereich der technisch produzierten Klänge übertragen werden konnten: Auf Hörstücke und Musikstücke - mit Montagen und technischen Verarbeitungen aufgenommener Klänge.

 

Auffällig ist, daß vor allem die wichtigsten Verfahren der Montage und der technischen Verarbeitung bei Klängen sich erst wesentlich später durchgesetzt haben (seit den 1950er Jahren) als bei Bildern (wo diese Entwicklung im Falle der Photographie schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Falle des Films schon im frühen 20. Jahrhundert begonnen hat). So erklärt sich auch, daß die Konsequenzen technischer Veränderungen für das Sehen wesentlich früher erkannt, praktisch ausgenutzt und theoretisch reflektiert wurden als für das Hören. Technisch produzierte Seh- und Hörkunst entwickelten sich weitgehend asynchron - und dementsprechend ergaben sich unterschiedliche Konsequenzen:

- einerseits für Musik und Akustische Kunst  im Verhältnis zur Hörwelt andere Konsequenzen als für Bildende Kunst, Photographie und Film im Verhältnis zur Sehwelt;

- andererseits bei Versuchen der Integration von Hörbarem und Sichtbarem (wenn z. B. seit den Anfangszeiten des Tonfilms die Filmmusik einen technisch-ästhetischen Entwicklungsrückstand gegenüber der visuellen Filmgestaltung hatte, der sich auch in der Folgezeit nicht ohne weiteres aufholen ließ und bis heute in zahlreichen aktuellen Beispielen anachronistischer Filmmusik studiert werden kann).

 

Die Frage nach „Alter“ und „Neuer“ Musik ebenso wie die Frage nach „altem“ und „neuem“ Hören verweist auf spezifische Schwierigkeiten bei Versuchen, das Verhältnis der Musik zur realen (Hör-)Erfahrung und zur musikübergreifender Erfahrung genauer zu bestimmen.

 

Tonkunst - Hörkunst

„Alte“ und „Neue“ Musik, „altes“ und „neues“ Hören lassen sich genauer bestimmen in Aspekten ihres spezifisch unterschiedlichen Verhältnisses zur Realität - zu übergeordneten Bereichen der komplexen Erfahrung. Grenzen zwischen „Altem“ und „Neuem“ lassen sich dabei in der Weise ziehen, daß unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge jeweils in unterschiedlichen Stadien der technischen Entwicklung (einschließlich ihrer Zusammenhänge mit allgemeineren Aspekten der ökonomischen und politischen Entwicklung) miteinander verglichen werden.

 

Was ist typisch für Neue Musik und neues Hören? Was hat sich hier verändert im Verhältnis zu früheren Vorstellungen, die in diesem Kontext ihren bisherigen Stellenwert verloren haben und „alt“ geworden sein könnten?

 

Eine erste Antwort läßt sich finden, wenn man den Begriff „Musik“ mit zwei anderen Begriffen vergleicht:

- mit dem engeren Begriff „Tonkunst“, der in früheren Epochen der in früheren Epochen der abendländischen Musikgeschichte (bis in das 19. Jahrhundert hinein) das Wesen der Musik einigermaßen zutreffend zu beschreiben schien;

- mit dem weitern Begriff „Hörkunst“, der vor allem neueren Entwicklungen, aber auch größeren historischen und weltkulturellen Zusammenhängen besser gerecht zu werden scheint.

 

Tonkunst definiert sich von ihren kleinsten Elementen aus - ausgehend von den einzelnen Tönen und ihren Beziehungen zueinander. Es geht also um Reduktion und Abstraktion - um zwei Vorgänge, die vom konkreten Klangerlebnis so weit hinwegführen, daß seine Darstellung in abstrakten Schriftsymbolen angemessen erscheinen kann - in den Symbolen der traditionellen Notenschrift:

- Der einzelne Ton wird bestimmt vor allem durch seine (eindeutig bestimmte, für eine bestimmte Zeit  unverändert festgehaltene) Höhe. (In der Notenschrift ist sie fixiert durch Notenschlüssel und Position im Fünf-Linien-System der Noten). Die Festlegung exakter Tonhöhen erscheint als wichtigster, auch historisch erster Schritt des tradierten musiktheoretischen Denkens.

-  Als zweitwichtigste Grundeigenschaft des Tones gilt seine Dauer. (In der Notenschrift ist sie fixiert durch die Form des Notenzeichens, z. B. des Notenhalses). In der abendländischen Entwicklungsgeschichte der Musiktheorie und der Notenschrift erscheint die Fixierung von Zeitwerten und Zeitverhältnissen als zweiter Schritt. 

