Rudolf Frisius
DIESSEITS UND
JENSEITS DER VIRTUALITÄT
Neue Musik - Neue
Medien
JetztMusik SWR 2 (Produktion 22. 11. 02, Sendung Montag, den 11. 2. 03, 22.05 - 23.00 Uhr)
Standardschrift = Text Autor
Kursiv und fett = Zitate
Fett = Zuspielungen
A. Michael Kosch:
Colatudes - Teil 3 „Vienna“
2´38´´ - 3´30´´
Sonic Circuits VIII, innova 117 - take 7
Eine kurze Etüde mit dem Titel „Vienna“ (Wien).
Sie ist das letzte Stück eines dreiteiligen Zyklus -
die Arme-Leute-Version eines Wiener Walzers,
mit Instrumenten aus dem alltäglichen Hausrat.
Diese Musik hat der amerikanische Komponist Michael Kosch realisiert.
In der Textbeilage einer amerikanischen Anthologie hat er sein Werk kurz kommentiert:
(...) Kurze Studien in musique concrète.
Die Schallquellen sind:
Leere Coca-Cola-Büchsen,
Flaschen (aus Plastik und Glas, in verschiedenen Größen)
und Flaschenkappen (aus Plastik und Metall) -
aufgenommen mit einem Vierspur-Kassettenrecorder mit variabler
Geschwindigkeit.
Der Komponist hat alle Partien selbst eingespielt
und sie dann gründlich bearbeitet mit overdubbing, equalizing und
remixing.
Diese selfmade-man-Musik heißt „Colatudes“ (Coca-Cola-Etüden).
Sie ist humorvoll genug,
um mit ihren pittoresken Klängen die große weite Welt zu beschwören -
mit kontrastierenden Klangporträts nicht nur von „Vienna“, sondern auch von „Djibuti“.
B. Kosch: Colatudes II Vienna, 1´14´´ - 2´34´´
Diese Komposition ist ein charakteristisches Beispiel für Musik mit technischen Medien,
die abseits hoch ambitionierter technischer und ästhetischer Standards entsteht:
als Musik des Alltags
in einfacher, aber sorgfältig und effizient ausgearbeiteter Faktur.
Das Werk läßt sich beschreiben
als Kontrastmodell zu einer Musik,
die sich (in ihren technischen ebenso wie in ihren ästhetischen Konzeptionen)
eher an den Möglichkeiten großer Studios und renommierter internationaler Festivals orientiert.
C. Ludger Brümmer: Nyx.
Cultures Electroniques 15, Bourges 2001, CD 1 - take 1, LCD 27 8074 / 75
10´18 - 11´28
Der deutsche Komponist Ludger Brümmer
ist einer der profiliertesten Exponenten in der internationalen Szene elektroakustischer Musik.
Mehrfach ausgezeichnet wurde er beispielsweise
auf dem internationalen Festival für Musik und Klangkunst in Bourges.
Über seine Arbeitsweise schreibt er:
Mein Ansatz stellt sich sehr profan dar:
Das Resultat soll eine gestaltete Zeit sein,
die im Stande ist, zu faszinieren, zu fesseln
und in dem Hörer tiefe emotionale, aber auch rationale Schichten
anzusprechen. (...)
Das Fesseln des Zuschauers bzw. Zuhörers
ist für mich als Komponist die höchstmögliche Form an Erlebnis, die ich
auslösen kann.
Das Mittel, das dieses Fesseln unter anderem erreicht, ist akustische
Energie.
evtl. D. Brümmer
(weitere Zuspielung Nyx)
je nach Sendezeit
Die Komposition „Nyx“
entstand im Studio des Internationalen Instituts für experimentelle Musik in Bourges.
In dieser Musik und in anderen Kompositionen hat Ludger Brümmer
neue Möglichkeiten der Formung organischer Klangprozesse entwickelt,
in denen neue, computergesteuerte Techniken der Klangproduktion
sich verbinden können mit ästhetischen Vorstellungen,
die ihre Wurzeln in der abendländischen Tradition nicht verleugnen -
z. B. in „Nyx“ als Beschwörung antiker Vorstellungen
des Chaos und der Nacht,
des Todes und des Traumes,
von Tadel und Wut.
Komponisten wie Michael Kosch und Ludger Brümmer
repräsentieren polare Gegensätze im breiten Spektrum neuer Musik und Medienkunst -
in einem Spektrum, in dem Altes und Neues, Bekanntes und Unbekanntes sich wechselseitig
in vielfältiger Weise modifizieren, beeinflussen und durchdringen können.
Was ist das Neue in der Neuen Musik?
Was ist das Neue in den neuen Medien?
Beide Fragen lassen sich heute leichter stellen als beantworten -
zu einer Zeit, in der noch nicht klar zu erkennen ist,
ob der Beginn eines neuen Jahrhunderts und Jahrtausends
womöglich auch den Beginn einer neuen Epoche markiert -
sei es in der politischen Zeitgeschichte, sei es in der Musikgeschichte, sei es in der Mediengeschichte.
Der 11. September 2001 ist weltweit als Medienereignis registriert worden -
in obsessiver Detailversessenheit;
in weltweiter Verbreitung nicht nur von live gesendeten Ton- und vor allem Bilddokumenten,
sondern vor allem auch von unermüdlichen Wiederholungen konservierter Fernsehbilder.
Die Frage allerdings, ob damit der Beginn einer neuen Epoche
der Zeitgeschichte und der diese markierenden Medien- und Musikgeschichte markiert wird,
ist nicht leicht zu beantworten.
Wenn beispielsweise unter dem Eindruck aktueller politischer Ereignisse
im Jahre 2001 ein neues Orchesterwerk entsteht,
so ist damit noch nicht ohne weiteres ausgesagt,
daß sein zeitgeschichtlicher Bezug sich grundsätzlich
zeitgeschichtlich relevanten Beispielen aus früheren Epochen der Musikgeschichte,
beispielsweise von zeitgeschichtlich orientierter Programmmusik unterscheidet.
