Rudolf
Frisius
Stimmen der Medien
Vorbemerkungen
1.
Wer spricht? Was wird gesprochen? In welchen Zusammenhängen ist Sprache zu hören?
Diese und ähnliche Fragen verlangen neue Antworten, wenn nicht nur Live-Sprache, sondern auch technisch vermittelte Sprache in Betracht gezogen wird. Die Möglichkeiten der technischen Konservierung, der massenweisen und weltweiten Reproduktion von Hörereignissen haben auch dem Stimmklang und der stimmlich-sprachlichen Äußerung die Exklusivität der situationsgebundenen Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit genommen. (Allerdings ist der Entwicklungsvorsprung der Bild- und Klangkonservierung
in der Lebenserfahrung der meisten immer noch nicht eingeholt: Wie häufig kommt es vor, daß die Gesichter längst Verstorbener auf Fotos mühelos wiedererkannt werden - und wieviel seltener gelingt Vergleichbares mit der Identifikation ihrer technisch konservierten Stimmen?)
Technisch reproduzierte Stimmen erscheinen in der Frühzeit der Klangaufzeichnung als Klangbilder inszenierter, manchmal auch zufälliger Stimmäußerungen. Die Akzentverlagerung vom Text auf die klingende Sprache wird schon in relativ frühen Aufnahmen deutlich: in aufgenommenen Gedicht-Rezitationen bekannter Schauspieler oder in Schallplattenaufnahmen berühmter Lieder- und Opernsänger.
Die Fotografie hat, stärker und genauer noch als gegenständliche Malerei und Plastik, den momentanen Gesichtsausdruck als Konserve fixiert und insofern scheinbar den Prozessen des Alterns und Sterbens entzogen. Vergleichbare Möglichkeiten der Tonträger und des Tonfilms sind technisch jünger und deswegen bis heute im allgemeinen Bewußtsein noch nicht überall so fest verankert wie technisch (re-)produzierte Bilder. Altern kann die technische Qualität der Aufnahme, aber nicht das Aufgenommene (das sein ursprüngliches Alter behält und allenfalls im Urteil späterer Rezeption nachträglich und indirekt womöglich als veraltet eingestuft wird). Technik kann das bisher Ephemere zum Dauerhaften umfunktionieren und - in paradoxer Weise - gerade dadurch seine Historizität um so deutlicher (weil exakt wiederholbar und damit detailliert analysierbar) machen.
Das real Erklingende läßt sich auf diesem technischen Entwicklungsstand womöglich genauer wahrnehmen und studieren als das in einer schriftlichen Vorlage klanglich (vermutlich oder tatsächlich) Intendierte. Sowohl in der Sprache als auch in der Musik ist es möglich geworden, den Akzent von der intentionalen Textvorlage auf das real Erklingende zu verlagern - und dies nicht nur in der Rezeption, sondern sogar auch in neuartigen Prozessen der künstlerischen Produktion bzw. Realisation.
Diese Veränderungen im Bereich der technischen Reproduzierbarkeit des Klanges betreffen alle Hörereignisse in gleicher Weise - unabhängig davon, ob es sich um Aufnahmen von Musik, Sprache oder Geräusch handelt. Sie beziehen sich auf einen größeren Bereich, der die drei vorgenannten Bereiche als Teilbereiche umfassen, möglicherweise auch koordiniert aufeinander beziehen kann.
Die Herauslösung technisch konservierter und danach reproduzierter Hörereignisse aus dem Verbund einer komplexen, meist in mehreren Sinnesbereichen (nicht nur hörend) erfahrbaren Situation der Klangproduktion hat nicht nur deren Rezeption, sondern in vielen Fällen auch ihre Produktion verändert - z. B. dann, wenn auf der Bühne anders gesprochen (womöglich sogar anders gesungen oder auf Instrumenten gespielt) wird als vor Mikrofonen im Aufnahmestudio. Dennoch sind die Probleme medienspezifischer Hörkunst in den Bereichen Stimme/Sprache, Geräusch und Musik ebenso wie in ihren musikübergreifenden (z. B. audioivisuellen) Vernetzungen bis heute allenfalls erst ansatzweise gelöst. Dies gilt um so mehr deswegen, weil in verschiedenen Stadien der technischen Entwicklung die Möglichkeiten der Loslösung von „natürlichen“ (auch ohne Einbeziehung technischer Medien realisierbaren) Hörereignissen sich erheblich vermehrt haben. Durch technische Verfremdung und synthetische Neukonstruktion haben sich auch die Möglichkeiten einer „Musik mit Stimmen“ sowie einer Stimme/Sprache, Geräusch und Musik (im traditionellen Sinne) integrierenden Hörkunst grundlegend verändert. „Stimmen der Medien“ präsentierten und präsentieren sich in diesem Kontext als Gradmesser grundlegender Veränderungen des Hörens und der gesamten sinnlichen Erfahrung.
2.
Stimmen der Medien - Stimmen in den Medien - Stimmübertragung, Stimmkonservierung und Stimmverarbeitung über Medien - Medienstimmen: Diese und ähnliche Stichworte können darauf hinweisen, wie schwierig es ist, ein Ausdrucks- und Kommunikationsmedium wie die Stimme unter Aspekten anderer, insbesondere technische Medien zu beschreiben.
Als Ausdrucks- und Kommunikationsmedium, das sich an den Hörsinn wendet, ist die Stimme mit anderen Medien, die sich auch an andere Sinnesbereiche wenden, verbunden - einerseits in schwer auflösbaren polyästhetischen Konstellationen, andererseits in mehr oder weniger unvermeidbaren Konkurrenz-Konstellationen. Dies kann sich konkretisieren sowohl in der sprachlichen Information als auch in der nonverbalen Expression sowie in vielfältigen Möglichkeiten der Kombination beider Aspekte.
All dies ist im wesentlichen unabhängig davon, ob technische Medien ins Spiel kommen oder nicht;
in Verbindung mit diesen technischen Medien - oder sogar unter ihrem Einfluß -
können sich allerdings die Erscheinungsformen und sogar die Inhalte
stimmgebundener Expression, Information und Kommunikation wesentlich verändern.
Wenn Stimmen und Stimmäußerungen im Kontext technischer Medien erscheinen, können verschiedene Fragen sich neu stellen, deren Tragweite oft erst in spezifisch technischen Konstellationen deutlich wird.
Besonders deutlich wird dies bereits unter dem Aspekt der Konservierbarkeit der Stimme:
Konservierte Stimmäußerungen verlieren den Charakter des Einmaligen, Unwiederholbaren, des unauflöslich an ein Hier und Jetzt, an eine einmalige Sprechsituation Gebundenen. Wenn sie konserviert und danach unter anderen zeitlichen und situativen Gegebenheit reproduziert werden, bewahren sie ihre Identität nur um den Preis einer Herauslösung aus dem ursprünglichen Kontext: Die Stimme aus dem Lautsprecher definiert im einfachsten Falle eine Hörsituation, die sich vom ursprünglichen situativen Kontext der stimmlichen Äußerung, z. B. von einer ursprünglichen Sprechsituation, gründlich unterscheiden kann.
Dies zeigt sich schon in Stimmäußerungen, die Aufschluß geben über die Befindlichkeit dessen, der sich stimmlich äußert. Wer dies tut, gibt externen Beobachtern dadurch etwas preis: Er verrät, wie es um ihn steht - zumindest dann, wenn er aufrichtig oder zu hinreichender Verstellung unfähig ist. Wer sich stimmlich äußert, wird sich der - womöglich „verräterischen“ - Tragweite seiner Äußerungen oft nicht hinreichend bewußt,
da den Möglichkeiten direkter Selbsbeobachtung enge Grenzen gesetzt sind - zumal im Bereich der Hörwahrnehmung, und hier besonders im Bereich eigener stimmlicher Äußerungen. Die Situation kann sich allerdings grundlegend ändern, wenn die Stimmäußerung konserviert und anschließend technisch reproduziert wird: Dann löst sie sich aus dem ursprünglichen - an ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis gebundenen - Kontext und wird objektivierter Beobachtung, auch Selbstbeobachtung zugänglich.
3.
Stimmen der Medien: Der Titel ist, besonders im Kontext auditiver und audiovisueller Medien, doppeldeutig: Einerseits kann er sich - unter dem Aspekt Stimmen in den Medien auf Stimmen beziehen, die in den Medien hörbar werden, andererseits auf die hierdurch und durch andere Hörereignisse geprägte klangliche Phänomenologie der Medien - unter dem Aspekt Stimme(n) der Medien. Die Stimme(n) der Medien sind geprägt nicht zuletzt durch die Stimmen, die in diesen Medien hörbar werden. Dies gilt nicht nur für die heutige Medienwelt, sondern auch für die Entwicklungsgeschichte der Medien. Unter entwicklungsgeschichtlichen Aspekten läßt sich am besten verstehen, warum bis heute Stimmen, ebenso wie Hörereignisse überhaupt, eine besondere Rolle spielen, in der die Hörwahrnehmung getrennt ist von der Wahrnehmung anderer, in der Regel sichtbarer Ereignisse, die der Wahrnehmende als ursächlich für das Gehörte identifizieren kann. Die Entwicklungsgeschichte der Medien ist in weiten Bereichen bestimmt von Aspekten der unsichtbaren Klänge (Hören ohne Sehen) und der stummen Bilder (Sehen ohne Hören).
Medial vermittelte Stimmen:
Anfänge
Die erste erhalten gebliebene Schallkonserve ist eine Stimmaufnahme: Thomas Alva Edison, der Erfinder des Phonographen, hat 1877 seine eigene Stimme aufgenommen.
Schon beim Hören dieser ersten Aufnahme wird hinreichend deutlich, wie radikal sich ein Tondokument z. B. von einem schriftlichen Dokument unterscheiden kann: Die technische Qualität ist noch durchaus begrenzt, so daß kaum zu verstehen ist, was gesagt wird.
Wer schriftliche Informationen über die Geschichte dieser Erfindung kennt, kann versuchen herauszuhören,
ob der Liedertext zu erkennen ist, den Edison damals der Überlieferung zufolge vorgetragen hat und der uns auch aus späterer Zeit, sogar in eingedeutscher Fassung, als Tonkonserve zugänglich ist:
„Mary had a little lamb“ - zu deutsch: „Mary hat(t´) ein kleines Lamm“:
Beispiel: Erste
Phonographen-Aufnahme (Thomas Alva Edison 18. 7. 1877)
Quelle: Das Programm des Jahrhunderts. Polydor 2371 667
„Mary had a little lamb“: Hat Edison diesen Text - bzw. einen bestimmten Text-Ausschnitt aus diesem Liede -
gesprochen, oder vielleicht sogar gesungen?