- Offensichtlich noch geringer gewertet wird in der Denkweise der traditionellen Musiktheorie die dritte Grundeigenschaft des einzelnen Tones: seine Lautstärke. (Sie wird in der traditionellen Notenschrift nicht im Grundzeichen selbst, sondern mit Zusatzzeichen dargestellt, z. B. verbal mit unterschiedlichen Graden von laut und leise bzw. piano und forte oder grafisch mit Crescendo- oder Decrescendo-Gabeln.) Dynamische Bezeichungen haben sich in der europäischen Notenschrift erst relativ spät durchgesetzt (seit dem 18. Jahrhundert).

- Die Klangfarbe hat im abendländischen Musikdenken noch später ihren Platz gefunden. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit blieb die klangliche Ausführung der exakt notierten Melodien, Harmonien und Rhythmen in der Regel unbestimmt und variabel, und erst in der Folgezeit entwickelten sich allmählich Ansätze zu einer neuen musikalischen Denkweise, die Töne und Rhythmen nicht abstrakt, sondern in unlösbarer Verbindung mit konkreten, spezifischen Klangfarben vorstellt. In traditionellen Partituren lassen sich klangfarbliche Details allenfalls andeutungsweise und indirekt ablesen: aus Instrumentalangaben, Spiel- und Artikulationsanweisungen.

 

Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe sind Grundbestimmungen des einzelnen Tones (bzw. Klanges), wie wir sie auch aus der klassischen Akustik kennen. Die Eigenschaft der (Ton- bzw. Klang-) Dauer verweist auf die Dimension der Zeit; nur in Ausnahmefällen traditionellen Musikdenkens wird komplementär hierzu auch der (Ton- bzw. Klang-)Ort bzw. der Raum mit seinen drei Dimensionen berücksichtigt. Alle diese Bestimmungen sind gleichwertig für den Naturwissenschaftler, aber nicht für den traditionell konditionierten Musiktheoretiker und Musikhörer. Letzterer achtet vor allem auf Melodien und Rhythmen, die er mitsingen oder zu denen er sich bewegen kann. So ergeben sich bestimmte Grundmuster traditionell geprägten Musikhörens - und zwar nicht nur bei Laien, sondern auch bei mehr oder weniger professionell geschulten Hörern: Ins Bewußtsein dringen nicht konkret hörbare Klänge, sondern abstrakt vorgestellte, heraushörbare oder erinnerbare Töne, Tonverbindungen und Rhythmen. Die Klangfarben der Stimmen und Instrumente sind wichtig für die konkrete Wirkung auf den Hörer; aber sie erscheinen sekundär und austauschbar, wenn z. B. jemand eine (etwa über Lautsprecher gehörte) Melodie nachsingt oder auf einem Instrument nachspielt.

 

Ganz anders ist es, wenn Musik als Hörkunst erlebt wird: als Komplex konkreter Klangereignisse, in denen sich die Vielfalt unserer alltäglichen Hörerfahrung widerspiegelt. Dies ist am ehesten dann möglich, wenn - sei es in Musik, sei es in verwandten Bereichen z. B. mit künstlerisch gestalteten Stimmlauten und Geräuschen - aus der alltäglichen Hörerfahrung bekannte Klänge über Lautsprecher gehört werden, z. B. interessante Stimmlaute, Klänge oder Geräusche im Soundtrack eines Films. Auf neue Weise gehört werden solche Hörereignisse, wenn es für die Wahrnehmung unwesentlich wird, auf welchen realen Vorgang sie verweisen (wie z. B. ein klappendes Holzgeräusch auf das Zufallen einer Tür), und wenn statt dessen die Frage wichtiger wird, wie sie tatsächlich klingen - wie die einzelnen Klänge beschaffen sind, verlaufen und sich miteinander verbinden.

 

Als interessanter Sonderfall läßt sich in diesem Zusammenhang Helmut Lachenmanns Konzeption einer instrumentalen musique concrète anführen. Diese unterscheidet sich von der ursprünglichen, 1948 durch Pierre Schaeffer erfundenen musique concrète dadurch, daß ungewöhnliche Klänge und Klangkonstellationen hier nicht im Tonstudio vorproduziert, sondern auf konventionellen Instrumenten während einer Konzertaufführung live erzeugt werden. Bekanntes und Unbekanntes, altes und neues Hören definieren sich in beiden Fällen auf verschiedene Weisen: In einer konkreten Tonbandmusik wie z. B. der Etude pathétique von Pierre Schaeffer hört man aus der Umwelt bekannte Klänge (z. B. balinesischen Priestergesang, amerikanische Akkordeonmusik oder Fragmente aus einer französischen Textrezitation) in neuartigen Montagen und Mischungen; in Helmut Lachenmanns instrumentaler musique concrète,  z. B. in den Solostücken Pression für Violoncello oder Gueoro für Klavier oder in seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, hört (und, als Teilnehmer an einer Live-Aufführung, sieht) man, wie bekannten Instrumenten ungewöhnliche Klänge entlockt werden; der Hörer der Aufführung kann die Produktion der Klänge mit verfolgen wie in einer traditionellen Live-Aufführung - aber er bekommt Klangergebnisse zu hören, die anders gestaltet und häufig auch anders notiert sind als in der traditionellen Musik, z. B. in neuartigen Kombinationen traditioneller und grafischer Notenzeichen.