Vor allem kann sich die Frage stellen,
ob und inwieweit eine Komposition, die für eine traditionelle Orchesterbesetzung geschrieben ist,
aktuelle zeitgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen reflektieren kann,
die von vielen nur als Realität zweiten Grades,
in der Vermittlung über technische Medien wahrgenommen werden.
Zu fragen wäre:
Kann Kunst im Zeitalter alter und neuer technischer Medien
sich der aktuellen Wirklichkeit anders stellen
als durch ihre Verbindung mit
und sogar durch ihre Verwandlung zur Medienkunst?
Diese und ähnliche Fragen nach dem Wirklichkeitsbezug heutiger Kunst werden unterschiedlich beantwortet -
vor allem in den Bereichen der Hörkunst und Musik:
Vokale und instrumentale Musik beispielsweise,
die sich (mehr oder weniger weitgehend)
auf aus der Tradition bekannte klangliche, vielleicht auch musiksprachliche Mittel stützen,
verbleiben oft insoweit in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit
in einer ästhetischen Position,
die bereits aus der musikalischen Tradition relativ gut bekannt ist -
etwa in den Bereichen von Programmmusik und Darstellender Musik.
Dies kann besonders deutlich werden dann,
wenn es um Bezüge zur realen Hörwelt geht:
Wenn beispielsweise Umweltgeräusche
in einer traditionell notierbaren Instrumental- oder Vokalmusik dargestellt werden sollen,
dann erscheinen häufig die Elemente der akustischen Realität
in der symbolischen Verschlüsselung der Notenzeichen so stark abstrahiert,
daß sie womöglich nicht mehr allein im konkreten Höreindruck,
sondern nur noch in Verbindung mit externen Zusatzinformationen decodiert werden können
(z. B. angelehnt an Programmnotizen,
wie sie viele Komponisten Neuer Musik für ihre Hörer verfassen).
Für den Bereich der Neuen Musik ergeben sich darüber hinaus weitere spezifische Fragen:
Welche Konsequenzen hat die Einbeziehung technische Medien
für die Musikpraxis,
für die musikalische Erfindung und Ausführung
und für das Musikverständnis insgesamt?
Lassen sich technische Medien
zur Fortentwicklung der Musik im bisherigen Sinne einsetzen
oder können sie dazu anregen,
tradierte Konzeptionen und Abgrenzungend der Musik in Frage zu stellen
sowie zu versuchen,
sie zu integrieren in größere Zusammenhänge einer weiter gefaßten Hörkunst?
---------------------------
1. Yves Daoust:
Fantaise 0´- 0´35.
Anfang (ausblenden vor Anfang Schubert-Fantasie)
IMED 4983
Fröhlicher Gesang mit Klavierbegleitung -
Begrüßungen auf französisch: mehrmals nacheinander, mit wechselnden Stimmen und Wörtern -
ein Schlußsignal mit gerufenen Begrüßungen und ausklingender Musik:
Mit Aufnahmen populärer Musik und mit konventioneller Sprachfloskeln beginnt ein Hörstück
des frankokanadischen Komponisten Daoust.
Die aufmunternde Musik und verschiedene Sprache freundlicher Guten-Tag-Wünsche übermitteln,
schaffen, wie es scheint,
eine einfache und sinnfällige Hör-Atmosphäre von fast naiver Eingängigkeit.
Erst dann, wenn man genauer zuhört, entdeckt man Ungewöhnliches:
Die Musik-Aufnahme beginnt nicht zu Beginn des Stückes, sondern mittendrin:
mit einer Kadenzfloskel.
2. Fantaisie 0´´ - 1´´
„Falscher“ Anfang: 1.
Kadenzfloskel (Halbschluß)
Zu hören ist ein falscher Anfang:
ein Halbschluß auf einem Dominantseptakkord, gespielt auf einem klapprigen Klavier.
Erst danach wird hörbar, wie die Musik eigentlich hätte anfangen müssen:
mit fröhlichem Gesang (den das Klavier begleitet).
Dem falschen Anfang folgt der richtige.
3. Fantaisie 0´´ -
5´´
„Falscher“ und
„richtiger“ Anfang: Klavierfloskel - Vordersatz Gesang und Klavier (1. loop)
Aus dem Lautsprecher kommt eine virtuelle Gesangsszene mit Klavierbegleitung:
Der aufmerksame Hörer bemerkt,
daß ihm nicht eine Aufführung vorgetäuscht, sondern eine Klangkonserve vorgespielt wird:
Zuerst hört man ein aufgenommenes Fragment, in dem der Anfang der Musik abgeschnitten ist;
erst danach ist der richtige Anfang zu hören: angeklebt an den falschen
und dann gleich angschließend mehrmals wiederholt:
als loop, zu dem nach einiger Zeit dann auch andersartiges Klangmaterial hinzugemischt wird.
4. Fantaisie 0´´ -
12´´
„Falscher“ Anfang -
loops bis zur ersten Begrüßung: Bonjour, mesdames et messieurs (Radiosprecher)
Verschiedenes ist zu hören:
- ein Klavier-Akzent;
- Gesang mit Klavier-Begleitung;
- eine hinzugemischte Grußformel - gesprochen von einer Männerstimme,
die der Hörer vielleicht als Ansager oder Moderator in einer unterhaltsamen,
mit flotter Musik untermalten Radiosendung zu identifizieren versucht ist.
Das führt zu einer nahe liegenden Frage:
Soll dem Hörer mit diesem Anfang des Hörstückes die Illusion vermittelt werden,
er höre eine Radiosendung mit Live-Ansage? -
Wer weiter zuhört, bemerkt, daß diese mögliche Illusion gleich anschließend zerstört wird:
Die Grußformel wiederholt sich - aber jetzt in technischen Verfremdungen;
der aufgenommenen Realstimme folgen virtuelle Varianten mit technisch verfremdeten, künstlichen Stimmen.
