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Rudolf Frisius
KLÄNGE DER WELT - KLANGBILDER VERSCHIEDENER WELTKULTUREN
Interkulturelle Aspekte in Elektroakustischer Musik und Akustischer Kunst
Allgemeines
Neue Aspekte des Musikhörens und der musikalischen Analyse ergeben sich nicht nur aus musikübergreifenden Entwicklungen (z. B. der Globalisierung) oder aus innermusikalischen, musik- oder kompositionstheoretischen Perspektiven, sondern auch aus Wechselwirkungen zwischen musikalischen und musikübergreifenden Entwicklungen, z. B. im Zusammenwirken von Musik und Technik, das Musik in ihrer weltweiten Vielfalt als klangliche Realität unmittelbar zugänglich gemacht hat: nicht nur als Substrat eines abstrakten, auf Möglichkeiten der schriftlichen Fixierung eingeengten Musikdenkens. Nachdem durch Techniken der Klangaufzeichnung und Klangverarbeitung potentiell Klangmaterialien aller Art - und damit auch Klangmaterialien aus aller Welt - dokumentierbar und kompositorisch verwendbar geworden sind, haben sich neue Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, die über bereits bekannte Bereiche der Musik hinausführen bis hinein in neue, musikübergreifende Bereiche einer medienspezifischen Akustischen Kunst.
Interkulturelle Öffnung als Integration geräuschhaft verfremdeter Töne und Klänge
Vorstadien: Interkulturell inspirierte Musik als Grenzüberschreitung des traditionell Notierbaren
Afrikanisierte Zwölftonmusik?
John Cage, Bacchanale (1940)
Seinerzeit, kurz nach dem Studium bei Arnold Schönberg,
schrieb ich entweder Zwölftonmusik oder Schlagzeugmusik.
Anfangs versuchte ich, eine Zwölftonmusik zu finden, die afrikanisch klang, aber ich scheiterte.
Dann erinnerte ich mich an die Klänge des Klaviers,
wenn Henry Cowell auf den Saiten klimperte, sie zupfte oder mit Nähnadeln usw. darüberfuhr.
Ich ging in die Küche, holte eine Tortenplatte und legte sie mit einem Buch beschwert auf die Saiten.
Ich stellt fest, daß ich auf dem richtigen Weg war.
Mit der Platte gab es nur ein Problem, sie sprang über die Saiten.
Dann holte ich einen Nagel, klemmte ihn zwischen die Saiten, aber er verrutschte,
Also versuchte ich es mit einer Holzschraube, und das klappte.
Dann versuchte ich es mit einer Dichtungsleiste,
kleinen Muttern auf den Schrauben und verschiedenen anderen Sachen.[1]
Mit diesen Worten erklärt John Cage, daß seine ersten Versuche auf dem präparierten Klavier
von Anregungen außereuropäischer Musik inspiriert waren:
Die Präparationen der Klaviersaiten sollten den europäischen Klavierklang
afrikanischen Perkussionsklängen annähern.
Sein Apercu einer versuchten Afrikanisierung der Zwölftonmusik ist durchaus wörtlich zunehmen:
Bacchanale, seine erste Komposition für präpariertes Klavier,
entstand als Ballettmusik für eine schwarze Tänzerin,
die in einem kleinen Raum aufgeführt werden mußte
(in dem Cage mit seinem damaligen Schlagzeugorchester keinen Platz gefunden hätte
und sich deswegen mit dem Klavier begnügen mußte).
Verwendet werden genau 12 verschiedene Klaviertasten -
allerdings mit nicht reinen, sondern durch die Präparation geräuschhaft verfremdeten Tönen.
Cage arbeitet hier mit Tönen, die in traditioneller westlicher Notation fixiert sind,
deren Höhen aber - anders, als in traditioneller westlicher Musik üblich -
nicht deutlich hervorgebracht, sondern im Gegenteil
durch Präparation absichtlich undeutlich gemacht, geräuschhaft verfremdet werden sollen.
Dies hat Monika Fürst-Heidtmann in ihrer Monographie über die präparierte Klaviermusik von John Cage genauer beschrieben:
Mit Ausnahme des obersten und des dritten Tons
sollen alle Saiten mit Filz (weather-stripping) präpariert werden,
das zwischen die 1. und 2. Saite zu stecken ist.