 

Vielfältige Anregungen zu neuem Hören kann auch ein traditionell geschulter Hörer bekommen - z. B. dann, wenn das, was er hört, seinen Hörgewohnheiten nicht entspricht, ihn aber trotzdem interessiert, z. B.:

- Schlagzeugmusik, in der vielleicht mehr oder weniger bekannte rhythmische Gestaltungen zu erkennen sind, aber keine herkömmlichen Melodien (sei es in außereuropäischer, sei es in neuerer abendländischer Rhythmus-, Perkussions- oder Geräuschmusik)

- Vokalmusik jenseits des traditionellen Belcanto (sei es in außereuropäischer, sei es in neuerer abendländischer Vokalmusik - oder auch in neuen Kunstformen im Grenzbereich zwischen Sprache und Musik)

- Hörstücke mit aufgenommenen „realistischen“ Geräuschen (z. B. aus der Natur oder aus der technisch geprägten Arbeitswelt)

- Hörstücke mit neuartigen, experimentell erzeugten Klängen (vokal, instrumental oder apparativ, u. U. technisch verfremdet oder bearbeitet)

 

Wer solche und ähnliche Musik- und Hörstücke aufmerksam rezipiert, könnte dadurch angeregt werden, auch in anderen Zusammenhängen ähnlich zu hören - z. B. könnte er auch in traditioneller abendländischer Musik auf Klangverläufe, Klangschichten und Klangprozesse achten, auf scharf oder weich ein- oder aussetzende, starre oder bewegliche, zarte oder massive, kompakte oder filigrane Klänge...

 

Wandlungen des Hörens im Zeitalter des technischen (Re-)Produzierbarkeit

Die Veränderungen des Hörens sind gewaltig. Nur wenige haben sie bemerkt bisher, aber wir alle haben teil an ihnen. Dieser Satz ist ein Zitat. Man könnte fragen, ob er für die heutige Zeit zutrifft. Immerhin ist er fast ein halbes Jahrhundert alt. Man findet ihn auf einer (erstmals 1963 veröffentlichten) Langspielplatte, die in eine seinerzeit neue Musikart einführen sollte: in die Elektronische Musik. (Herbert Eimert: Elektronische Musik. I. Akustische und theoretische Grundbegriffe. II. Zur Geschichte und zur Kompositionstechnik. WER 60006). Dieser plakative Satz ist nicht nur im „naturgetreuen“ Klangbild (im Sinne der „high fidelity“) zu hören, sondern auch in technischer Verfremdung. Neue Aspekte des Hörens werden auf diese Weise unmittelbar sinnfällig: Stimme und Sprache klingen virtuell über Lautsprecher - anders als „in Wirklichkeit“, in einer „realen“ Live-Situation. Infolgedessen werden sie auch anders gehört: Der Hörer achtet vorrangig nicht mehr darauf, wer hier spricht und was hier gesagt wird. Wichtiger ist für ihn das neuartige Klangbild der technisch manipulierten Stimmlaute aus dem Lautsprecher, ihre Loslösung aus bereits bekannten Erfahrungszusammenhängen.

 

Die hier angesprochenen Veränderungen des Hörens sind keineswegs neuesten Datums, sondern sie reichen viele Jahrzehnte zurück: Über die ersten Produktionen elektronischer und elektroakustischer Musik zurück bis zu deren ersten theoretischen und praktischen Ansätzen (z. B. bei Busoni und Theremin), bis zu den Anfängen des Tonfilms (um 1930) und des Hörfunks (in den frühen 1920er Jahren) oder der Tonaufzeichnung (1877). Neu ist das damals Begonnene bis heute geblieben, weil die damals begonnenen Veränderungen bis heute nicht abgeschlossen, geschweige denn bewältigt sind: Die weitgehende Herauslösung der sinnlichen Erfahrung aus dem Hier und Jetzt einer Live-Situation - die Herausbildung neuer Erfahrungssituationen insbesondere für Hören und Sehen: Konservierbarkeit und massenhafte Reproduzierbarkeit - weltweite Verbreitung - technische Manipulierbarkeit auditiver, visueller und audiovisueller Ereignisse.