5. Fantaisie 10´´ -
15´´
Begrüßungen:
pseudo-realistisch - virtuelle Varianten
Konservierte Fetzen von Sprache und Musik beherrschen das Stück -
scheinbar locker aneinander gefügt in einer Kompositionsweise,
auf die auch der Titel des Stückes verweist:
Fantaisie.
Schon nach kurzer Zeit wird deutlich, daß das Titelwort „Fantaisie“
auch auf ein Musikzitat verweist:
Die Fantasie f-moll für Klavier vierhändig von Franz Schubert erklingt -
allerdings nicht pseudo-dokumentarisch wie in einem über Lautsprecher vorgetäuschten Konzertsaal,
sondern offenkundig als virtuelles Hörereignis:
radiophon aufbereitet und verfremdet -
mit hinzugemischten anderen Hörereignissen:
Stimmen - musikalische Verfremdungen - andere Musik - Geräusche (realistisch oder technisch verfremdet).
6. Fantaisie 35´´ -
2´
Schubert-Phantasie,
Stimmen und Geräusche - abschließend mit Orchester-Akzent
In dieser Fantasie mit Lautsprecher-Klängen
vereinigen sich Klangfetzen aus dem Lautsprecher,
fragmentarische und technisch verfremdete Klänge
zu einer neuartigen Hörkunst,
die sich nicht begnügt mit Musik im traditionellen Sinne,
sondern deren Klänge kombiniert mit Stimmen und Geräuschen:
in virtuellen Hörszenen.
7. Fantaisie 6´28´´ -
7´51´´
Bon soir...
Jahrmarkmusik, Stimmen, verfremdete Klänge -
pulsierende Baßtöne,
Glockenschläge -
Triller: Glocken,
übernommen von der Flöte
Medienspezifische Musik und Hörkunst
arbeiten mit verschiedenen Abstufungen zwischen Realität und Virtualität,
zwischen high fidelity und technischer Verfremdung.
Musik im herkömmlichen Sinne kann in solchen Zusammenhängen
zum Teilmoment eines komplexeren Hörereignisses werden -
in der Verbindung mit Stimmen und Geräuschen,
diesseits und jenseits der Virtualität.
8. Fantaisie 9´30´´ -
12´20´´:
Glockenähnlicher
Akzent - Begrüßungen; Stimm-, Musik- und Geräuschfetzen -
Schubert -
Computerstimmen
Neue Musik zur Zeit der Jahrhundert- und Jahrtausendwende
befindet sich in einem längerfristigen Prozeß der Verwandlung:
Live-Musik und technisch vorproduzierte Musik,
Musik mit alten und neuen Medien stehen nach wie vor, meist unverbunden, nebeneinander.
Eines ihrer immer noch wichtigsten Foren spielt heute, in der Epoche des Internet,
eine nach wie vor wichtige Rolle
in der Ambivalenz eines Mediums,
das sich möglicherweise von einem alten in ein neues Medium zu verwandeln beginnt:
das Radio.
9. Fantaisie 12´40 -
14´
Ici Radio... -
Gesang: Hallo, hallo... - Radiostimmen -
Schnulzengesang
(Männerstimmemit Klavierbegleitung) - als loop
Alte und neue Musik - alte und neue Medien:
Vielfältige Prozesse der Verwandlung von Medien und Hörerfahrung könnten anregen zum Umdenken -
zum Überdenken selbst des scheinbar Altvertrauten und Wohlbekannten.
10. Mi bémol Anfang:
0´´ - 1´39´´
Ton - Tonart
(Tonikadreiklang) - Hinzumischung von Geräuschen - Stimmen (kollektiv, einzeln)
Quelle: wie 1 (Yves Daoust: Musiques naives)
Mi bémol, Es:
Dies ist der französische Name eines Tones -
und es ist zugleich auch der Titel eines kleinen Musikstückes:
Yves Daoust hat ein kurzes Hörstück, einen Audio-Clip, produziert,
der mit diesem Ton beginnt.
11. Mi bémol 0´´ -
12´´: Ton (repetiert, in mehreren Accelerando-Anläufen)
Stück beginnt mit einem scheinbar konventionellen Material -
mit einem einzigen Ton, der allerdings durchaus unkonventionell auskomponiert wird:
Komponiert ist hier alles,
was man in traditioneller Kompositionsweise,
in Noten für Stimmen und Instrumente,
zumindest in der hier notwendigen Weise nicht fixieren kann:
Repetitionen, in verschiedenen Ansätzen der Beschleunigung, die durch Pausen getrennt sind -
dynamische und farbliche Verwandlungen.
Das konventionell Notierbare, die feste und eindeutige Tonhöhe, wird unwichtig;
statt dessen konzentriert sich die kompositorische Gestaltung auf das Innere des Tones,
auf seine vielfältigen mikro-strukturellen Belebungen.
So wird es möglich, daß Altes mit neuen Ohren gehört wird -
und zwar nicht nur der einzelne Ton,
sondern sogar auch seine Bindung an eine einfache, aus der Tradition wohlbekannte Harmonie:
Der einzelne Ton wird zur Basis einer Harmonie und einer Tonart, zum Grundton eines Dreiklanges.
12. Mi bémol 0´12´´ - 0´33 ´´ (Akzent): Ton (es1)
- Tonika, Tonart (Es-Dur)
22´´
Dem innerlich belebten Einzelton folgt die innerlich belebte Harmonie.
Die Entwicklung führt bis zu einem Akzent, der neue Hörereignisse ankündigt:
Geräusche - später auch Stimmen.
13. Mi bémol 0´31´´ -
1´36: Akzent - Geräusche - Stimmlaute (kollektiv, einzeln)
Schluß vor Einsatz der leisen Klangfläche
Der einleitende Akzent führt über Bekanntes, über Ton und Harmonie, hinaus:
Neue Klänge kommen hinzu, ohne allerdings die alten gänzlich zu verdrängen:
Geräusche einer quietschenden Schaukel -
Stimmen: zunächst kollektiv, dann vereinzelt.