Für f1 ist eine Präparation mit einem kleinen Bolzen,
für b die Doppelpräparation mit Muttern + Filz vorgesehen.
Der Anbringungsort ist nur beim höchsten Ton angegeben,
alle übrigen Befestigungsstellen sind auf experimentellem Wege zu finden.
Die Filzpräparation führt, je nach Lautstärke, zu zwei verschiedenen Klangergebnissen:
Bei f-ff-Anschlag bleiben Klaviertimbre und notierte Tonhöhe weitgehend erhalten,
die Töne erscheinen im Vergleich zu unpräparierten nur gedämpfter und klanglich etwas verfremdet.
Im p-ppp entstehen dagegen verschiedenartige „Trommeltöne“,
deren Tonhöhe nur annähernd bestimmbar ist.
Ihr Klangfarbencharakter variert mit der Registerlage
und ist bei den höheren Tönen von einem leicht metallischen Resonanzgeräusch begleitet.
Die Bolzenpräparation ergibt einen hohlen Klang,
der Vorstellungen an einen Gong nahelegt und tiefer klingt als aufgezeichnet.
Durch die Doppelpräparation mit Muttern entsteht ein rasselnder Geräuschton,
der etwa eine Quinte höher als notiert anzusiedeln ist
und ein wenig an eine Schellentrommel erinnert.
Alle Farben vermitteln einen perkussiven Eindruck.[2]
Die präparierten Töne werden auch durchaus anders behandelt als Töne einer Zwölftonreihe, die von Anfang an im chromatischen Total präsentiert worden wären: Erst nach und nach führt Cage sie ein.
Musikalische Abläufe, die aus einer schrittweisen Erweiterung des Tonvorrates sich bilden,
gibt es nicht nur in der abendländischen Musik, sondern auch in Musik aus anderen Kulturkreisen,
z. B. in indischen Raga-Improvisationen.
Insofern könnte sich die Frage stellen, ob Cage
auch in seinen musikalischen Strukturierungen zu Resultaten gelangt sein könnte,
die Vergleiche mit außereuropäischer Musik nahelegen.
Klare Antworten auf diese Frage sind allerdings schwierig,
da sich derartige Abläufe durchaus auch in westlicher Musik nachweisen lassen -
sogar in der Musik desjenigen Komponisten, der das musikstrukturelle Denken von John Cage
in den 1930er Jahren entscheidend geprägt hat: Arnold Schoenberg.
Auch in Schoenbergs Zwölftonmusik gibt es ein Werk,
in dem sogar die Zwölftonstruktur selbst nicht von Anfang an fertig vorgegeben erscheint,
sondern sich, in allmählichen Variationen von Ton zu Ton fortschreitend, erst entwickelt:
Die Variationen für Orchester op. 31.
Unabhängig davon, ob Cage dieses Werk gekannt hat, läßt sich feststellen,
daß in der Einleitung dieses Orchesterwerkes offen zu Tage tritt,
was einige Jahre später John Cage in seinen rhythmischen Strukturen für präpariertes Klavier eher versteckt,
aber gleichwohl konsequent artikuliert:
Ein ausgedehnter organischer Formprozeß der Erzeugung des Ausgangsmaterials.
Nach dem zuvor Gesagten muß offen bleiben,
ob dies eher an westliches Musikdenken
oder an Anregungen aus anderen Kulturkreisen oder vielleicht sogar an beides erinnern könnte.
Auch unter dem Aspekt der rhythmischen Konstruktion
läßt sich nicht ohne weiteres zweifelsfrei entscheiden,
ob Cage hier eher von westlichem Musikdenken
oder anderen musikalischen Anregungen sich hat inspirieren lassen.