Die Aufnahme ist so undeutlich, daß weder eine vollkommen zweifelsfreie Identifizierung des Textes
noch eine klare Unterscheidung zwischen Sprechen und Singen möglich zu sein scheint. Der Informationswert dieser Aufnahme ist anderer Art: Maßgeblich ist nicht, was Edison mit seiner Stimme mitgeteilt hat,
sondern wie er sich damals stimmlich artikulierte: nicht nur in Worten (seien sie gesprochen oder gesungen), sondern auch nonverbal: im Lachen.
Schon diese Aufnahme läßt sich untersuchen unter Fragestellungen, die später im Zusammenhang klingender Stimmen und klingender Sprache bedeutsam geworden sind:
- Wer spricht? (Thomas Edison)
( Wir hören die Stimme des Erfinders, der seine trouvaille vorführt; daß Edison hier spricht, erfahren wir allerdings nicht aus der Aufnahme selbst, da der Sprecher sich hier nicht vorstellt, sondern nur aus Informationen aus anderer Quelle, deren Informationswert sich der Legende eines Photos vergleichen ließe)
- Was wird gesprochen? (Teilweise unverständlich: Mary had a little lamb... Lachen)
(Was über den Inhalt des Aufgenommenen berichtet wird, kann heute ein Hörer der Aufnahme allenfalls nur noch teilweise nachvollziehen, da die Aufnahmequalität nur ein relativ unpräzises Hören und Identifizieren zuläßt.)
- Wie wird gesprochen? (Recht gut gelaunt in der Freude über die gelungene Erfindung; laut und deutlich, damit die Stimme im Beweisstück der Aufnahme später gut zu erkennen ist.)
(Wenn berichtet wird, daß Edison einen Liedtext vorträgt, dann könnte dies die Frage aufwerfen, ob er hier gesprochen oder gesungen hat; in dieser Aufnahme - und übrigens gelegentlich auch in Aufnahmen aus späterer Zeit - läßt sich diese Frage nicht mit letzter Sicherheit beantworten.)
- In welcher Situation, in welchem kommunikativem Kontext wird gesprochen? (Der Sprecher spricht für sich und lacht anschließend; er will hier nicht jemandem etwas mitteilen, sondern einen Beweis für das Gelingen seiner Erfindung produzieren: Hier vernehmen wir demonstratives, nicht kommunikatives Sprechen.)
(Auch die Frage nach der Bedeutung des abschließenden Lachens könnte man unterschiedlich beantworten:
Lachen als Freude über einen erfinderischen Erfolg - An- oder Auslachen eines künftigen Hörers, also ein erster Ansatz des Versuches virtueller Kommunikation...)
Wie immer man diese und ähnliche Fragen beantworten mag: Die Aufnahme gibt Aufschluß darüber, wie die Stimme eines bestimmten Menschen geklungen hat. Man kann sie hören, ohne zum Zeitpunkt der Aufnahme oder später diese Stimme tatsächlich gehört zu haben, mit diesem Menschen tatsächlich in Kontakt gewesen zu sein. Der bis dahin vergängliche Stimmlaut ist hier erstmals durch Konservierbarkeit und technische Reproduzierbarkeit dauerhaft geworden: in einem Stimmporträt. Die Stimmaufnahme hat hier allerdings zunächst nur dokumentarischen, noch keinen im engeren Sinne ästhetischen Wert; sie steht auf ähnlicher Stufe wie ein frühes, ästhetisch noch nicht ambitioniertes Dokumentarphoto.
1.Satz...........................2.
Satz................3.
Satz......................Lachen.....+Klick.........
Mary had ha--ha---ha---ha-----ha-----
a little lamb
I I I I I (I) I
I = Impuls (Klick: mechanisch bedingtes Störgeräusch)
Stimmaufnahme mit Thomas Alva Edison (1877):
Lautstärken-Notation (Wellenformdarstellung, oben) und Tonhöhen-Notation (Spektogramm, unten)
Beide Notationen zeigen nicht nur unterschiedliche Aspekte, sondern auch unterschiedliche Details:
Beispielsweise tritt die Gliederung in Sprache (mit verschiedenen Sätzen) und Lachen in der Lautstärken-Notation deutlicher hervor, während die Tonhöhen-Notation z. B. die Sprachglissandi und die verschiedenen Höhen der Lachimpulse erkennen läßt.
Diese Aufnahme findet sich auf einer Schallplatte, die 100 Jahre nach der Erfindung des Phonographen erschienen ist: Das Programm des Jahrhunderts. Ein Tongemälde über 100 Jahre. Das Comeback einer aufregenden Zeit (Polydor 2371 667, Stern Musik). Auf der Schallplattenhülle findet sich folgender Kommentar:
Am 18. Juli 1977
erfand der Amerikaner Thomas Alva Edison den Phonographen. Zum Geburtstag „100
Jahre Schallaufzeichnung“ präsentiert Polydor die große Langspielplatten-Serie
„Das Programm des Jahrhunderts.“ Die beiliegende Langspielplatte eröffnet diese
Serie und enthält eine akustische Montage aus insgesamt 96 Originaldokumenten:
Schlagerstars, Politiker, Kaiser und Könige, Humoristen, Chansonetten,
Sportler, Nobelpreisträger, Primadonnen, Philharmoniker, Rockgruppen,
Schauspieler und Poeten.
Moderation: Wolf
Dieter Stubel.
Idee,
Zusammenstellung, Produktion: Walter Haas. Im Auftrag der Deutschen Grammohphon
Gesellschaft. Quellen: Deutsche Grammophon Gesellschaft (DG), Deutsches
Rundfunk-Archiv, Frankfurrt/Main (DRA) und diverse Privatarchive.
Zum Edison-Beispiel wird folgender Kommentar gegeben:
18. Juli 1877.
0´07. Thomas Alva Edison spricht „Mary
Had A Little Lamb“ und lacht.
Die erste
Tonaufzeichnung der Welt. Edison-Walze.
Dem Beispiel vorangestellt ist
eine Synthesizer-Intro (0´08) und ein deutsches Schlagerarrangement des von Edison zitierten Liedes:
Mary hat ein kleines
Lamm (Mary Had A Little Lamb) (0´38) (P. & L. McCartney / Müller-Schwanke),
gesungen von Daliah Lavi, aufgenommen Juni 1975 (DG).
Die Synthesizer-Intro und das Schlagerarrangement sollen den Hörer im Jubiläumsjahr 1977 und im Sound der 1970er Jahre auf das heftig rauschende erste Tondokument vorbereiten:
VERLAUFS-ÜBERSICHT:
(Schlager-Arrangement mit Mary Roos:)
Mary hatt´ ein
kleines Lamm, / das liebte sie so sehr.
- (Einschub Moderator Wolf Dieter Stubel:)
„Mit diesem Lied begann´s.“
Wo sie auch war,
wohin sie lief, / das Lamm lief hinterher.
Hörst Du sie beide
singen:
La - lala, La - lala,
la - la - la - lala, la - la - la
- (Refrain-Wiederholung mit Überblendung Moderator:)
18. Juli 1877. Erzvater Edison saß an seinem selbstgebastelten Phonographen, sprach „Mary had a little lamb“ und lachte. Dann kurbelte er die Walze zurück und hörte dies:
(folgt Originalaufnahme Edison)
Von der gesungenen Melodie ist in Edisons Stimmaufnahme nichts zu erkennen. Auch die Sprache ist kaum oder überhaupt nicht verständlich. Nicht einmal der Liedtext läßt sich in allen Details zweifelsfrei identifizieren.
Deutlich ist allerdings der Unterschied zwischen Sprechen und Lachen zu erkennen.
Das ursprüngliche Klangbild der Stimmäußerungen Edisons (Sprechen - Lachen)
ist in der rauschenden und knackenden technischen Reproduktion kaum noch erkennbar.
Die Stimmaufnahme mit Thomas Alva Edison dokumentiert, wie seine Stimme klang und welche Stimmäußerungen er am 18. 7. 1877 vor seinem Phonographen gemacht hat. Die Aufnahme überliefert also nicht nur einen bestimmten stimmlich-sprachlichen Inhalt (der sich, soweit es um Sprache geht, auch übersetzen ließe), sondern konkrete stimmliche Äußerungen, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Sprechsituation gemacht worden sind. Die technische Reproduktion schafft hier also andere Überlieferungs-Bedingungen als der schriftliche Text, der sich in der Regel auf das sprachlich Mitteilbare beschränken
und von der konkreten Sprechsituation sowie von den konkreten Sprechweisen abstrahieren muß.
Unter diesen neuen Bedingungen hat sich seit der Erfindung der Schallaufzeichnung das Hören nicht nur von Stimmäußerungen und Sprache, sondern auch von Musik wesentlich verändert. Im Frühstadium der technischen Entwicklung war dies womöglich deutlicher wahrzunehmen als in späteren Zeiten, die sich high-fidelity-Illusionen zu nähern versuchten.
Exkurs: Frühe Sprech- und
Musikaufnahmen
Besonders an alten, technisch noch unvollkommenen Aufnahmen läßt sich deutlich erkennen, wie stark sich technisch reproduzierte Klänge von originalen Live-Klängen unterscheiden können. Vor allem an Stimmaufnahmen läßt sich dies genauestens heraushören, da der Vergleich mit originalen Stimmklängen dem Hörer besonders leicht fällt, wenn er sie an seiner Live-Erfahrung mißt. Dies zeigt sich auch in einer alten Musikaufnahme, der eine Ansage vorausgeht: Einer phonographischen Aufnahme aus dem Jahre 1889 von und mit Johannes Brahms.
Beispiel: Historische
Klavier-Aufnahme 1889
Johannes Brahms:
Ansage - Klavierspiel (1. ungarischer Tanz g-moll)
Quelle: Landmarks Of Recorded Pianism. Volume 1: Acoustic Recordings
(1889-1924)
Brahms, Debussy, Grieg, Saint Saens, Lhevinne, Hofmann, Godowsky, Graininger, Eibenschütz, de Pachmann, Paderewski
IPA 117, A-Seite, 1. take
Gregor Benko hat 1977 eine Schallplatten-Anthologie ältester Klaviermusik-Aufnahmen produziert.