Im größeren Zusammenhang verwandelt sich die Musik allmählich
von einzelnen Klangpunkten in eine zusammenhängende Klangfläche -
von den Begrenzungen einzelner Töne und Harmonien
zur Koexistenz von Tönen, Geräuschen und Stimmlauten.
Diese Formentwicklung prägt den ersten Teil dieses kurzen Stückes;
in seinem zweiten, abschließenden Teil wird sie erneut wieder aufgegriffen,
diesmal in veränderter, weiter entwickelter Form:
Ausgehend von einer leisen Klangfläche, zu der die bereits bekannten Quietsch-Geräusche hinzugemischt sind -
mit Akzenten, die klanglich Konstrastierendes ankündigen -
zurückkehrend zu den leisen Punktklängen des Anfangs -
mündend in einen Schlußakzent.
14. Mi bémol, 2. und
letzter Teil: Klangfläche mit Akzenten, Reprise (der Klangpunkte) mit
Schlußakzent
1´36´´ - 3´
Alte und neue musikalische Gestaltungselemente und Musiken
können sich und ihr Verhältnis zueinander verändern
im Kontext alter und neuer akustischer, eventuell auch audiovisueller Medien.
Diese Medien können beispielsweise so eingesetzt werden,
daß sie Altes in Neues verwandeln -
daß sie aus scheinbar wohlbekannten musikalischen Zusammenhängen
neue Klangeffekte und Hörereignisse herausholen,
daß sie beispielsweise Tonkunst verwandeln in Klangkunst.
Wenn in diesem Kontext Altes in neuen Zusammenhängen erscheint,
kann dabei sein Funktionswandel um so deutlicher hervortreten.
15. Ives Daoust: La
gamme 1´38´´ - 3´35´´
Quietschtöne -
hinzugemischte aufsteigendeTonleitern:: acceleriert, danach absinkend bis zu tiefem Repetitionstönen
Imed 0156, take 5
Ein Klangmuster aus langgezogenen Quietschtönen -
ein Übergang zu kurzen Klangmustern mit rasch aufsteigenden Klängen:
zu elektronischen Tonleitern, die sich zunächst verstärken und beleben,
dann in tiefere Lagen geraten und allmählich zur Ruhe kommen:
Diese Formentwicklung findet sich in einem Musikstück von Yves Daoust,
das an traditionelle Musik erinnert:
La gamme - Die Tonleiter.
Diese Musik präsentiert sich im produktiven Kontrast
zwischen einer Musik aus Tonleitern
und einer Musik aus neuartigen, in keine Tonleiterstruktur passenden elektroakustischen Klängen.
Akustische Medienkunst artikuliert sich hier als Kunst der Paradoxien -
im breiten Spektrum zwischen Altem und Neuem, zwischen Bekanntem und Unbekanntem.
In diesem Spannungsfeld können wichtige Spezifika
sowohl der traditionellen Vokal- und Instrumentalmusik
als auch der neuen Medienmusik deutlich werden.
Altes und Neues läßt sich in Akustischer Medienkunst
auf unterschiedliche Weisen aufeinander beziehen -
nicht nur in der Musik selbst,
sondern auch in ihren Konstellationen mit anderen Bereichen der Hörerfahrung:
beispielsweise mit der Sprache,
besonders sinnfällig in der Verbindung alter Texte mit neuen Klängen.
16. Daniel Leduc: Le
voyage d´hiver / Die Winterreise: Der Leiermann
empreintes digitales IMED 9945, take 25
2´26´´
Das Gedicht „Der Leiermann“ ist bekannt als Schlußstück des Zyklus „Die Winterreise“.
Dieser Zyklus ist heute weiten Teilen des kulturell interessierten Publikums
nicht mehr als autonomer Gedichtzyklus gegenwärtig,
sondern als Liederzyklus in der Vertonung von Franz Schubert.
Der kanadische Komponist Daniel Leduc hat einen Zyklus komponiert,
in dem Schuberts Töne durch elektroakustische Klänge ersetzt sind -
zum Beispiel in der Schlußnummer so,
daß die Musik des Leiermannes
nicht mehr an Musik des 19. Jahrhunderts erinnert,
sondern klangliche und musikalische Assoziationen an die heutige Zeit wachruft,
z. B. an außereuropäische Musik
und an elektroakustische Musik, die mit technisch verfremdeten Instrumentalklängen arbeitet.
Aufgenommene Sprache verbindet sich hier
mit elektroakustischer Musik aus technisch konservierten und verarbeiteten Klängen.
An anderen Stellen des Zyklus tritt überdies ein anderer Bereich der Hörerfahrung hinzu,
der im Text mehrfach angesprochen wird,
aber in Schuberts Tonkunst, auch in ihren Tonmalereien, weitgehend verborgen bleibt:
Das Geräusch - z. B. das Geräusch fließenden Wassers, des vorbeiziehenden Flusses.
17. Die Winterreise:
Auf dem Flusse
CDLeduc take 8
2´36
Die CD, auf der Daniel Leduc seinen Winterreise-Zyklus veröffentlicht hat,
beginnt mit einem Stück,
das das Thema der Winterreise in die neuere Zeit versetzt.
Das Stück heißt:
„Réponse impressioniste donnée par Josef K. lors d´une fin de soirée
hivernale
à une touriste francaise qui passait en face de la gare“
„Impressionistische Antwort,
die Josef K. am Ende eines Winterabens einer französischen Touristin
gab,
die an einem Bahnhof vorbeiging.“
Die Situation, die dieser Titel anspricht,
wird dargestellt in einer virtuellen Hörszene,
die beherrscht wird von Geräuschen fahrender Züge.
18. Réponse
impressioniste donnée par Josef K. lors d´une fin de soirée hivernale
à une touriste
francaise qui passait en face de la gare
1´18 - 2´58
CD Leduc take 1
Die technisch-kompositorische Situation zur Entstehungszeit dieses Stückes
(in den 1990er Jahren)
hat der Komponist mit einigen Stichwörtern beschrieben:
Übergang von analogen zu digitalen Techniken;
Festigung eines Kompositionsstils,
der sich speist aus den Quellen
der Lautsprechermusik, der Radiokunst und der klanglichen Ökologie.