Einerseits kann man sagen, daß rhythmische Strukturen hier eine wichtige Rolle spielen,
wie man sie sonst in traditioneller abendländischer Musik nur selten findet:
Die Musik geht nicht von präzisen Tonstrukturen aus,
die durch rhythmische Gestaltungen dann gleichsam musikalisch auskostümiert würden,
sondern ihre Tonbeziehungen sind durch die Präparationen so stark verwischt bzw. verundeutlicht,
daß linerare Tonordnungen keine wesentliche Rolle mehr spielen:
Verschiedene Klaviertasten erzeugen primär nicht mehr Töne unterschiedlicher Höhe,
sondern komplexe Klänge unterschiedlicher Farbe.
Dadurch gewinnen Tonhöhenunterscheidungen einen neuen Stellenwert,
wie man sie beispielsweise auch in Schlagzeugmusik verschiedener Kulturkreise nachweisen kann
(ebenso auch wie in mancher hiervon beeinflußten Schlagzeugmusik des 20. Jahrhunderts -
nicht nur bei Cage, sondern auch bei anderen):
Tonhöhenunterschiede (wie sie ja auch im Vergleich komplexer Klänge sich ergeben können)
erscheinen in der musikalischen Struktur nicht als primäre Merkmale,
sondern in sekundärer Bedeutung:
Als Mittel der Verdeutlichung rhythmischer Gruppierungen und Strukturierungen. -
Auch diese Beobachtung belegt allerdings nicht eindeutig,
daß Cage in seinem rhythmischen Denken sich primär
von außereuropäischen Beispielen inspirieren ließe.
Denn andererseits lassen sich wichtige rhythmische Gestaltungsprinzipien bei Cage
durchaus auch mit Vorbildern traditioneller abendländischer Musik vergleichen:
Bei Cage findet sich eine Dialektik zwischen einfachen Taktgruppierungen im größeren Zusammenhang
und differenzierten rhythmischen Abweichungen im Detail,
die sich nicht grundsätzlich von älteren Verfahren etwa bei Johann Sebastian Bach unterscheidet.
J. S. Bach: Zweistimmige Fuge e-moll, aus Das Wohltemperierte Klavier, Bd. 1
Rhythmisches Strukturschema der ersten Takte der Oberstimme
Arnold Schoenberg, der Lehrer von John Cage, hat einmal darauf hingewiesen, wie wichtig in der Musik von Johann Sebastian Bach die Emanzipation der melodischen Erfindung von metrischen Schwerpunkten ist.
An Bachs zweistimmiger Fuge e-moll (Das Wohltemperierte Klavier, Bd. 1) zeigt sich dies im Spannungsverhältnis zwischen einem einfachen metrischen Raster der Taktgruppen einerseits
und den in dieses Raster gesetzten melodischen Gestalten andererseits. Ähnliches findet sich auch bei Cage -
allerdings nicht mit bestimmten, sondern mit geräuschhaft verfremdeten Tonhöhen:
Cage klingt wie bruitistisch transformierter Bach.
John Cage: Bacchanale (1940): Metrisch-rhythmische Strukturvarianten
Experimentelle Musik jenseits des Eurozentrismus:
Indisch inspirierte Musik für präpariertes Klavier
John Cage: Sonatas and Interludes (1946-1948)
In Werken für präpariertes Klavier, die John Cage in späteren Jahren komponiert hat,
ist deutlich geworden, daß die ursprünglich inspirierende afrikanische Perkussionsmusik
nicht die einzige außereuropäische Inspirationsquelle geblieben ist:
Die Sonatas and Interludes, seine wohl wichtigste Komposition für präpariertes Klavier,
sind ein Versuch der musikalischen Umsetzung indischen Gedankenguts.
In dieser Musik wird die Aufgabe des tonhöhenzentrierten abendländischen Musikdenkens besonders deutlich.
In Sonata V beispielsweise findet sich ein Notenbild,
das in konventioneller Spielweise zu durchlaufenden Mustern chromatischer Skalen führen würde.
Wenn die Saiten präpariert werden, ergibt sich aber ein ganz anderes Klangbild:
Gespielt werden benachbarte Tasten, aber nicht klar erkennbare Tonhöhen in Halbtonabständen;
zu hören sind statt dessen komplexe Geräusche,
die das Ohr nicht mehr eindeutig nach Höhe und Tiefe zu ordnen vermag.