 

Hören und Sehen - Stimme und Hörwelt

Technische Innovationen haben die Hörwahrnehmung in ähnlicher Weise verändert wie die Sehwahrnehmung. Dies läßt sich exemplarisch verdeutlichen in beiden Bereichen - z. B. sinnfällig an Beispielen der Wahrnehmung der menschlichen Stimme und des menschlichen Gesichtes: Photographie und Film haben uns insbesondere das individuelle menschliche Gesicht neu erschlossen, auch weit über die Lebenszeit einer photographierten oder gefilmten Person hinaus. Die Tonaufzeichnung hat vergleichbare Möglichkeiten der Konservierung von Stimmen erschlossen; allerdings spielen technisch konservierte Stimmen im öffentlichen Bewußtsein bis heute eine weit weniger wichtige Rolle als technisch konservierte Gesichter: Das von Andy Warhol multiplizierte Photo von Marilyn Monroe, ein Massenmedium zweiten Grades, hat maßgeblich beigetragen zu einer weiten Verbreitung visueller pop art im öffentlichen Bewußtsein; ein vergleichbares Beispiel avancierter populärer Hörkunst gibt es bis heute nicht.

 

Wir wissen seit langem, wie weitgehend die Neuerungen des (1895 erfundenen) Stummfilms unsere Sehwahrnehmung verändert haben. Vergleichbare Veränderungen des Hörens unter dem Einfluß auditiver und audiovisueller Massenmedien haben sich im allgemeinen Bewußtsein bis heute noch nicht so weitgehend durchgesetzt. Das neue Hören ist, in stärkerem Maße als das neue Sehen, immer noch der Konfrontation mit dem unbewältigten Alten ausgesetzt, z. B. der Gewöhnung an physisch präsente Live-Interpreten (Sänger oder Instrumentalisten), deren Anwesenheit von den Medien notfalls sogar simuliert, virtuell vorgetäuscht wird.

 

Neue Aspekte der Musik und des Musikhörens ergeben sich auch heute noch oft aus der aktuellen Auseinandersetzung mit technischen Innovationen aus früherer Zeit, zumal im Kontext von Stimme und Sprache: Vor dem Zeitalter der Tonaufzeichnung ließ vokale Musik sich nur mündlich oder in abstrahierenden Notationen überliefern. Notierte Vokalmusik orientierte sich nicht am konkreten Klangbild individueller Stimmen, sondern am Gesang mit fest vorgegebenen Tonhöhen und Rhythmen. Der reale Stimmklang mit seinen Geräuschanteilen (mit den Konsonanten, auch mit den Atemlauten), mit seinen gleitenden Farbveränderungen und seinen flexiblen Rhythmen emanzipierte sich erst relativ spät - zusammen mit und beeinflußt von der elektroakustischen Musik (vor allem in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts; frühere Ansätze blieben weitgehend vereinzelt, z. B. die Aufwertung der Konsonanten in Stabreim-Strukturen Richard Wagners und die Etablierung der Sprechstimme bei Arnold Schönberg).

 

Die Vielfalt der (menschlichen, auch der tierischen) Stimmlaute läßt sich auffassen als Mikrokosmos der komplexen Vielfalt in der gesamten Hörwelt. Neue Musik mit Stimmen, die sich dieser Vielfalt stellt, läßt sich beschreiben als sinnfälliges Kontrastmodell zu traditioneller Musik und zu traditionell geprägtem (Musik-)

Hören: Während traditionelle Konzeptionen einer werkorientierten Tonkunst und  Vokalmusik sich an festen Tonhöhen und Tonbeziehungen und am Belcanto-Ideal orientierten, hat sich im Bereich der Neuen Musik eine Vielfalt alternativer Ansätze entwickelt. Neue Vokalmusik, die über Weiterentwicklungen traditionellen Musikdenkens hinausgeht (sei es auch nur in deren komplexer, z. B. mikrotonal durchstrukturierter Erweiterung), kann sich dabei weitere Erfahrungsräume erschließen, die zuvor zumindest in der abendländischen Musik keine konstitutive Rolle gespielt hatten - z. B. experimentelle Möglichkeiten des imitativen, expressiven oder semantischen Einsatzes der Stimme in freien Äußerungen (auch jenseits der Grenzen des in traditioneller Notenschrift Fixierbaren). So ergeben sich Perspektiven neuen Hörens in der Öffnung vokaler Praxis einerseits zu Vokalpraktiken in verschiedenen Kulturkreisen, andererseits zum experimentellen Umgang mit Stimme, auch in ihrer lautlichen Reaktion auf die Vielfalt der modernen Hörwelt. Hier ergeben sich Ansätze der Verwandlung vokaler Tonkunst in vokale Hörkunst - Ansätze, die auch dem Hörer neue Perspektiven eröffnen können im Umgang nicht nur mit neuer, sondern auch mit älterer Vokalmusik.   