Unter diesen Perspectiven gestaltet Leduc eine Hörkunst
der Assoziationen des Alten oder Neuen,
des Verfremdeten, des Verwandelten oder des phantasievoll neu Erfundenen -
einer Hörkunst im Grenzbereich zwischen Realität und Phantasie -
einer Hörkunst der Arbeit mit alten und neuen Medien;
einer Kunst der Auseinandersetzung mit akustischer Wirklichkeit,
die zum Vergleich einlädt
auch mit Arbeiten anderer Künstler,
deren Arbeit noch stärker gegenwartszentriert erscheinen könnte -
etwa im Spannungsfeld von Technik und menschlicher Kommunikation.
19. Marc Tremblay:
„... ceci est un message enregistré...“, 0´´ - 1´14´´
CD Tremblay: Bruit-graffiti, take 5
Die Auseinandersetzung mit der modernen Hörwelt
spielt eine wichtige Rolle in älterer und neuerer Medienmusik -
z. B. als Bewußtmachung von Hörphänomenen,
die in der Alltagserfahrung oft weitgehend unbeachtet bleiben.
Im Alltag Verborgenes kann durch Medienkunst bewußt gemacht
und deswegen auch mit neuen Ohren gehört werden -
z. B. alltägliche Verkehrsgeräusche in der Konfrontation mit einem Musikstück der Beatles,
in dem vom Autoverkehr die Rede ist.
20. Tremblay: Vroum
0´´ - 1´21´´
CD take 1
Im Zentrum der Medienkunst von Marc Tremblay steht das Geräusch.
Er schreibt:
Durch das Hören von Geräuschen
bin ich im Lauf der Jahre darauf aufmerksam geworden,
welch unermeßliches expressives Potential diese Geräusche besitzen.
Ich liebe es, die Poesie zu enthüllen,
die in den Geräuschen verborgen sind, die uns umgeben.
Ich versuche, bei der Komposition von Objekten auszugehen, die
Geräusche herbringen -
eine Musik zu konzipieren,
die zur ästhetischen Verlängerung des Geräusches wird.
(...)
Ich habe den dichten Wald der Geräusch-Objekte erforscht,
die uns packen
wie Graffiti an Wänden, die oft viel zu sauber sind.
Deutlich ist zu erkennen,
daß Marc Tremblay Geräusche auch dann akzeptiert,
wenn sie als Spuren des in der Alltagserfahrung Tabuisierten erscheinen.
Ein kurzes Hörstück von Tremblay wagt sich in solche Bereiche hinein:
ein „dadaistischer Clip“, zugleich eine Huldigung an die „Fontaine“ von Marcel Duchamp.
21. Marc Tremblay:
Résidus (clip dadaiste) 2´15 ´´ - 3´40
CD take 3
Medienkunst kann sich als akustische Reflexion der Hörwelt präsentieren -
auch der Hörwelt früherer Epochen, vor allem aus früheren Phasen
der Entwicklungsgeschichte technischer Medien.
Klang- und Mediendokumente früherer Jahre
können in neueren Medienstücken gleichsam revitalisiert werden -
zum Beispiel unter dem Stichwort „Cowboy Fiction“.
Unter diesem Titel hat Marc Tremblay
Klänge aus Western-Filmen der 1950er Jahre kompositorisch verarbeitet:
akustisch inszenierte Fragmente von Geräuschen in Verbindung mit Sprache und Musik.
22. Tremblay: Cowboy
Fiction
1´39´´
CD take 4
Musik und Medien - Altes und Neues - Vergangenes und Gegenwärtiges in der Musik und in den Medien:
Diese und ähnliche Begriffspaare könnten anregen zum erneuten Nachdenken darüber,
in welcher Weise Musikdenken und Musikpraxis
sich unter dem Einfluß technisch Medien verändert haben und fortwährend weiter verändern.
Sie könnten verweisen auf Aspekte in Musik und Hörkunst,
die sich in engen Zusammenhängen mit technischen Innovationen
entwickelt haben und fortwährend weiter entwickeln.
Medienkunst als akustische Vergegenwärtigung von vergangenen Hörereignissen,
kann sich - wenn sie sich auf historische Tondokumente stützen will -
auf Entwicklungen der Mediengeschichte stützen,
die zurückreichen bis ins 19. Jahrhundert hinein,
bis zum ersten Tondokument der Mediengeschichte.
23: Stimme Edison -
erste Phonographen-Aufnahme (1877)
Polydor 2371 667
9´´
Musik als Medienereignis - Musik in der Konservierung und Verbreitung über ein technisches Medium -
steht seit 1877 zur Diskussion,
seit der ersten Aufnahme, Speicherung und Wiedergabe eines Hörereignisses
auf dem Phonographen, den Thomas Alva Edison damals erfunden hat.
Was damals begonnen hat,
prägt die technische Entwicklung bis heute -
und zwar unabhängig davon, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaße
die seit dieser Zeit erfundenen technischen Medien
sich weiter entwickelt haben
oder sogar - als „alte Medien“ - ersetzt wurden durch neue:
Hörereignisse sind nicht mehr an eine Live-Situation gebunden, und sie sind nicht mehr vergänglich.
Sie lassen sich aufnehmen und - weit über eine konventionelle Hörsituation hinausreichend -
einerseits weltweit verbreiten, sogar schon im Augenblick des Erklingens,
oder andererseits reproduzieren und als Konserven massenhaft verbreiten.
Solche Medienereignisse hören wir anders
als die aus der traditionsgeprägten Erfahrung bekannten Live-Ereignisse -
zum Beispiel dann, wenn wir unsichtbare Stimmen
als virtuelle Stimmen aus dem Lautsprecher hören.
Allerdings sollte es nach Edisons Erfindung
noch rund ein halbes Jahrhundert dauern,
bis die Tragweite dieser Veränderung unserer Hörerfahrung
ins allgemeine Bewußtsein rücken sollte -
bis unsichtbare Solitärstimmen und Kollektivstimmen
beispielsweise als ungeheure Machtmittel der Massen-Beeinflussung eingesetzt und wahrgenommen wurden.