Wenn die Anfangstakte (oder sogar die ersten 18 Takte, der 1. Teil des Stückes)
auf einem unpräparierten Klavier gespielt würden,
wäre erkennbar,
daß beide Stimmen aus denselben Skalentönen gebildet wären:
Oberstimme: es - d - des - c langsam absteigend - aufsteigend
Oberstimme h - c - cis - d schnell aufsteigend - absteigend
Wenn die Seiten präpariert sind, werden die Tonhöhenbestimmungen so stark verundeutlicht,
daß weder klare Tonhöhen noch klare Ab- und Aufwärtsbeziehungen
noch Oktavbeziehungen zwischen oberen und unteren Skalentönen zu erkennen sind.
es2 |
rubber |
1-2-3 |
6 1/2 |
furn. bolt + nut |
2-3 |
6 7/8 |
|
|
|
|
d2 |
|
|
|
furn. bolt |
2-3 |
2 9/6 |
|
|
|
|
des2 |
rubber |
1-2-3 |
3 5/8 |
|
|
|
|
|
|
|
c2 |
|
|
|
bolt |
2-3 |
7 1/8 |
|
|
|
|
h1 |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
es1 |
plastic (over 1 - under 2-3) |
1-2-3 |
4 1/4 |
|
|
|
rubber |
1-2-3 |
5 7/16 |
es1 |
d1 |
wie es1 |
1-2-3 |
4 1/8 |
|
|
|
rubber |
1-2-3 |
9 3/4 |
d1 |
des1 |
bolt |
1-2 |
15 1/2 |
bolt |
2-3 |
11/16 |
rubber |
1-2-3 |
14 1/8 |
des1 |
c1 |
bolt |
1-2 |
14 1/2 |
bolt |
2-3 |
7/8 |
rubber |
1-2-3 |
6 1/2 |
c1 |
h |
bolt |
1-2 |
14 3/4 |
bolt |
2-3 |
9/16 |
rubber |
1-2-3 |
14 |
h |
Die Präparierungen der Saiten, die Cage ursprünglich auf der Suche nach exotischen Klangfarben
eines altvertrauten westlichen Instruments gefunden hatte,
führten in späteren Werken wie z. B. den Sonatas and Interludes
zu neuartigen Strukturen,
in denen die traditionelle Notation nur noch mit den rhythmischen Werten
an eine traditionell ausgebildete Tonvorstellung appellieren kann,
während die notierten Tonhöhen hier nicht mehr eindeutig definierte Tonhöhen bezeichnen,
sondern nur noch Tasten, die gedrückt werden sollen,
damit dann ein der Präparierung entsprechendes Klangergebnis
im Zwischenbereich zwischen Ton und Geräusch herauskommt. -
Es dauerte nicht lange, bis Cage herausfand, daß selbst seine minutiösen Präparations-Anweisungen
das Klangergebnis nicht eindeutig zu fixieren vermochten,
da bei Befolgung dieser Anweisungen auf verschiedenen Instrumenten
unterschiedliche Klangerergebnisse resultieren konnten.
So ergab sich, zunächst unbeabsichtigt, ein kompositorischer Aspekt,
den Cage dann erst später ausdrücklich akzeptierte
und vor allem als Konsequenz einer Kompositionsweise anerkannte,
die sich vom Primat der bestimmten Tonhöhen löst und sich zum Geräuschhaften öffnet.
So erklärt es sich, daß Cage in seinen klassischen Kompositionen für präpariertes Klavier
meistens ähnliche Strukturprinzipien verwendet wie in seinen Geräuschkompositionen für Schlagzeugorchester:
Von zentraler Bedeutung ist nicht mehr die Harmonie im traditionellen westlichen Sinne,
sondern der Rhythmus, der die neuartigen Klangfarben strukturiert.
Cage hat versucht, das harmonisch-strukturelle Denken seines Lehrers Arnold Schönberg,
das vom kleinsten Detail bis in größere und größte Formzusammenhänge führt,
auf Zeitstrukturen zu übertragen.
So kommt es, vor allem in seiner Musik für präpariertes Klavier,
zu eigenartigen Synthesen zwischen experimentell gefundenen (pseudo-)exotischen Klangfarben
und vorkonstruierten Zeitstrukturen.