Für die Ansage zur ältesten erhaltenen Aufnahme, in der Johannes Brahms nach einigen Einleitungsworten seinen ersten ungarischen Tanz spielt, gibt er im Schallplattenkommentar folgenden Text an:
Grüsse an Herrn Doktor
Edison. I am Doktor Brahms... Johannes Brahms.
Wer die Schallplattenaufnahme abhört, wird vielleicht den zweiten Satz verstehen, aber wohl kaum den ersten.
Auch die folgende Musikaufnahme bereitet dem Hörer einige Mühe, da sie technisch sehr unvollkommen und mit mannigfachen Störgeräuschen überliefert ist.
Wie rasch sich die technische Qualität von Musikaufnahmen verbesserte, zeigt ein Vergleich dieser ältesten Musikaufnahme mit einer etwas neueren Aufnahme Brahmsscher Klaviermusik, die knapp eineinhalb Jahrzehnte später entstanden ist:
Beispiel: Historische
Klavier-Aufnahme 1903
Johannes Brahms:
Ilona Eibenschütz (1873-1967) spielt Johannes Brahms:
Walzer op. 39, Nr. 2
(E-Dur) und Nr. 15 (As-Dur)
Quelle: Wie voriges Beispiel, Takes A2 und A3
Schallkonserven als Klangbilder lassen sich auch als Spiegelbilder des technischen Entwicklungsstandes hören,
der zur Zeit ihrer Entstehung erreicht war. Die Spuren der technischen Entwicklung können sich allerdings auch
je nach dem Inhalt des Aufgenommenen unterschiedlich präsentieren -
beispielsweise abhängig davon, ob Geräusche, Musik oder
Stimmen aufgenommen worden sind.
Schallaufzeichnungen einzelner menschlicher Stimmen lassen sich in vielen Fällen charakterisieren
als akustische Momentaufnahmen. Gelungene Aufnahmen können wichtige Charakterzüge einer aufgenommenen Person einfangen: als Stimmporträts, als auditive Gegenstücke zu einen photographierten Gesicht oder zu einer gefilmten Porträtszene. Die technische Entwicklungsgeschichte erklärt,
daß im einen wie im anderen Falle die technische Reproduzierbarkeit zunächst nur um den Preis der Reduzierung auf einen einzelnen Sinnesbereich erreichbar gewesen ist:
Historische Photos und Filmszenen sind stumm, historische Schallaufzeichnungen sind unsichtbar.
Stumme Bilder (auch stumme Bildfolgen, Stummfilme) und unsichtbare Klänge
indizieren grundlegende Wandlungen sinnlicher Erfahrung im technischen Zeitalter.
Konservierte Hörereignisse: Sprache
- Geräusche - Musik
Bemerkenswert ist, daß die Möglichkeiten der Konservierung und der technischen Reproduktion von Hörereignissen, sofern sie sich auf Stimmen bezogen, schon in relativ frühen Stadien der technischen Entwicklung für den Bereich der Musik besonders wichtig zu werden begannen:.
Konservierte Singstimmen schienen besser verkäuflich als konservierte Sprechstimmen (und natürlich auch besser verkäuflich als konservierte Tierstimmen und Tiergeräusche; daran ändern selbst kuriose Ausnahmefälle wie die historische Aufnahme eines Termitenschwarmes nichts).
Diese Aufnahmen wurden für die weitere Entwicklung bedeutsamer als solche, die eigentlich höheren aufnahmetechnischen Anforderungen gerecht zu werden versuchten, indem sie Sprache, Musik und Geräusche miteinander in Verbindung brachten -beispielsweise in quasi-dokumentarischen Hörszenen.
Beispiel: Das Aufziehen der Schloßwache zu Berlin (ca. 1902) (Edison-Walze)
Quelle: Aus der Jugendzeit der Schallplatte. Raritäten, Kuriositäten, Kunst und Kitsch.
61 Original-Aufnahmen zum 100. Geburtstag der Schallaufzeichnung. 1877-1977. (Album mit Schallplatten)
Ariola 64 694, Platte 1, take A1
Das (unver- Stillje- Das Ge- Ach- Präsentiert Militärmusik: Marsch
Aufzieh´n ständl.) standen! wehr tung! das Vordersatz Nachsatz
der Schloss- über! Gewehr! 1. Phrase 2. Phrase
wache zu
Berlin
Das Aufziehen der Schlosswache zu Berlin, Edison-Walze (ca. 1902)
(Lautstärke- und Tonhöhennotation, Marschbeginn in trad. Not.)
Die Aufnahme beginnt mit einer Stimmaufnahme in neuer, bei Edison noch nicht erkennbarer dramaturgischer Funktion: Als Ansage - vergleichbar dem Vorspann eines Stummfilms. Der Sprecher sagt etwas an; er äußert sich in einer bestimmten Sprechrolle, in der Rolle des Ansagers. Damit stellt er sich auch dem Anspruch, daß der Hörer die Darstellung dieser Rolle erkennen und akzeptieren muß - daß er diesen Ansager also nach strengeren Kriterien beurteilt als etwa den fröhlich vor sich hin plaudernden Erfinder Edison, aber auch nach anderen Kriterien als beispielsweise die Stimme einer Person, die ein Gedicht rezitiert (wofür wir aus der Frühzeit der Aufnahmetechnik berühmte Beispiele anführen können, z. B. Die drei Zigeuner von Lenau oder der Hamlet-Monolog) oder etwa eine handelnde/sprechende Person akustisch darstellt. Dies wird im weiteren Verlauf der Aufnahme deutlich: Nach der Ansage gibt ein Offizier Befehle (oder vielmehr: ein Sprecher, der die Sprechrolle eines befehlenden Offiziers übernommen hat). Anschließend wird die Sprechsituation dadurch verdeutlicht, daß Musik erklingt: Marschmusik; Musik zu der Parade, zu der der Offizier und seine Soldaten (von denen nur wenig zu hören ist) befohlen worden sind.
Schon in relativ frühen Phasen der Entwicklungsgeschichte der Aufnahmetechnik ist deutlich geworden, daß traditionelle Abgrenzungen fragwürdig zu werden begannen: Unter aufnahmetechnischen Gesichtspunkten war es beispielsweise sekundär, ob Sprache oder Musik aufgenommen wurden - oder vielleicht auch Geräusche. Anfangs spielten Stimm- und Sprechaufnahmen eine relativ wichtige Rolle bei der Popularisierung von Tonkonserven (beispielsweise eine Sprechaufnahme mit Reichskanzler Bismarck, dessen Stimme damals, als die Wiedergabegeschwindigkeit gelegentlich ungenau war, auch in unfreiwilligen mickey-mouse-Effekten verfremdet erklingen konnte; ein späteres Beispiel für die Entstehung technischer Effekte aus anfänglichen Defekten ist ein Schallplatten-Loop, in das der stotternde Kaiser Wilhelm II. einmal in einer Aufnahme geraten ist: die geschlossene Schallplattenrille führt hier zur unbeabsichtigt enthüllenden Wahrheit; in ähnlicher Weise analysieren könnte man auch einige Knacke in akustischer Propaganda des 1. Weltkrieges, z. B. in dem weiter unten beschriebenen Hörbild Feldgottesdienst vor Maubeuge); auch historische Geräuschaufnahmen hatten zumindest als Kuriositäten eine gewisse Bedeutung (z. B. die Aufnahme eines Termitenschwarms); Musikaufnahmen gewannen nach der Jahrhundertwende an Bedeutung, als man auf die Idee gekommen war, die Stimmen von Musik-Stars par excellence über Tonkonserven massenhaft zu verbreiten, beispielsweise die Stimmen der Sänger Caruso und Schaljapin. In der Berliner Hörszene allerdings übernehmen die Stimmen, auch und vor allem in der Konfrontation mit der anschließenden Musik, andere dramaturgische Funktionen: Hier geht es nicht um die Konservierung der Stimmen einzelner berühmter Personen, sondern um anonyme Stimmen als Repräsentanten bestimmter dramaturgischer Funktionen: Die Frage: Wer spricht? wird sekundär; die Frage: Wie wird gesprochen? gewinnt andererseits erheblich an Bedeutung, da hier vom Hörer die Sprechrolle aus der Sprechweise erschlossen werden soll (oder zumindest, wenn er sie aus dem Inhalt des Gesagten erschließen kann, als adäquat anerkannt werden sollte). Die Individualität der Stimmen erscheint weniger wichtig als ihr dramaturgischer und, vielleicht wichtiger noch, ihr zeitgeschichtlicher Kontext. Wir kennen Beispiele aus späterer Zeit, in denen dies noch deutlicher hervortritt: in der Kombination der Stimme nicht nur mit Musik, sondern auch mit dem Geräusch.
Die Hörszene aus dem Jahre 1902 ist ein typisches Zeitdokument aus der Vorzeit des ersten Weltkrieges: Militaristische Propaganda, unterhaltsam aufgemacht. Stimmen und Musik stehen im Dienste der angestrebten Unterhaltungs- und Propaganda-Funktionen. (Die hier eingesetzte Musik hat übrigens in vergleichbarer dramaturgischer Funktion weiter gelebt bis weit über das Ende des zweiten Weltkrieges hinaus: in der Bundesrepublik Deutschland war und ist sie stets als Militärkapellen-Begleitung bei der Begrüßung auswärtiger Staatsgäste in der Hauptstadt zu hören.) Was in dieser politisch funktionalisierten Hörszene sich ankündigt, wird später weitergeführt auch in Verbindung mit dramaturgisch sinnfälligen, die Situation akustisch illustrierenden Geräuschen.
Medienstimmen als Politikum:
Hörszenen aus dem 1. Weltkrieg
Beispiel: Die
Mobilmachung und die Erstürmung von Lüttich
1. Glocken, Marschtritte, Trommelschläge
2. Kommandostimme (überblendet): Abteilung Halt!
Abrupter Stop der Geräusche
3. Kommandostimme (eingeblendet): Gewehr ab! Rührt euch!
4. Moderatorstimme (1977): 1914, in einem Berliner Plattenstudio
5. Mehrere Männerstimmen (eingeblendet): Stimmengewirr
übergehend in hervortretende Einzelstimme: Ich glaube, heute tut sich was
6. Kommandostimme: Jungs,
jetzt gilt´s!