24: Rundfunkreportage
30. 1. 1933
(mündend in kollektiv
gesungenes Deutschlandlied)
CD Raabe (nach DRA), take 10
RAAbits Musik, Sonder-CD II, ISBN-Musik 3-8183-0010-0
28´´
Radikale Veränderungen, die unsere Hörerfahrung unter dem Einfluß technischer Medien erfahren hat,
werden besonders sinnfällig in Hörereignissen, die über Massenmedien verbreitet werden:
Die Radio-Live-Reportage, die Joseph Goebbels am Abend des 30. Januar 1933,
am Tage der sogenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten inszeniert hat,
sollte möglichst großen Hörermassen im gesamten Sendegebiet die Illusion vermitteln,
sie selbst seien bei den Jubel-Demonstrationen vor der Reichskanzlei dabei.
Virtualität präsentiert sich hier als vorgetäusche Realität.
Den Hörern der Live-Übertragung wird ein virtuelles Hier geboten,
den Hörern einer späteren Reproduktion des Aufgenommen ein virtuelles Jetzt.
Die trügerische Auflösung des Hier und Jetzt wird nachdrücklich kaschiert
durch stark emotionalisierende Musik,
die jeden Ansatz einer realitätsbezogenen Analyse zu überdröhnen versucht:
Das kollektiv gesungene Deutschlandlied.
In der trügerischen Authentizität der Rundfunkreportage wirkt sie noch stärker
als dann, wenn ihre Inszenierung unverhüllt erkennbar wird -
zum Beispiel in einer Hörspielszene aus dem Jahre 1933.
25: Rehberg, Eine
preußische Komödie
Langemarck-Szene,
mündend in kollektiv gesungenes Deutschlandlied
CD Raabe (DRA), take 17
1´18´´
Die Verbreitung von Hörereignissen über technische Medien
ist in der gängigen Medienpraxis meistens darauf angelegt,
Illusionen über das Hier und Jetzt eines realen Ereignisses zu wecken.
Wenn das Deutschlandlied in einer Radioreportage oder in einer pseudorealistischen Hörspielszene erklingt,
dann präsentiert es sich, etwa in der nationalsozialistischen Propaganda,
häufig in einer pseudo-dokumentarischen Aura,
in einer pseudo-affirmativen Authentizität.
Diese steigert sich dadurch, daß Musik nicht isoliert zu hören ist,
sondern in engster situativer Verknüpfung mit Stimmen und Geräuschen.
Der Hörer soll, fast ein halbes Jahrhundert nach Edisons Erfindung,
vergessen, daß ihm hier statt eines realen Ereignisses nur dessen Klangbild geboten wird.
Manipulativ überwältigt werden sollte er in der Epoche des Nationalsozialismus
durch zum Hören bestimmte Propanda nicht nur in Form von Hörszenen und Hörspielen
(in denen Sprache, Musik und Geräusche zusammenwirken können),
sondern auch durch inszenierte Sprache von Politikerreden -
sogar auch durch inszenierte Musik in Kriegsliedern
evtl. 26x.
Nationalsozialistische Kriegslieder
Volk ans Gewehr -
Frankreichlied - Rußlandlied
Raabe-CD takes 46-48 (nach DRA)
Danach mußte noch ein weiteres halbes Jahrhundert vergehen,
bis dieses massenmediale Geschehen und seine historischen Konsequenzen
in moderner Medienkunst adäquat aufgearbeitet werden konnten:
In Georg Katzers Hörstück „Aide-mémoire“,
das 1983 zum 50jährigen Gedenken an das am 30. Januar Begonnene entstanden ist.
26. Katzer,
Aide-mémoire
Darstellung des 2. Weltkrieges
CD Raabe (DRA), take 38-45
3´04´´
In seinem Hörstück „Aide-mémoire“
verwendet Georg Katzer historische Tondokumente als kompositorisches Material.
So entsteht eine Medienkunst, die Zeit- und Mediengeschichte kritisch reflektiert
und damit zugleich mögliche Abgrenzungen zwischen „alten“ und „neuen“ Medien in Frage stellt:
Tondokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus, die hier verwendet werden,
sind teils als Live-Mitschnitte, teils als Studioaufnahmen entstanden,
haben also schon zur Zeit ihrer Entstehung
koexistiert:
- einerseits als vergängliches, aber live erlebbares Radio-Ereignis;
- andererseits als dessen Konservierung auf Schallplatte.
Wenn später Georg Katzer solche Tonkonserven verwendet,
können sich im Prozeß der Produktion und Verbreitung
weitere Übertragungen auf andere, auch neuere Medien ergeben -
zum Beispiel auf Analog-Tonband oder digitale compact disc.
Dies ist für den Hörer aber in der Regel weniger relevant als die Wahrnehmung der technischen Verarbeitung -
z. B. der kritischen Montagetechnik, die Katzer verwendet,
um die dröhende Affirmation der Propaganda-Dokumente aufzubrechen.
Das tangiert nicht nur die Musik, sondern auch ihre enge Vernetzung mit Geräuschen und Sprache;
insbesondere gilt es für die Verwendung der berüchtigten Stimme Adolf Hitlers -
dem vielleicht bekanntesten Beispiel dafür,
wie stark sich durch technische Medien die Hörwahrnehmung selbst von Stimmen verändert hat,
wenn die Stimmen bekannter geschichtlicher Personen fast ebenso bekannt werden können
wie ihre Gesichter in dokumentarischen Photographien.
Dies hat Katzer nicht nur im historischen Rückblick gezeigt,
sondern auch in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Zeit -
z. B. anläßlich des Mauerfalles im Jahre 1989.