 

Verschiedene Musiken - verschiedene Hörweisen

Im Eröffnungsstück eines (1889 entstandenen) vierteiligen Zyklus für Vokalquartett und Klavier (op. 92) hat Johannes Brahms ein Gedicht von Georg Friedrich Daumer vertont:

 

O schöne Nacht!

Am Himmel märchenhaft

erglänzt der Mond in seiner ganzen Pracht;

um ihn der kleinen Sterne liebliche Genossenschaft.

 

O schöne Nacht!

Es schimmert hell der Tau am grünen Halm;

mit Macht im Fliederbusche schlägt die Nachtigall.

Der Knabe schleicht zu seiner Liebsten sacht.

O schöne Nacht!

 

Wer diese Gedichtvertonung hört, kann sich fragen, welcher Aspekt des Gedichtes hier für Brahms im Vordergrund steht: Die konkreten Inhalte (die im Text angesprochenen Bilder der Nacht: Mond und Sterne - Pflanze und Tier, der Mensch) oder ihre Anordnung in der Form des Gedichtes. Die genauere Analyse zeigt, daß beides möglich ist: Wir finden Tonmalerei zu einzelnen Schlüsselwörtern, aber auch eine diese überwölbende Formdisposition, die Verwandtschaften der Vers- und Strophengliederung aufzeigt: bald im vollständigen Quartett (für den zentralen Vers, der Anfang, Zentrum und Schluß des Gedichtes bildet), bald aufgelöst in Einzeltstimmen und Duo-Konstellationen. Auch die thematische und harmonische Konstruktion des Stückes ist doppeldeutig: Einerseits folgt sie überlieferten Regeln der musikalischen Formgestaltung, die sich den Regeln der poetischen Vers- und Strophengestaltung vergleichen lassen; andererseits  ist sie geprägt von individuellen Affinitäten zwischen Text und Begleitung, zwischen verwandten und kontrastierenden Formteilen oder Klangkonstellationen: Verschiedene Hörweisen können sich anbieten nicht nur für unterschiedliche Stücke, sondern auch für dasselbe Stück.

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Neues Hören entwickelt sich am ehesten an geeigneten Beispielen Neuer Musik und kann, davon ausgehend, womöglich auch Impulse zum veränderten Hören älterer Musik geben (z. B. ausgehend nicht von vorgegebenen Melodie-, Harmonie- oder Formstrukturen, sondern von individuellen Klanggestaltungen und Klangkonstellationen). Dies ist wahrscheinlich aussichtsreicher als der umgekehrte Versuch, auf dem Wege „alten“ Hörens sich auch neuere Musik zu erschließen: Sicherlich kann es sinnvoll sein, erprobte Hörweisen auch in Grenzfällen auf die Probe zu stellen. Wichtiger noch aber ist der Versuch, in solchen Grenzfällen auch neuere, alternative Hörweisen ins Spiel zu bringen - Hörweisen, die weniger von traditionellen Begriffen der Musiktheorie geprägt sind als von konkreten, von der modernen Hörwelt einschließlich ihrer Widerspiegelung in modernen (Massen-)Medien geprägten Hörerfahrungen.

 

Viel diskutiert wird die Frage, ob die Vertrautheit mit „altem“ Hören für Neue Musik nicht auch deswegen bedeutsam sein könnte, weil sie deren Andersartigkeit um so deutlicher macht: Ist Neue Musik und neues (Musik-)Hören vor allem die bestimmte Negation des traditionell Verbrauchten - oder müßte sie sich eigentlich auch von dieser Bindung an die Tradition lösen können? Hierauf haben profilierte Vertreter der Neuen Musik höchst unterschiedliche Antworten gegeben - man denke z. B. an Nono oder Kagel, Lachenmann oder Rihm, Xenakis oder Cage. Wie auch immer man diese oder ähnliche Fragen beantworten mag: Musik und Hören bleiben in ihren Entwicklungen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein lebendig, so lange sie ihre Kraft bewahren in der Auseinandersetzung nicht nur mit Gewesenem, sondern auch mit Neuem.