7. Der Feind will uns den Weg nicht freimachen.
8. Zustimmendes Gemurmel
9. Kommandostimme: Darum
müssen wir ihn erkämpfen.
Zustimmendes Gemurmel: Ja
10. Kommandostimme: Es
geht auf Leben und Tod.
11. Mit Gott für König und Vaterland!
Zustimmendes Gemurmel
12. Abmarsch!
13. Mehrere Männerstimmen: Hurra!
Moderatorstimme (1977): Mobilmachung und erträumter Sieg. Der Krieg
findet im Saale statt.
Trompeten-Fanfare (überblendet, bleibt nach Ausblendung der Hurra-Rufe)
Quelle: Das Programm des Jahrhunderts, Polydor 2371 667 (s. o.). Kommentartext auf dem Schallplattencover:
1914. Die Mobilmachung
und die Erstürmung von Lüttich.
„Vaterländisches Tongemälde“,
aufgenommen im
Berliner Schallplattenstudio der National Zonophone-Gesellschaft
zum Besten deutscher
Krieger und deren Angehöriger (DG/DRA)
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Glocken.............
Marschtritte.......
Abteilung Gewehr1914
Halt! ab! ....
Rührt Platten-
euch! studio
Aufmarsch.........Anfeuernde Rede............................................Reaktionen.........................................................
Die Erstürmung von Lüttich
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Marschmusik Befehle Ansprache Choral
An- Text Gesang
sage
Feldgottesdienst vor Maubeuge
Beispiel:
Feldgottesdienst vor Maubeuge
1. Marschmusik
2. Kommando: Abteilung Halt! - 2 Trommelschläge, Stop
3. Kommandostimme: Im Kreise rechts und links weg marsch! - 5 Trommelschläge (Viertel)
4. Kommandostimme: Halt! (auf 6. Trommelschlag) - folgen zwei schnellere Trommelschläge (Achtel)
5. Kommandostimme: Gewehr ab!
6. Ansprache (mit zahlreichen Knacken):
Kameraden! Zu dem
glänzenden Sieg deutscher Waffen ist ein neuer getreten.
Maubeuge hat soeben
kapituliert - mit 4 Generälen, 40 000 Mann und 400 Geschützen.
Bald wird der Draht
die frohe Kunde in die ferne Heimat senden und dort den Jubel von Millionen
auslösen.
Mancher treue
Kampfgenosse ist auf dem Felde der Ehre geblieben - im Kampf für Kaiser,
Vaterland und Heer.
Unser erster Blick
richtet sich von dem blutigen Gefilde empor zu dem, der über Welt und Sternen
thront,
in dessen Hand die
Geschicke des einzelnen wie der Völker ruhn.
Sein Segen war mit
uns. Er hat Großes an uns getan. Gelobt sei sein Name für und für.
7. Aufforderung zum Choralgesang:
Was unsere Herzen
bewegt, laßt es uns singen hier unter freiem Himmel als erstes Dankgebet:
8. Vorsprechen des Choraltextes (erste vier Verse der ersten Strophe):
Nun danket alle Gott
mit Herzen, Mund und
Händen,
der große Dinge tut
an uns und allen
Enden.
9. Choralgesang (Nun danket alle Gott, 1. Strophe: Gesang mit Begleitung der Militärkapelle)
Quelle: Aus der Jugendzeit der Schallplatte, Ariola 64 694, Platte 1, take A 2
Aus der Zeit des 1. Weltkrieges kennen wir Propaganda nicht nur in gedruckter Form, sondern auch in Form von Tonkonserven. Einige Hörstücke, die erhalten geblieben sind, lassen sich beschreiben als akustische Korrelate zu Feldpostkarten - mit aufgenommen Stimmen, Geräuschen und Musik-Zuspielungen wird beispielsweise Die Erstürmung von Lüttich oder ein Feldgottesdienst vor Maubeuge beschrieben: in akustischen Simulationen, die in einem heimatlichen Aufnahmestudio hergestellt worden sind. Die beabsichtigte propagandistische Wirkung wird nicht zuletzt durch inszenierte gute Laune erreicht, z. B. im Hörbild Die Erstürmung von Lüttich: Der Offizier, der die Leute zur Schlacht ermuntern will, erhält beifällige Zustimmung seiner Soldaten (so daß neben der Einzelstimme hier auch Kollektivstimmen hörbar werden - allerdings, schon aus aufnahmetechnischen Gründen, noch relativ spärlich); 1977, in der Neuveröffentlichung zum 100. Geburtstag der Tonkonserve, wird die muntere Stimmung durch das Geplauder eines modernen Moderators nochmals verstärkt. Stimmen, Geräusche und Musik wirken hier patriotisch-einträchtig zusammen. Ähnlich ist es im Hörbild Feldgottesdiens vor Maubeuge, in dem die Soldaten zum Siege paradieren und religiös eingestimmt werden: Der Feldprediger preist die Gnade Gottes, der den Sieg geschenkt hat, er verheißt den Jubel der Heimat und stimmt den Choral von Leuthen an: Vorsichtshalber wird der Text zunächst einmal vorgesprochen, da vielleicht weder die virtuellen Soldaten noch die realen Hörer der Aufnahme ihn präsent haben; wenn er dann anschließend mit Begleitung der Militärkapelle gesungen wird, bleibt die Stimme des Feldpredigers noch verdächtig stark im Vordergrund (was vielleicht aufnahmetechnische Gründe hat, aber gleichwohl die Aufmerksamkeit darauf lenken könnte, daß in einer späten Phase des politisch etablierten Christentums das Engagement der Gläubigen auch im kollektiven Gemeindegesang gelegentlich zu wünschen übrig läßt). Hier erklingt ein unfreiwillig grausiges Gotteslob - vor allem, aufnahmetechnisch bedingt, durch den groben, kratzenden Klang der historischen Militärkapellen-Aufnahme, aber auch durch das groteske Mißverhältnis zwischen großem sprachlichem Pathos und kümmerlicher aufnahmetechnischer Qualität.
In beiden Hörbildern erscheint inszenierter Patriotismus als inszenierte Fiktion: mit Stimmen von Schauspielern, die Soldaten spielen; mit Geräusch-Effekten; nach Möglichkeit auch mit untermalender bzw. die Atmosphäre akustisch ausmalender Musik. In akustisch illustrierter deutscher Sprache werden deutsche Helden gefeiert; andere Menschen werden allenfalls als zu bekämpfende Feinde genannt, kommen aber nicht zu Wort.
In diesen Hörbildern (die man auch als Vorformen des Hörspiels, als Hörspiele vor der Erfindung des Hörspiels bezeichnen könnte) wird deutlich, daß die Entwicklungsgeschichte der Medien in enge Zusammenhänge mit zeitgeschichtlichen Entwicklungen geraten kann. Das erste Ereignis, das dabei eine international herausragende Rolle spielte, war der erste Weltkrieg; er prägte nicht nur zeitgenössische Hörbilder, sondern auch Hörszenen und Hörspiele aus späterer Zeit - beispielsweise die letzten Jahre der ersten Blütezeit des deutschen Hörspiels, die kurz nach 1923, der Einführung des Radios in Deutschland, einsetzte und mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten endete. Die Rückschau auf den ersten Weltkrieg geriet in diesem zeitgeschichtlichen Kontext ambivalent - sei es als Kritik am Kriege, sei es als revanchistische Propaganda. Die Mediengeschichte wird so zum Spiegel zeitgeschichtlicher Konflikte. Politisch unterscheiden sie sich im Verhältnis zum eigenen Land und zur eigenen Sprache: Die Frage stellt sich, ob Krieg als Tragödie aller Opfer gesehen wird oder als Heldensage der eigenen Seite - ob beispielsweise im Hörbeispiel die deutsche Sprache dominiert oder mehrere Sprachen gleichberechtigt zu hören sind.
Medienstimmen als
Umfunktionierungen von Vergangenheit und Gegenwart
Beispiel:
Bischoff/Engel: Menschheitsdämmerung
1 2 3 4 5
Ansage Musik +Text +Text-Fortsetzung Text (ohne Musik)
1. Ansager: Menschheitsdämmerung.
Eine Hörfolge vom Weltkrieg von F. W. Fischer und Franz Josef Engel.
Hören Sie daraus ein kurzes
Bruchstück.
2. Musik
3. unterlegter Text:
Es geht eine Schlacht mit schwerem Gang
4. unterlegter Text Fortsetzung:
am Weichselfluß, am Baskenjoch.
Die Stille redet tagelang.
Wir wissen´s nicht, wir wissen´s doch.
5. Text (ohne Musik):
Es geht der Allerseelenwind.
Wir schreiten alle einen Schritt,
und, die wir fern vom Felde sind,
wir kämpfen nicht (mit?), wir sterben nicht.
Musik zu 2. und 3. (Takt 1-2) und zu 3. (Takt 3-4)
Bischoff/Engel: Menschheitsdämmerung, Ausschnitt (Anfang)
Quelle: Rudolf Frisius, Günter Klüh und Klaus Maichel: Ton- und Textdokumente 1929-1945 .
Musik im Spannungsfeld deutscher Geschichte, Stuttgart 1998 (Raabe), CD-Beilage take 1-2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 12 13 14 15 17 18 19 20 21
11 16
1. 3 Schläge auf die große Trommel
2. Musikeinsatz: Chopin, Traumermarsch - anschließend mit unterlegten Sprechtexten:
3. Frauenstimme: Auf
dem Felde der Ehre gefallen:
4. Männerstimme: Musketier
Karl Sprint.
5. Frauenstimme: Wo?
6. Männerstimme: Marneschlacht
7. St. Quentin.
8. Musik allein - anschließend mit unterlegten Sprechtexten:
9. Frauenstimme: Auf
dem Felde der Ehre gefallen:
10. Männerstimme: Jean
Mauriac,
11. sous-lieutenant
12. Frauenstimme: Ou?
13. Männerstimme: Namur.
14. Musik allein - anschließend mit unterlegten Sprechtexten (14-21):
15. Männerstimme: John
Merrimer (?), Lancaster regiment
16. Frauenstimme: Wo?
17. Sprechchor: Wo?
18. Männerstimme: Massengrab
im flandrischen Wald.