27. Katzer, Mein 1989 (SWR, Sendung Frisius - evtl. auch für Aide-mémoire)
0´54´´
Was Georg Katzer expliziert in politisch engagierter Kunst artikuliert,
ist wichtig auch in anderen Bereichen der Hörkunst,
die Bezüge zur Klangerfahrungen aus der modernen Medien- und Massenmedien-Welt
womöglich auch in stärkerer ästhetischer Verschlüsselung herstellen -
z. B. Bezüge zu radiophonen Klangmaterialien,
wie sie sich in einem Hörstück der amerikanischen Komponistin Katherine Gordon finden:
Holding Patterns.
28. Katherine Gordon,
Holding Patterns
American Composers Forum 2000. Sonic Circuits VIII. take 2 von Anfang Ausschnitt
innova 17, take 2
Ausschnitts-CD take 15
1´24´´
Einen zentralen Bereich der Medienmusik bildet Musik mit Medienklängen, z. B. aus Klängen des Radios.
Dabei kann einerseits die zeitgeschichtliche Bedeutsamkeit radiophoner Klänge im Vordergrund stehen,
andererseits aber auch das klangliche Gepräge des Mediums selbst.
Ein prägnantes Beispiel für den letzteren Aspekt ist Ferdinand Kriwets Hörstück „Radio“,
in dem Radioklängen aus verschiedenen Ländern zusammencollagiert sind.
29. Ferdinand Kriwet: Radio. Hörtext 16.
riverrun Wer 6307-2, CD 1 take 21
2´25
Ferdinand Kriwets Hörtext „Radio“ entstand -
ebenso wie seine anderen Hörstücke über das Radio und andere Themen -
ursprünglich als Produktion auf Analog-Tonband.
Ein Ausschnitt aus diesem Stück ist inzwischen auf einer CD-Anthologie veröffentlicht.
Das Medium bleibt hier die Botschaft - auch im Übergang von „älteren“ zu „neueren“ Medien.
Das Verhältnis medienspezifischer Hörkunst zu den klanglichen Besonderheiten akustischer Medien
bietet der akustischen Medienkunst vielfältige Ansatzpunkte der Gestaltung.
Dabei können auch unbeabsichtigte oder beabsichtigte Änderungen des Klangbildes eine Rolle spielen,
für die es besonders aus der Frühzeit der Mediengeschichte vielfältige Beispiele gibt.
Spuren solcher Klangmanipulationen kann man noch in moderner Medienkunst finden,
wenn dort beispielsweise Stimmen technisch so verfremdet werden,
daß ähnliche Klangresultate herauskommen wie in einer gestörten Radioübertragung -
zum Beispiel in dem Hörstück „Mary and Ann“ des amerikanischen Komponisten David Jaggard.
30. David Jaggard:
Mary and Ann
Circuits VIII, innova 117 take 8
Ausschnitts-CD take 23
1´30´´
Medienkunst, die ältere Medien auf neueren Medien technisch verarbeitet,
kann dabei so weit gehen,
daß die technisch bedingten Unvollkommenheiten der älteren Medien
zum bevorzugten Klangmaterial werden -
zum Beispiel in einem Hörstück über die Störgeräusche alter Langspielplatten,
das der französische Komponist Christian Zanesi realisiert hat unter dem Titel:
„Saphir, Sillons, Silences“.
31. Christian Zanési:
Saphir, Sillons, Silences.
Ausschnitt von Anfang (je nach Sendezeit), z. B. 0´- 44´´ (vor Einsatz der tiefen Repetition
INA / La muse en circuit. 91 98 01. - INA C 2018. 275871, -DDD 750.
44´´
„Saphir, Sillons, Silences“, ein digitales Hörstück über Schallplattengeräusche,
ist ein modernes Gegenstück zu einer älteren Musik zu demselben Thema,
die Bernard Parmegiani komponiert hat: Bidule en ré.
Auch dies macht deutlich, in welchem Ausmaß differenzierte Medienkunst
die Grenzen einzelner technischer Medien, auch zwischen älteren und neueren Medien,
zu überwinden vermag.
evtl. 31x. Bernard
Parmegiani: Bidule en ré Anfang
aus SWR-Sendung Frisius (Musik kommentiert), Anfang des Stückes -
je nach Sendezeit
Medienkunst kann nicht nur auf die Klangwelt der Medien reagieren,
sondern auch auf deren Produktionsbedingungen.
Christian Zanesi hat dies deutlich gemacht,
indem er Störgeräusche älterer Medien
mit der Sprachaufnahme eines Medienpioniers kombiniert hat:
In seiner Komposition „Arkheion“ sind Stimmaufnahmen mit Pierre Schaeffer
verbunden mit Knackgeräuschen von Schallplatten.
Diese Klangmischung erinnert an den Radiopionier,
der aus Experimenten mit Schallplatten die Anfänge der musique concrète entwickelt hat.
31. Zanesi: Arkheion
2. Satz: Les voix de Pierre Schaeffer
Ausschnittplatte GRM: les 50 ans de la musique concrète, take 24
oder: Zanesi, Arkheion, take 2: INA e 5001, 245 772 DDD 771
1´19
Ein wichtiger Bereich der Medienkunst ist Hörkunst mit Stimmen.
Seine Wichtigkeit läßt sich in Werken vieler Medienkomponisten zeigen,
beispielsweise in vielen Stücken von Francois Bayle.
Von seiner Komposition „Erosphère“ sind Produktions-Aufnahmen erhalten,
die zeigen, welche große Bedeutung die Verwendung der Stimme
vor allem unter dem Aspekt der technischen Verarbeitung haben kann:
Wenn Bayle eine Aufnahme mit seiner eigenen Stimme mit dem Computer transformiert,
dann kann deutlich werden,
daß die Verarbeitung den „natürlichen“ Klang fast bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden vermag.
Dies zeigt sich deutlich im Vergleich der ursprünglichen Sprachaufnahme
mit ihrer hochdifferenzierten Verarbeitung in der fertigen Komposition.