Die ersten 18 Takte des Stückes, die (zusammen mit ihrer Wiederholung) den ersten von zwei Teilen bilden,
sind übersichtlich gegliedert:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1. Abschnitt..........................2. Abschnitt................................
a...................b.......................a......................b..........................
9 Takte..................................9 Takte........................................
4 Takte......... 4 Takte...........
5 Takte............. 5 Takte.................
2.......+2........
2 1/2 + 2 1/2
4 +4
5 + 5
Analoge Zeitproportionierungen ergeben sich in verschiedenen formalen Dimensionen:
- Gliederung zu Beginn des Stückes, Längen gemessen in halben Takten (zu je 2 Vierteln):
4 - 4 - 5 - 5 (Takte: 1 - 3 - 5 - 73)
Gliederung des gesamten Stückes, Längen gemessen in Perioden zu je 9 Takten (zu je 2x9 = 36 Vierteln)
4 - 4 - 5 - 5 (Takte: 1a - 1b - 19a-19b)
Die ersten beiden Formeinheiten umfassen 4 bzw. 5 Abschnitte (Dauern: 8 Halbe bzw. 10 Halbe).
Die erste Einheit ist in zwei gleich lange Abschnitte unterteilt (8 = 4+4),
die zweite in zwei längere und eine kürzere Untereinheit (10 = 4+4+2).
So ergibt sich eine Formgestaltung, die von Zeitstrecken ausgeht
und aus bestimmten Zeitproportionen der Detailgliederung
auch Zeitproportionen für Gliederungen in größeren Formzusammenhängen ableitet:
Ein Formdenken,
daß vom Detail bis in größere Formzusammenhänge hinein
von denselben Proportionen geprägt ist.
Vorbilder dieses Denkens lassen sich, leichter als in außereuropäischer Musik,
in traditioneller abendländischer Musik finden -
z. B. bei Johann Sebastian Bach, wenn er in der Credo-Fuge seiner h-moll-Messe
Details und größere Zusammenhänge aus Siebenergruppierungen ableitet:
- Ein Stück für sieben Stimmen
- ein Thema aus sieben Tönen
- ein Formablauf mit zwei mal sieben Themen-Einsätzen.
I II III IV V VI VII
I II III IV V VI VII
Auch bei Cage finden sich Zahlen, die sowohl Details als auch größere Detailzusammenhänge regulieren -
allerdings nicht bezogen auf die Tonhöhenstruktur, sondern auf die Zeitstruktur:
Details und größere Formzusammenhänge sind geprägt von der Zahl 9:
Es gibt 9 Takte und 9 Abschnitte, jeweils in der Binnengliederung (2 + 2)+(2 1/2 + 2 1/2):
Interkulturelle Öffnung als Integration technisch konservierter und verarbeiteter Klänge
Klänge aus verschiedenen Kulturkreisen
Pierre Schaeffer: Étude aux tourniquets
Während John Cage auf seinem präparierten Klavier versucht hatte,
außereuropäische Klänge und außermusikalischen Vorstellungen
durch die Verfremdung eines etablierten europäischen Instruments zu evozieren,
konnte Pierre Schaeffer seit seinen ersten Produktionen einer „musique concrète“
in der Einbeziehung außereuropäischer Klänge noch einen Schritt weiter gehen:
Er arbeitete mit Aufnahmnen außereuropäischer Instrumente.
Dies zeigt sich schon in seinem ersten Werkzyklus konkreter Musik, in den Etudes de bruits -
besonders deutlich in der Etude aux tourniquets, für die der Katalog des Pariser GRM-Studios
die Kompositionszeit vom 2. bis Ende Juni 1948 anführt und außerdem den Titel Etude „déconcertante“ mitteilt (als Gegenstück zu einer zuvor am 30. Mai realisierten Etude „concertante“ ou étude pour orchestre, in der aufgenommene Fragmente europäischer Musikinstrumente verarbeitet wurden - teils Orchestermusik, teils Klavierimprovisationen von Jean Jaques Grunenwald; das Werk wurde, wie der Katalog mitteilt, zurückgezogen und umgearbeitet zu der Komposition Concertino Diapason).[3]
Sig-Schlagakzente Tonmuster
I Xylophonmus
Dumpfe Tonmuster II
nal
1................2................1...................2.....1...................