19. Frauenstimme: Wer
noch?
20. Sprechchor: Millionen!
21. Männerstimme: Tod
über der Welt!
Bischoff/Engel: Menschheitsdämmerung, Auschnitt (Fortsetzung)
Das Hörspiel „Menschheitsdämmerung“ von Bischoff und Engel ist ein frühes Beispiel mehrsprachiger Hörspieldramaturgie: Es wird nicht nur deutsch gesprochen, sondern auch die Sprache der Kriegsgegner an der Westfront, französisch und englisch. Dies hängt zusammen mit der Intention dieses 1929 entstandenen Anti-Kriegs-Hörspiels, das sich mit Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ und seiner Verfilmung vergleichen ließe.
Das Stück entstand in einer Zeit, in der (etwa den Außenministern Stresemann und Briand) eine Versöhnung der einstigen Kriegsgegner noch möglich erschien. Die Trauermusik, die hier gespielt wird, war auch in patriotischen Kreisen als einschlägige offizielle Musik bei politischen Trauer-Zeremoniellen anerkannt (zumindest im Arrangement für Militärkapelle); immerhin stammte sie, was den Hörspielautoren sicherlich bewußt war, von einem polnischen Komponisten. (Die Musik war in offizieller Funktion so bekannt, daß sie in dieser sogar parodiert wurde: Dem Des-Dur-Trio unterlegte der Volksmund als Gesangstext folgenden Abgesang auf einen verstorbenen Offizier: „Jetzt trinkt er keinen Rotspohn mehr...“).
Wichtig für die Dramaturgie dieses Beispiels ist einerseits die Differenzierung zwischen sprechendem Rezitator (musikbegleitete Gedicht-Rezitation zu Beginn des Ausschnittes) und sprechenden agierenden Personen (Dialogstimmen im weiteren Verlauf) und andererseits (bei den Dialogstimmen) die Differenzierung zwischen Männer- und Frauenstimmen: Eine Frauenstimme (die sich auch als Stimme einer Überlebenden, der Mutter eines Gefallenen oder einer Kriegerwitwe deuten ließe) sagt die Todesmeldung an; anschließend nennt eine Männerstimme den Namen des Gefallenen. Wichtig ist, daß dieses virtuelle Totenritual für beide Seiten der Front inszeniert wird: Nicht nur für einen deutschen Soldaten, sondern auch für einen französischen und für einen englischen Soldaten. Die Musik überbrückt den Wechsel von einer Front zur anderen (vergleichbar einer Filmmusik, die verschiedene Montagestücke zusammenhält; im Hörbeispiel handelt es sich um einen Montage-Effekt im dramaturgischen Sinne - noch nicht im technischen Sinne des Zerschneidens und Klebens; die technische Klangmontage wurde im deutschen Hörspiel erst etwas später eingeführt, als Montage eines Tonfilms ohne Bilder etwa im Hörstück Weekend von Walter Ruttmann). Am Schluß des Ausschnittes werden die zuvor gehörten Einzelstimmen von einem mit Kollektivstimmen gesprochenen Wort abgelöst: Benannt werden die Millionen, die auf verschiedenen Seiten der Front zum Opfer des Krieges geworden sind.
Dieses pazifistische Hörspiel entstand in einer zu Ende gehenden pazifistischen Ära. Schon wenige Jahre später entstand ein deutsches Hörspiel, das Weltkriegs-Reminiszenzen in radikal veränderter Perspektive bringt: Eine preußische Komödie von Hans Rehberg (1933).
Beispiel: Hans
Rehberg, Eine preußische Komödie
1 2 3 4 5 6
Trommelwirbel Trp-Blasmusik..........................................................................................................
Deutschlandlied...............................................................................
Totenstimme Ruf
Maschinengewehr-Geknatter...................................................
1. Leise Trommelwirbel - darüber (später einsetzend) die Stimme des Gefallenen von Langemarck:
Ich fiel bei Langemarck. Wir waren die
ersten einer neuen Zeit.
Durch Langemarck lebt Preußen. Preußen
lebt, es ist nicht tot.
Ich sage euch: Preußen ist verändert,
gewaltig...
2. ... ungeheuer. (Einsatz Trompeten-Fanfare, die später übergehend in hochgeblendete Militärkapelle)
Aber es ist nicht tot.
Und wer es wagt zu sagen: „Man weiß es
nicht“, hat Langemarck vergessen.
Herr, ich fiel bei Langemarck.
3. Soldatenstimme (schreiend): Kameraden! Kameraden!... (Einsatz Deutschlandlied: Gesang, Militärkapelle)
4. ... zusammen ans Werk! (Einsatz Maschinengewehr-Geknatter)
(Fortsetzung Deutschlandlied)
5. Refrain Deutschlandlied: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!
6. Refrainwiederholung: „
(abschließende Kadenz der Militärkapelle, ohne Maschinengewehr-Geknatter)
H. Rehberg: Preußische Komödie, Ausschnitt
Quelle: Ton- und Textdokumente 1929-1945 (s. o.), CD-Beilage take 17
In einer Szene dieses Hörspiels wird an die Schlacht von Langemarck (1914) erinnert: an die Schlacht an der Westfront, von der deutsche Zeitungen berichteten, daß hier junge deutsche Kriegsfreiwillige mit dem Deutschlandlied auf den Lippen vorgestürmt und gefallen seien. Die Szene beschwört die Fiktion eines sprechenden Kriegsgefallenen, der die Wiederauferstehung nicht seiner selbst, sondern Preußens - und damit indirekt auch die konservative Hoffnung auf ein „Drittes Reich“ beschwört, dessen Protagonisten sich des Weltkriegs-Totenkults bedienten, um einem Revanche-Krieg den Weg zu bereiten.
Musik, Sprache und Geräusch sind in dieser Hörspielszene eng aufeinander bezogen und verstärken sich gegenseitig in der beabsichtigten propagandistischen Wirkung: Die Sprache des bei Langemarck gefallenen Soldaten evoziert nicht nur die Musik des Deutschlandliedes, sondern auch die dramaturgisch (und zeitgeschichtlich) dazu passenden Geräusche knatternder Maschinengewehre. Sprache, Musik und Geräusch wirken zusammen, um die Illusion einer heroischen Kampf- und Todesszene wachzurufen: Es geht um die Verherrlichung des angeblich ehrenvollen Schicksals, in jungen Jahren im Kugelhagel zu sterben.
DieToten des ersten Weltkrieges werden in Rehbergs Hörspiel propagandistisch in ähnlicher Weise ausgebeutet wie die am 9. November 1923 zu Tode gekommenen nationalsozialistischen Putschisten. Die deutschnationale Beschwörung Preußens steht im Kontext einer vereinigten Rechten, die sich 1933 offiziell in Potsdam mit dem Händedruck zwischen Hindenburg und Hitler formiert hat. - Die Musik, in die Rehbergs Hörszene mündet, krönt die Fiktion des die Wiederauferstehung Preußens ankündigenden Totenkults und erinnert gleichzeitig an das Todesritual des Gesanges von Langemarck, mit dem sich damals weitgehend ahnungslose Jugendliche selbst in den Tod getrieben haben - und überdies auch an den realen, gröhlenden Massengesang des Deutschlandliedes am Abend des 30. Januar 1933, als von Goebbels aufgebotene Nationalsozialisten vor der Berliner Reichskanzlei singend Hitlers Ernennung zum Reichskanzler feierten. (Dies ist ein akustisch besonders sinnfälliges Dokument der „Machtergreifung“; seine politische Bedeutung hat der damals amtierende Rundfunkintendant sogleich erfaßt und am folgenden Tag seinen Rücktritt eingereicht.)
Beispiel: Radio-Reportage 30. 1. 1933
1 2 3
Radiosprecher..............................................Deutschlandlied...............................................(fade-out)
Radiosprecher:
1. Wir sind nun herübergegangen in das Zimmer, in dem
sich der neue Reichskanzler Adolf Hitler befindet.
2. Wir lassen nun noch
einen Augenblick die Musik von draußen ins Fenster hereinschallen.
3. Deutschlandlied (Gegröhle, Militärkapelle mit lauten Trommelschlägen)
Radioreportage 30. 1. 1933
Quelle: Ton- und Textdokumente 1929-1945 (s. o.), CD-Beilage take 16
Rehbergs Hörspielszene und die Live-Radioreportage vom 30. Januar 1933 schließen beide mit dem Deutschlandlied. Es erscheint in beiden Fällen als dramaturgischer Höhepunkt, gleichsam als vulgäres Gegenstück zum Schlußchoral einer Bach-Kantate; in ähnlicher Funktion wurde es 1933 auch in nationalsozialistischen Wochenschauen eingesetzt. Die Musik dient hier zur Inszenierung der Lüge, zur propagandistischen Verzerrung der Realität.
Medienstimmen als Versuch
der Virtualisierung der Gegenwart
Die Berliner Radioreportage vom 30. Januar 1933 war der manipulativ eingefärbte Bericht über ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hatte, nämlich die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und die daraufhin vor der Reichskanzlei arrangierten Jubel-Kundgebungen. 5 Jahre später wurde in einem anderen Lande ein anderes live-Radioereignis inszeniert, das nicht tatsächlich stattfand, sondern reine Fiktion war: Die Invasion von Mars-Bewohnern in dem von Orson Welles inszenierten Hörspiel „The war of the worlds“.
Beispiel: Orson
Welles, The War of the Worlds
Auch in diesem Stück wirken Sprache, Geräusche und Musik zusammen, um die gewünschte Beeinflussung des Hörers zu erreichen, um ihm etwas Fiktives als etwas tatsächlich Stattfindendes darzustellen. Der Erfolg der Täuschung ließ sich daran ablesen, daß eine Massenpanik ausbrach und der Regisseur - anders als ein nationalsozialistsicher Propaganda-Regisseur - sich verpflichtet fühlte, die Hörer, über die Fiktionalität des Gesendeten aufzuklären und das Hörspiel schließlich mit einer ordnungsgemäßen Absage zu beschließen. Das Hörspiel selbst allerdings war so gestaltet, daß viele Hörer es mit der Darstellung realer Ereignisse verwechselten und in großen Schrecken gerieten. Die dramaturgische Absicht war seinerzeit also offensichtlich gelungen: Eine Täuschung, die so stark war, daß das Dargestellte für real gehalten wurde. Auch hier spielt zum Zweck der Täuschung die Musik eine wichtige Rolle, z. B. - nach einem rätselhaften Schrei, der zum Abbruch der Reportage führt -als (scheinbar beruhigende, in Wirklichkeit die spannungsvolle Erwartung steigernde) Zwischenmusik, die die Reportage(n) unterbricht.