33. - 39. Zusammenschnitt
Bayle, Erosphère: a) Stimmaufnahme Bayle, b) Verarbeitung(en), c) Musik
GRM
33. - 35. Eros noir:
33. Sprache 0´29´´ - (toupie dans le ciel:) ciel... dans le ciel...
34. Sprache und elektronisches Glissando 0´21´´
35. Musik 0´30´´
-----------------------------------------------------------
36. - 39. Eros bleu:
36. Sprache 0´53´´ - (la fin du bruit:) f - fin - bruit - fin du bruit ...s
37. Filterung fix 0´49´´
39. Musik 1´07´´
Eine große Vielfalt an Stimmaufnahmen und an Techniken ihrer klanglichen Verarbeitung
findet sich in dem fünfteiligen Werk „Vox alia“ der belgischen Komponistin Annette Vande Gorne.
Im dritten Satz beispielsweise geht sie von Aufnahmen mit der Stimme eines kleinen Kindes aus.
Wenn man die ursprünglichen Stimmaufnahmen mit ihrer Verwendung im fertigen Stück vergleicht,
dann kann man feststellen, daß hier das Ausgangsmaterial noch weitgehend deutlich identifizierbar bleibt.
40. - 41.
Zusammenschnitt Vande Gorne, Vox Alia 3. Satz:
40. Stimmaufnahme
kleines Kind
0´15´´
41. 3. Satz
0´35´´
CDs der Autorin für SWR-Sendung
Im 1. Satz des Werkes wird das gesungene Wort „Alleluia“ verarbeitet.
Der Vergleich von Ausgangsaufnahme und fertigem Werk zeigt,
daß das Wort im Stück erst allmählich erkennbar wird:
Man hört virtuelle Stimmen, die sich dann ein wenig dem normalen Sprachklang annähern.
42. - 43.
Zusammenschnitt Vox Alia 1. Satz
42. Alleluja
Materialaufnahme (Vokalensemble)
0´15´´
43. 1. Satz
0´47´´
In diesem Stück verwendet die Komponisten Stimmaufnahmen
nicht nur mit verschiedenen Stilbereichen westlicher Musik
(z. B. Gregorianik, ältere und neuere Chormusik, Gesang in den Bereichen Heavy Metal und Oper),
sondern auch Aufnahmen außereuropäischer Musik.
Im fertigen Stück allerdings läßt sich die stiilistische Differenzierung der Vokalaufnahmen
nur teilweise oder gar nicht heraushören.
evtl. 44x.
verschiedene Materialklänge - Ausschnitt(e) aus Stück
geistliche Musik,
außereuropäische Stimmen
44. Vox alia 1. Satz 3´10 - 3´57: Obertongesang (Tuva?)
Musik mit alten und neuen Medien bietet vielfältige Möglichkeiten
der kompositorischen Auseinandersetzung mit Aspekten der Interkulturalität.
Als polar entgegengesetzte Möglichkeiten bieten sich hierbei an:
- einerseits der Versuch, vielfältige Klangmaterialien aus unterschiedlichen Kulturen
musikalisch zu integrieren;
- andererseits der Versuch, aus möglichst wenigen und kurzen Ausgangsmaterialien,
die für einen bestimmten kulturellen Kontext charakteristisch sind,
ein möglichst reichhaltiges Reservoir unterschiedlicher Klangmaterialien zu entwickeln.
Den zweiten Weg hat die chinesische, aus Taiwan stammende Komponistin Pei Yu Shih gewählt.
In zwei Kompositionen aus dem Jahre 2001,
die im Computermusikstudio der Musikhochschule Karlsruhe entstanden sind.
Das erste dieser Stücke heißt „Ausserdem... I“.
Es entstand aus der Umarbeitung einer Originalkomposition für chinesisches Instrumentalensemble.
Das ursprüngliche instrumentale Klangbild wird hier eingeschmolzen
in Prozesse der weiträumigen Verwandlung,
die das real-instrumentale Klangbild heranholt aus weiter virtueller Ferne,
indem Klänge und Klangstrukturen zunächst nur undeutlich und in starken Verfremdungen zu vernehmen sind
und sich dann erst nach und nach in instrumental identifizierbare Klanggebilde verwandeln.
45. Pei-Yu Shih:
Ausserdem... I
3´35´´ - 4´05´´
Kopie aus dem Computermusikstudio der Musikhochschule Karlsruhe für SWR
In einer zweiten elektroakustischen Komposition
hat Pei-Yu Shih die Konzentration auf ein strikt begrenztes Ausgangsmaterial noch weitergetrieben
und sich darauf beschränkt,
kurze Samples des Spiels auf einer chinesischen Flöte zu verarbeiten,
die sich einerseits auf den dynamisch und farblich gefärbten Einzelton konzentrieren,
andererseits auf rasche Spielfigunren in extrem hoher Lage.
Das Stück heißt „CHI - ruhende Kraft, Bewegung“.
46. Pei-Yu Shih: CHI
- ruhende Kraft, Bewegung
3´04´´ - 4´04´´
Musik mit alten und neuen Klängen und Medien -
Musik diesseits und jenseits der Virtualität:
Diese und ähnliche Stichworte können darauf verweisen,
daß unter dem Einfluß technischer Medien
sich radikale Veränderungen des Musikmachens und Musikhörens
vollzogen haben und weiterhin vollziehen -
Veränderungen in unterschiedlichen Richtungen,
z. B. als Erweiterungen des instrumentalen und klanglichen Repertoire
oder als Suche nach neuen Möglichkeiten der Präsentation von Musik und des Musikhörens.
Die neuen Medien erleichtern es,
überlieferte Abgrenzungen zu überwinden -
Abgrenzungen zwischen musikalischen Stilen, Milieus und Kulturkreisen;
Abgrenzungen zwischen Musik und anderen Bereichen der Hörerfahrung;
Abgrenzungen zwischen werkbezogenem und kommunikativem Musikdenken.
Die Entwicklung bleibt offen.
Ihre weitreichende Bedeutung für die Weiterentwicklung der Musik
ist noch immer nicht hinreichend anerkannt;
andererseits läßt ihre Intensität und Vielfalt hoffen,
daß sich dies in nicht allzu ferner Zukunft ändern wird.