Schläge+ 2.....1...2.1.2.1.2.....
helle Acc
Akzente
Einl. Einl.
I II
Einschub.............
Die Etude aux tourniquets ist ein charakteristisches Beispiel einer Musik,
die einerseits außereuropäische Klänge zu integrieren versucht
und andererseits dabei an die Grenzen der traditionellen europäischen Notenschrift stößt:
Pierre Schaeffer hatte ein Schema entworfen, das die Tonvorräte verschiedener Klangquellen angab:
Xylophone, Cloches, Tourniquet 1 et 2, Zanzi 1-3.
Hier verbinden sich alltägliche und musikalisch geprägte Klänge aus verschiedenen Kulturkreisen.[4]
Am deutlichsten lassen sich die Tonmuster Tourniquet 1 und 2 erkennen:
h1-cis2-e2-fis2-cis2-a1-dis2-cis2
g1-h1-g2-h1-g1-es2-h1
Ursprünglich hatte Schaeffer dieses Schema als Ausgangspunkt für eine traditionell notierte Spielvorlage gedacht
und Gaston Litaize um eine solche Partitur gebeten, nach deren Anweisungen die Instrumente im Studio gespielt werden sollten.
Bei der Aufnahme stellte sich dann aber heraus, daß das Ergebnis unbefriedigend, allzu starr ausfiel.
Dies brachte Schaeffer auf die Idee, mit den Klangquellen unabhängig von einer vorgegebenen Notation
frei improvisatorisch zu improvisieren, z. B. mit manuell oder technisch produzierten Wechseln der Geschwindigkeiten.
So entstand Musik mit außereuropäischen Klängen,
die mit außereuropäischer Musik nicht nur in bestimmten Klangfarben verwandt war,
sondern auch in einem
musikalischen Duktus, der sich der traditionellen abendländischen Notation
entzieht.
Pierre Schaeffer: Etude pathétique (1948)
Interkulturelle Anregungen, die im Frühwerk von John Cage
zur Akzentverlagerung von der Tonhöhen- auf die Rhythmuskomposition
und von Ton- auf Geräuschstrukturen geführt haben,
können in technisch produzierter Musik sich auf einer noch breiteren Basis entwickeln:
Diese Musik kann aufgenommenes Klangmaterial aller Art verwenden -
also auch außereuropäische Musikaufnahmen aus unterschiedlichen Kulturkreisen.
Dies findet sich schon im Schlußstück des ersten Zyklus technisch produzierter Musik,
der 1948 entstanden ist:
In der Etude pathétique von Pierre Schaeffer, der letzten seiner 1948 entstandenen Etudes de bruits.
In dieser Collage aus geschnittenen und überlagerten Schallplattenfragmenten
sind Klänge aus unterschiedlichen Kulturkreisen miteinander verbunden,
z. B. balinesischer Priestergesang, das Tuckern eines französischen Schleppkahns
und einige Wörter, die von einer Frauenstimme gesprochen werden
(Schaeffer memoriert sur tes lèvres, man könnte auch sur tes reves heraushören) -
samt Hustengeräuschen, die sie unterbrachen und erst später
von Störgeräuschen zu komponierten Klängen umfunktioniert wurden. Schaeffer schreibt:
Der Kanalschlepper aus Frankreich, die amerikanische Harmonika, die Priester aus Bali und das eintönige ´Sur tes levres´ gehorchen auf wunderbare Weise dem Gott der Plattenteller.[5]
Pierre Schaeffer: Etude pathétique (1948)
Lautstärke-Notation (Wellenform-Darstellung) der ursprünglichen Fassung
1 6 7 9
Akz1 A2.. Akz3
Klangfl1.. Klangfl2........................Klangfl3......................Klangfl4..Klangfl.5...............................
Gesang.... Schleppkahn..................Akkordeon..................Männerst..Mix.......................................
1..........2
Etude pathétique: Einleitung (Blech-Klappergeräusche)
1 2 3 4 5
1. Akzentstruktur.........................................................................................................................................................