Medienereignisse und insbesondere Medienstimmen beeinflussen die Einstellung von Rezipienten nicht nur in ihrem Verhältnis zur Zeit (zur Vergangenheit, zur Gegenwart und womöglich auch zur Zukunft), sondern auch in ihrem Verhältnis zu den Ereignissen, die sich innerhalb der Zeit abspielen - insbesondere zu deren Realitätsgehalt: Realität kann sich zur Virtualität verwandeln, wenn sie von Medien trügerisch simuliert wird.
1 2 3 4 5 6
Unter-
brech-
ung
Heulton, Hupsignale
Reporterstimme: ruhig - schnelle Ansager: Unterbrechungsmeldung...........Musik..................
+Schreie An- Klavierstück
sage
Orson Welles, The War of the Worlds (CBS, 1938): Abbruch einer Reportage (1´16´´)
(Lautstärke-Notation / Wellenform-Darstellung)
Heulton, Hupsignale.................................................................................... +Schreie........................................
Orson Welles, The War of the Worlds: Abbruch einer Reportage, Anfang (0´26´´):
(Tonhöhen-Notation / Spektrogramm)
1. Reporterstimme: Wait
a minute. Something is happening (...)
4- Ansager: Unterbrechungsmeldung
Ladies and Gentlemen:
Due to circumstances
beyond our control we are unable to continie the broadcast from Grover´s Mill.
Evidently there is
some difficulty with our field transmission.
However, we will
return to that point of (at?) the earliest opportunity.
In the meantime we
have a late bulletin from San Diego, California
Professor Indlekoffer
speaking at the dinner of the Califonia Astronomical Society
expressed the opinion
that the explosions on Mars
are undoubtedly
nothing more than severe vulcanic disturbances on the surface of the planet.
5. (Ansager:) Musikansage
We continue now the
piano interlude.
6. Klaviermusik
Orson Welles, The War of the Worlds (CBS 1938)
Quelle: Orson Welles, La guerre des mondes, phonurgia nova PN 1061/6
Das dramaturgisch Wichtigste in dieser Szene ist die inszenierte Pause. Sie ist in einer Radio-Übertragung eine sensationelle Ausnahmesituation: Wenn tatsächlich im Radio einmal Ruhe einkehrt, ist zu befürchten, daß der Sender ausgefallen ist. Hier unterbricht eine abrupte Pause eine Realszene, den Schrei einer (re-)agierenden Person. Deswegen muß, damit die Hörer am Apparat bleiben, bald darauf eine Störungsmeldung kommen: Die Stimme des Ansagers löst die Stimmen (re-)agierender Personen ab. Die neue Situation wird mit einer beruhigenden Erklärung garniert, die ein Professor (als beruhigende Autorität) auf einem Dinner (also auf einer furchtmindernden gesellschaftlichen Veranstaltung) abgegeben haben soll. Da es sonst nichts genauer Erklärendes zu sagen gibt, wird zur weiteren Beruhigung eine Klaviermusik mit ruhig perlenden Arpeggien eingespielt. - Wichtig für die Stimmregie ist überdies, wie sich die Funktion der Stimmen im Kontext der radiophonen Übermittlung beschreiben läßt: Stimmen, die handelnde Personen darstellen sollen, müssen anders klingen als Stimmen in offizieller radiophoner Funktion (etwa als Ansager); selbst die handelnden Personen müssen überdies, wie schon frühzeitig in der Radiotheorie festgestellt wurde (beispielsweise von Pierre Schaeffer), vor dem Mikrophon anders sprechen als auf der Bühne.
Während Geräusche und Musik, Klang und Stille sich hier mit wechselnden Stimmen verbinden, reduziert sich der Katastrophen-Schluß des Hörspiels auf den Wechsel zwischen Solitärstimme und Stille.
1 2 3
Welles Schluß
Heulton, Hupsignale 2X2L calling ..... isn´t there 2X2L
anybody (on the air)? ...
Orson Welles, The War of the Worlds, Schluß
Medien über Medien:
Komponierte Medienereignisse als zeitgeschichtliche Reflexion
Beispiel: Georg
Katzer, Aide-mémoire
1 9 18
Kriegshetze.........................................Kriegswende............................Totaler Krieg..........................................
Georg Katzer: Kriegshetze - Kriegswende - Totaler Krieg (Aus Aide-mémoire, 1983)
Quelle: Ton- und Textdokumente 1929-1945 (s. o.), CD-Beilage take 38-45; ferner BMG 54321 73 521-2
KRIEGSHETZE
1. Geräusch: Splitterndes Glas
2. Soldatenlied:
Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr!
3. Adolf Hitler:
Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen.
4. Geschrei (Volksmasse)
5. Marschmusik
6. Adolf Hitler (überlagert):
Die deutsche Friedensliebe hat sich zur
Tatsache erhärtet.
7. Adolf Hitler (mit sich selbst überlagert):
Es ist die letzte territoriale Forderung,
die ich in Europa zu stellen habe, Die deutsche Friedensliebe...
aber es ist die Forderung, Die deutsche Friedensliebe...
von der ich nicht abgehe.
8. Geschrei (Volksmasse)
9. Soldatenlied:
Nach Ostland
geht unser Ritt...
10. Adolf Hitler: Die deutsche Friedensliebe...
11. Es ist die letzte
territoriale Forderung,
12. die ich in Europa zu stellen habe. Soldatenlied (Frankreichlied):
... nach Frankreich hinein.
13. Es ist die letzte territoriale Forderung... Soldatenlied (Englandlied):
... wir fahren
gegen Engelland.
14. Die deutsche Friedensliebe... (+ Kriegsgeräusche)
15. Soldatenlied (Rußlandlied):
... ins russische Land hinein.
16. Die deutsche
Friedensliebe...
17. Es ist die letzte territoriale Forderung... (+ Kriegsgeräusche) Sondermeldungs-Signal:
Liszt, Les Préludes
KRIEGSWENDE
18. Signale:Leiser Heulton, leise Schläge auf große Trommel
19. (überlagert) Joseph Goebbels:
Heute noch befinden sich 5, 6 Millionen...
Wir halten sie zurück. Das dürfen wir
nicht...
Sie sollen Soldat werden, und sie müssen
Soldat werden...
20. Männerstimme (verzerrt):
Wir erobern damit die Welt
und den Mond und alle Planeten dazu.
21, Sondermeldungs-Signal (verzerrt)
Liszt, Les Préludes:
22. Geräusch (leise, rauh)
TOTALER KRIEG
23. Geräusch: Splitterndes Glas
24. Joseph Goebbels (mit sich selbst überlagert):
Es ist also jetzt die Stunde gekommen, Es ist also jetzt die Stunde gekommen...
die Glacéhandschuhe auszuziehen. Es ist also jetzt die Stunde gekommen...
25. Geschrei (Volksmasse)
26. Joseph Goebbels (stark verzerrt):
Ich frage euch:
Wollt ihr...
27.
Geschrei (Volksmasse)
28. Wollt ihr den
totalen Krieg?
29. Geschrei (Volksmasse)
30. Wollt ihr ihn,
wenn nötig,totaler und radikaler,
als wir ihn uns heute überhaupt erst
vorstellen können?
31. Getöse
32. Sondermeldungs-Signal + Geräusche
33.
Geräusch: Splitterndes Glas
Georg Katzer: Kriegshetze - Kriegswende - Totaler Krieg (Aus Aide-mémoire, 1983)
Quelle: Ton- und Textdokumente 1929-1945 (s. o.), CD-Beilage take 38-45; ferner BMG 54321 73 521-2
Wenn Radiostimmen über Lautsprecher erklingen, kann die Frage bedeutsam werden, in welchem radiophonen Kontext sie sprechen. Dies kann dazu führen, daß (wie bei Orson Welles) eine Differenzierung zwischen Stimmen (real oder angeblich) handelnder Personen (deren Stimme im Radio übertragen wird, wobei die Sprechsituation nicht radiophon inszeniert sein muß - z. B. verschiedene Sprechrollen im Hörspiel) und spezifisch radiophonen Stimmen (deren Sprechsituation ausdrücklich an den Kontext radiophoner Übertragung gebunden ist, z. B. Radio-Ansager) vorgenommen wird. In Georg Katzers Hörstück Aide-mémoire wird diese Differenzierung auf höherer Ebene weitergeführt: Es gibt auch Stimmäußerungen, in denen die Einzelstimme als Bestandteil komplexer radiophoner Ereignisse präsentiert wird, in denen z. B. konservierte Ausschnitte aus Rundfunk- oder Wochenschau-Berichten zum Material von Montagestrukturen werden können. Katzer versucht dies in seinem Hörstück, das zum 50. Gedenktag des 30. Januar 1933 entstanden ist. Das wichtigste Klangmaterial in diesem Stück sind Ausschnitte von Politikerreden (Einzelstimmen), Geräusche (z. B. Publikums-Geräusche: Kollektivstimmen oder Kriegsgeräusche) und Musik (z. B. Kriegslieder). Sprache, Geräusche und Musik sind so montiert, daß Vorgeschichte und Geschichte des zweiten Weltkrieges in einer konzentrierten Montagestruktur dargestellt werden können. Hier werden, anders als im Propaganda-Hörspiel, Lügen nicht radiophon inszeniert (unter maßgeblicher Beteilung affirmativer Musik), sondern in kontrastierenden Montagen dekouvriert (wobei auch Musik und Geräusche häufig nicht untermalend, sondern in bestimmter Negation kontrastierend eingesetzt sind; die affirmativ verfälschende Funktion der Musik, z. B. in der von Goebbels detailliert vorgeschriebenen Angriffsmusik für den Rußland-Feldzug, wird hier nicht dupliziert, sondern in kontrastierender Montagetechnik kritisch reflektiert).
Bestimmte Montagestücke kehren mehrfach wieder, werden dabei aber mit stets wechselnden Montagestücken kombiniert und so inhaltlich in Frage gestellt: Anfänglich die Zusicherung Hitlers, das Sudetenland sei die letzte territoriale Forderung, die er in Europa zu stellen habe - konfrontiert mit Liedern, die die dann folgenden Angriffskriege begleiteten; später das zur Angriffsmusik umfunktionierte Hauptthema aus Les Préludes von Franz Liszt, das dann mit Meldungen über die sich Schritt für Schritt verschlechternde Kriegslage konfrontiert wird. Die kritisch aufbrechende Montage-Ästhetik artikuliert sich hier als Kontrastmodell zur faschistischen Überwältigungs-Ästhetik.
Zeitgeschichtliche Aspekte -
Neue Ansätze medialer Produktion: Nach 1945
Beispiel: Pierre
Schaeffer / Pierre Henry: Sinfonie pour un homme seul
1 4 7 10 25
Klopfen/Rufen.........Signale/Klangmuster...Klavier/Schritte /Stimme...............................................................
1 Pochen
2 Schläge
3 Stimme
4
5
6
7
8
9
Pierre Schaeffer ( / Pierre Henry): Sinfonie pour un homme seul, Anfang größerer Zusammenhang (0´´ - 1´52´´)
0´´- 46´´
Pochen...Schläge..Ruf/P. S. R...../P. S. R./Sirene Sir.
12x -3x 8x -2x 4x -1x präp.
Klav. St. St. St.
a -a -a+ 3Schleifen 3Schleifen
1................................................................................2.........................................................................................
1.1................................1.2.........................1.3..........2.1...........................2.2......................................................
Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul (1949-50) - Prosopopée 1, Anfang (0´ - 0´46´´)
46´´ - 1´19´´
Einleitung
Klavier: Marsch
Melodie Melodie
gesummt gepfiffen
Akzentklänge
Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul - Prosopopée 1, 1. Fortsetzung (0´46´´ - 1´19´´)
1´19´´- 1´54´´
(präp.) Klavier...........................................................(heftiger, lauter)...........
+ Summen + Melodie gesummt.........Melodie........................
Ruf
Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul - Prosopopée 1, 2. Fortsetzung (1´19´´ - 1´54´´)
Quelle: Pierre Schaeffer, l´oeuvre musicale, INA C 1007, volume 2
Die konventionelle Hörspielregie von Stimmen, Geräuschen und Musik-Zuspielungen hat sich seit den 1920er Jahren entwickelt und ist im folgenden Jahrzehnt, vor allem in Deutschland, relativ reibungslos in der Regie von Propaganda-Hörspielen ideologisch umfunktioniert worden. In den 1940er Jahren entwickelten sich dem widerstreitende Ansätze, die in ihrer politisch oppositionellen Ausrichtung vielleicht mit dem Dadaismus der letzten Jahre des 1. Weltkrieges verglichen werden könnten: Die ersten Ansätze einer neuartigen experimentellen Radiokunst, die Pierre Schaeffer in den frühen 1940er Jahren im französischen Rundfunk entwickelt hat, artikulierten sich als Kunst der Resistance. Dies hat auch die Entwicklung späterer Jahre geprägt bis in die Anfänge der von Pierre Schaeffer erfundenen musique concrète hinein: Das erste große Werk dieser neuen medienspezifischen Gattung, die Sinfonie pour un homme seul von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, beginnt mit dumpfen Schlägen und rätselhaften Stimmlauten, deren ambivalente Deutbarkeit nicht nur an Eröffnungssignale einer Theater-Vorstellung erinnern kann, sondern auch an traumatische Erfahrungen aus der Okkupations-Zeit: Das nächtliche Pochen der Gestapo. Verschiedene Klopf-Geräusche werden konfrontiert mit rätselhaften Stimmlauten (die in so winzige Montagestücke aufgesplittert sind, daß keine sprachlichen Bedeutungen mehr erkennbar sind). Später kommen instrumentale und vokale Klänge, Klänge des präparierten Klaviers und der Stimme hinzu - auch sie aufgesplittert in Montagestrukturen: Musik der rätselhaften Geräusche und Instrumentalklänge, der wortlosen Stimmen.
Im letzten Satz dieser Komposition, der den Titel Stretta führt, folgt dem bunten Kaleidoskop verschiedener Einzelstimmen, das in den vorausgegangenen Sätzen zu hören war, die Konfrontation von Solitärstimme und Kollektivstimme(n), von Klagelaut und Schrei: Die massenpsychologische Suggestivität faschistischer Propaganda wird aufgebrochen in kontrastiven Montagestrukturen.
0´´ - 1´15´´
präp. Klavier präpariertes Klavier
Geräusche
Tuckern
Volk Volk
„Klage“
Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul - Strette, Anfang
1´15´´ - 2´53´´
kreischende Melodie über kreisenden Klangmustern Akzente kreischende Melodie...
Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul - Strette, Fortsetzung
In dieser Musik hat Gestalt gefunden, was zuvor, in den Anfangsjahren während der deutschen Okkupation, sich erst ansatzweise im Verborgenen hatte entwickeln können: Musik des Widerstandes, die auch dem Radio und den Stimmen des Radio völlig neue Funktionen zuweist. Sie lassen sich vergleichen mit Klangdokumenten früherer und späterer politischer Umbrüche: Zurückweisend in Aufnahmen aus der Okkupationszeit und der Zeit der Befreiung von Paris - vorausweisend auf einen späteren Umbruchsversuch in Paris, die Mairevolution 1969. In solchen Vergleichen kann deutlich werden, daß Realereignisse sich unter ähnlichen Ereignissen akustisch analysieren lassen wie fiktive Ereignisse oder fiktionalisierende technische Verarbeitungen realer Ereignisse.
Neuere zeitgeschichtliche
Ereignisse im Spiegel von Medien-Kompositionen: 1968 und 1989
Beispiel: Francois
Bayle, Solitioude
Geräuschfetzen -Geräuschatmosphäre
Akzent Akzent
Verlauf: vorbeifahrd. Polizeiauto Verlauf:
Musik-
fetzen
Akkord Akkord+Atem
Francois Bayle: Solitioude (1969), Anfang
Quelle: Magison, Edition Bayle volumes 5-6, Musidisc 245042, disque 1, take 14-15
Francois Bayle, der französische Tonbandkomponist und Nachfolger von Pierre Schaeffer als Leiter der musikalischen Forschungsgruppe am Pariser Rundfunk, hat 1968 während der Pariser Mairevolution Aufnahmen auf den Straßen von Paris gemacht. Später, bei der Verarbeitung im Studio, hat er diese Aufnahmen von Massenstimmen konfrontiert mit anderen Massengeräuschen und mit dem individuellen, gemächlichen Solospiel eines Gitarristen. So wird deutlich, daß die Situation auf den Pariser Straßen sich wesentlich unterscheidet von der Situation eines Tonbandkomponisten, der Fragmente aufgenommener Demonstrationsgeräusche später allein im Studio verarbeitet und dabei mit durchaus heterogenen Klangmaterialien zusammenbringen kann: Der Titel von Bayles Tonbandkomposition, Solitioude, ist das englische Wort „solitude“ in französischer Umschrift: Die Einsamkeit des Komponisten erscheint hier als Indiz seiner schwierigen Rolle in einer aufregenden zeitgeschichtlichen Entwicklung, vielleicht auch als Zeichen der Skepsis, ob in den spektakulären Kollektivgeräuschen sich tatsächlich spektakuläre politische Veränderungen ankündigen konnten. Stimme, Geräusche und Musik präsentieren sich also auch hier - wie in älterer technisch produzierter Musik - in vielfältigen Montagen und Mischungen, die sich blinder Affirmation verweigern und die Aura des Authentischen immer wieder in Frage stellen: Hier präsentiert sich Hörkunst als entlarvte Fiktionalität.
Gitarre Volk Sirene Elektron. Klang + leise Geräusche
Francois Bayle: Solitioude (1969), 1. Fortsetzung
Gitarre Elektronik, leise Geräusche Gitarrenmusik - Vog.pfeifen
Francois Bayle: Solitioude (1969), 2. Fortsetzung
Gitarrenakzente.....................................................................leise Schlußgeräusche...........
Akz. Akz. Akz.
Francois Bayle: Solitioude
(1969), 3. Fortsetzung
Musik aus Medien-Dokumenten gibt es auch aus einem späteren
Jahr zeitgeschichtlichen Umbruchs: 1989. In seiner Komposition Mein 1989 hat Georg Katzer
zeitgeschichtliche Dokumente der Wendezeit in ähnlicher Weise kritisch montiert
wie 6 Jahre zuvor, in Aide-mémoire, Tondokumente aus der Zeit
des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkrieges.
Beispiel: Georg
Katzer, Mein 1989
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Georg Katzer: Mein 1989 (1990): Mauerfall
1 Pochen (Schläge an die Mauer)
2 Honecker: Die Mauer...
3 Volk, Pochen (Das Volk an der Berliner Mauer)
4 Honecker. So viel sei aber jetzt schon gesagt:
5 Blubbernde elektronische Geräusche
6 Honecker (viele kleine Samples, wie gestottert): Die Mauer
7 Honecker: Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren nocht bestehen bleiben (Echos: bleiben, bleiben...), wenn...
8 Vogelkrächzen
9 4 Schläge (an die Mauer)
Georg Katzer: Mein 1989 (1990): Mauerfall (Quelle: Georg Katzer sowie Archiv IMEB Bourges)
In einer Szene, die den Fall der Berliner Mauer thematisiert, wird die technisch manipulierte Stimme eines Politikers zur unfreiwilligen Hauptfigur: Die gesampelte Stimme Honeckers, die den Fortbestand der Berliner Mauer verheißt, wird konfrontiert mit Geräuschen des Massen-Protestes und mit den Klopfgeräuschen der „Mauerspechte“. Als Indiz politischer Kritik artikuliert sich auch die technische Manipulation der Stimmaufnahme: Der gesampelte Honecker gerät ins virtuelle Stottern. So wird die Hörszene zur Darstellung der Destruktion politischer Herrschaft - mit ähnlichen Klangstrukturen, wie sie Katzer in einem Tonbandstück schon vor dem Fall der Mauer verwendet hatte: In der Komposition Mein 1789, die ein Geschichtsdatum akustisch-kritisch analysiert, das später zur Vorbereitung einer noch weiter gehenden Revolution im Jahre 1917 uminterpretiert worden ist - als (bürgerliche) Vorbereitung einer (sozialistischen) Epoche also, die 1989 zu Ende zu gehen schien. Aide-mémoire, Mein 1789 und Mein 1989 präsentieren sich in diesem Kontext als Darstellung geschichtlicher Prozesse des Entstehens und Vergehens, wie sie insbesondere zu Beginn des zweiten und dritten Stückes ausdrücklich angesprochen werden in einem Zitat des vorsokratischen Philosophen Anaximander:
Zeitgeschichte -
(Zeit-)geschichtliche Prozesse des Werdens und Vergehens früher und heute
Beispiel: Georg Katzer, Mein 1989 (Ausschnitt, auch in Mein 1789)
Woher (Echo: Woher, woher, woher...)
Woher die Dinge ihre Entstehung haben (woher die Dinge ihre Entstehung haben),
dahin (dahin)
müssen sie auch zu Grunde gehen (müssen sie auch zu Grunde gehen)
nach der Notwendigkeit (nach der Notwendigkeit);
denn sie müssen Buße zahlen (denn sie müssen Buße zahlen)
und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden (und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden)
gemäß der Ordnung der Zeit (gemäß der Ordnung der Zeit).
Georg Katzer: Mein 1989 (1990), Ausschnitt (auch in Mein 1789)
Schlußbemerkung
Stimmen der Medien - Stimmen der Zeitgeschichte - reale und virtuelle Stimmen - Stimmen im Kontext mit Geräuschen und Musik: Diese und andere Stichworte können darauf verweisen, wie stark sich in der mediengeschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts auch unter den Aspekten von Stimme und Sprache die Hörerfahrung und die Hörkunst verändert haben. Das Interesse hat sich in vielen Fällen von der Sprache der Musik auf die Musik der Sprache verwandelt, vom Denken in autonomen musikalischen Strukturen auf das Denken in komplexen, auch Geräusche und Stimmlaute gleichberechtigt einbeziehenden Klangstrukturen. Das wachsende Interesse an der Stimme könnte symptomatisch sein am wachsenden Interesse an einer radikalen funktionalen Neubestimmung der Musik sowie der musikbezogenen und musikübergreifenden Erfahrung.
Nachbemerkung zu den
Hörbeispielen:
Stimme - Musik und
Akustische Kunst
Dieser Text beschreibt eine Beispielreihe zum Generalthema „Akustische Kunst / Hörkunst mit Stimmen“ unter dem Teilaspekt „Stimmen eines Jahrhunderts - Stimmen und Akustische Kunst im Wandel der Zeitgeschichte“ unter Stichworten wie:
Von Edisons Phonographen bis zur historischen Hörszene
Propaganda mit Lautsprecherstimmen
Unbewältigte Vergangenheit im Hörbild
Stimmen sozialer Konflikte
Montierte Stimmen im Hörfilm
Propagandastimmen über Lautsprecher
Nach den Weltkriegen: Freigesetzte Stimmen
Stimmen in Situationen des politischen Umbruches
Extra- und introvertierte Klänge und Stimmen
Kommentar zu den Stichworten:
Akustische Kunst ist die Hörkunst des technischen Zeitalters. Wie stark sie sich von traditionellen Hörkünsten wie Text-Rezitation und Musik unterscheidet, wird vor allem dann deutlich, wenn in ihr aufgenommene Stimmen zhu hören sind. Sie fixiert den Stimmklang historischer Persönlichkeiten (von Personen der politischen Zeitgeschichte, Schauspielern oder Sängern) und dokumentiert Beispiele historischer Sprech- und Sing-, Regie- und Aufführungspraxis (Letzteres nicht nur in Rezitationen oder musikalischen Vertonungen, sondern auch in medienspezifischen Verbindungen mit Geräuschen und Musik). Die Beispiele der Frühgeschichte dieser Entwicklung finden sich einerseits in Hörbeispielen und Hörfilmen, andererseits in experimenteller Lautdichtung (in Grenzüberschreitungen zunächst von Literaten wie Schwitters, später auch - gleichsam in Gegenrichtung - von Musikern wie Josef Anton Riedl).
In technischer Hinsicht läßt sich das Niemandsland zwischen Sprache und Musik am besten dadurch erschließen, daß aufgenommene Klänge durch technische Verfremdungen gleichsam musikalisiert werden, wodurch die Identifizierbarkeit der Stimme, die Verständlichkeit der gesprochenen bzw. gesungenen Sprache oder beides verloren gehen können.
Akustische Kunst als Hörkunst mit Stimmen hat inzwischen eine rund hundertjährige technisch-musikalische Entwickluing durchlaufen: als Hörkunst, die die Klänge zum Sprechen und andererseits Stimme und Sprache ästhetisch differenziert zum Klingen bringt.
Akustische Kunst mit Stimmen erschließt neue, bisher noch kaum bekannte Aktivitäten in den Bereichen von Musik und Sprache. Dies läßt sich zeigen an Produktionen unterschielicher Epochöen sowie unterschiedlicher zeitgeschichtlicher und ästhetischer Positionierung im Brennpunkt zwischen Stimme und Sprache, zwischen Klang und Bedeutung.
Im folgenden werden die im diesem Beitrag besprochenen zeitgeschichtlich orientierten Beispiele, sowie als stärker systematisch orientierte Ergänzung hinzu, eine weitere, primär phänomenologisch orientierte Beispielreihe mitgeteilt. Näheres über das Schlußbeispiel der ersten, zeitgeschichtlichen Beispielreihe findet sich in diesem Tagungsband im Rahmen des Beitrages von Alexander Schwan.
1.Beispielreihe:
1877-2001: Stimmen der
Zeitgeschichte
Medial vermittelte
Stimmen: Anfänge
- 1877: Konservierte Stimmaufnahme - Das erste Stimmporträt:
Thomas Alva Edison
- 1889, 1903: Frühe Sprach- und Musikaufnahmen (Johannes Brahms)
Konservierte
Hörereignisse: Sprache - Geräusche Musik
- 1905: Konservierte Hörszene: Das Aufziehen der Schloßwache in Berlin
Medienstimmen als
Politikum: Hörszenen aus dem 1. Weltkrieg
- 1914: Hörszene als Kriegspropaganda: Die Erstürmung von Lüttich
- 1914: Krieg und
Religion: Feldgottesdienst vor Maubeuge
Medienstimmen als
Umfunktionierungen von Vergangenheit und Gegenwart
- 1914-1918 / 1929: Kriegs-Reminiszenzen - pazifistisch:
Hörspielszene Menschheitsdämmerung (F. Bischoff / F. Engel)
- 1914-1918 / 1933: Kriegs-Reminiszenzen - revanchistisch:
Hörspielausschnitt Eine preußische Komödie (F. Rehberg)
- 30. 1. 1933: Hör-Reportage als Politikum: „Machtergreifung“
Medienstimmen als Versuch der Virtualisierung der Gegenwart
- 1938: Virtuelle Kriegsreportage: Der Krieg der Welten (Orson Welles)
Medien über Medien: Komponierte Medienereignisse als zeitgeschichtliche Reflexion
- 1938/39 - 1945 ( / 1983): Realdokumente des Krieges - collagiert: Aide-mémoire (Georg Katzer)
- 1940 - 1944 ( / 1949): Kriegs-Reminiszenzen: Terror / Resistance -
Symphonie für einen einsamen Menschen (P. Schaeffer, P. Henry)
- 1943/44: Kriegs-Reminiszenzen: Bombenalarm - Hörspielszene aus Die Planetenmuschel (P. Schaeffer)
- 1944: Die Befreiung von Paris: Fanfare - Radio-Ansagen (Live-Mitschnitt)
- 1944: Die Befreiung von Paris: Straßenkampf - Telefonat im Rundfunk (P. Schaeffer, P. Éluard)
Zeitgeschichtliche
Aspekte - Neue Ansätze medialer Produktion: Nach 1945
- 1949 - 1950: Nach dem Krieg: Solitärstimme - Schrei der Masse:
Symphonie für einen einsamen Menschen (Schaeffer/Henry)
Neuere
zeitgeschichtliche Ereignisse im Spiegel von Medien-Kompositionen: 1968 und
1989
- 1968/69: Stimmen der Mai-Revolution - Kommentare im Studio: Solitioude (F. Bayle)
- 1989 ( / 1990): Stimmen zur Wendezeit: Der Fall der Mauer - Mein 1989 (G. Katzer)
Zeitgeschichte -
(Zeit-)geschichtliche Prozesse des Werdens und Vergehens früher und heute
- 1989 / 1990: Stimme - Wendezeit(en): Zeit im Wandel - Entstehen und Vergehen / Mein 1989 (G. Katzer)
Stimmen der
Popkulturen
- 1950 - 11. 9. 2001: Rufen, Schreien, Singen, Sprechen - Stöhnen, Lachen, Flüstern
2. Beispielreihe
Stimmen aus dem
Lautsprecher: Solitärstimmen - Unsichtbare Klänge
Die Stimme des
Erfinders
- 1877: Thomas Alva
Edison
Die Stimme der
fiktiven Katastrophe
- 1938: „Der letzte Radiosprecher“ - Der Krieg der Welten (Orson Welles)
Die isolierte
Einzelstimme im Studio
- 1997: Allein vor dem Mikrophon: Die Stimme des Radiopioniers -
Pierre Schaeffer komponiert von Christian Zanesi
Unsichtbare Stimmen
und Klänge
- 1972: Der Gefangene des Klanges (Michel Chion)
Virtueller Gesang
- 1992: Chant d´ailleurs (Alejandro Vinao)
Lautmusik
- 1922 - 1932:
Lautmusik: Scherzo - Sonate in Urlauten (Kurt Schwitters)
Wortbrocken - vom
Eise befreit
- 1952: Les paroles dégélées (Rabelais / Pierre Schaeffer)
Montierte Sprachlaute
- 1952: „Prähysterisches“ Sampling: Vocalises (Pierre Henry)
Lautliche
Atomisierung von Sprache
- 1962: Sprachsplitter: Leonce und Lena (Georg Büchner / Josef Anton Riedl)
Im Grenzbereich
zwischen Sprache und Gesang
- 1984: Stimmritual: Temple (aus La Ville: Pierre Henry)