Klappern...................................Schleife.......Schleife.....var. Schleife........Klappern..................................................
hell+repetitiv............................tief mit Akzenten.......................................hell repetitiv............................................
Etude pathétique: 1. Klangfläche + Rep.
6 7 8 9
1. Klangfläche............................................................................................2. Akzentstruktur..................(2. Kl.fl.....)
.
Gesang (+Schleppkahn-Tuckern)...............................................................Klappern...Klappern.............
Bali + Frankreich
Etude pathétique: Tonmuster
10 17 19
x x x x x x x x
- Tonmuster1: Bali..................................................................Amerika..................................................................
d1-fis1-d1-cis1
Gesangstöne.Ton.......Tonsplitter...............................................
Akkordeon...............................................................
- Tuckern: Frankreich..............................................................................................................................................
Schleppkahn...............................................................................................................................................................
- Klaviertöne
tief, lang beginnend - aufsteigend...............................................................................................................................
F1-F-c-f-a-c1-es1-f1-g1-a1-h1-c2-(c1)(g2c3-e3)
Etude pathétique: Stimmlaute
Vokale - französische Sprachfetzen (Männerstimme) im Wechsel mit Hustengeräuschen (Frauenstimme)
sur
tes
reves
Etude pathétique: Mix (Stimmlaute, wiederkehrende Klangmuster) - Schlußakzent
Klaviertöne in 2 Anläufen aufsteigend:
1. Anlauf..................................................2.Anlauf.......................................................................
Akzentstruktur:
Blechklappern
Musik aus Klängen einer mexikanischen Flöte
Pierre Schaeffer: Variations sur une flute mexicaine (1949)
1949 hatte Pierre Schaeffer als Beauftragter des französischen Rundfunks eine Reise nach Mexiko unternommen. Von dieser Reise brachte er eine mexikanische Flöte mit nach Hause, die ihm anschließend im Studio nicht nur als Musikinstrument diente, sondern auch als Ausgangs-Schallquelle zur Produktion von Klängen, die anschließend in vielfältiger Weise weiter verarbeitet werden konnten. Die sinnfälligsten Verarbeitungsweisen waren Zeitraffer (Abspielen der Aufnahme mit größerer Geschwindigkeit, also höher und zugleich schneller) und Zeitlupe (Abspielen der Aufnahme mit kleinerer Geschwindigkeit, also tiefer und zugleich langsam). Das Stück beginnt mit einer einfachen Folge von vier aufsteigenden Tönen, die auch später noch leicht wieder zu erkennen sind - selbst dann, wenn sie durch Zeitlupe oder Zeitraffer verändert sind. Außerdem sind verschiedene andere Spielfiguren sowie vereinzelt auch Geräusche (Aufschlaggeräusche auf das Instrument zu hören).
In diesem Stück bleibt die exotische Klangfärbung auch in der technischen Verfremdung weitgehend erhalten.
Das fremde Klangbild verbindet sich allerdings mit westlichen Kompositionstechniken,
die sich erklären lassen als Mischform zwischen traditionellen Verarbeitungstechniken (z. B. Imitation, Agmentation und Diminution) und modernen Verarbeitungstechniken (z. B. Fragmentierung, Überlagerung, Transposition).
Variations sur une flute mexicaine
Thema...... Th Engf...... Th+Hochtr.. Th Transp+Engf Th Tr+Zerh ThTr
Variations sur une flute mexicaine
0`- 27`
4 Töne aufwärts...............abwärts.............................Tremolando 12................3.................4Tö abw...4Tabw
langsam aufsteigend.................................................langsam aufsteigend............................schnell absteigend
Flute mexicain: 4 Anfangstöne (Frequenzen, Intervalle)
660,56Hz...............808,84Hz..............929,71Hz........1084,50 Hz..................................................................
358 Cents 141 Cents 258 Cents
E5 + 3 Cents...........Gis5 - 45 Cents....Ais5 - 4 Cents.Cis6 - 38 Cents............................................................
Große Terz+1/4-Ton..Große Sekund-1/4-Ton.Kleine Terz-1/4-Ton: Frequenzen - Intervalle (Anfangstöne)
Musik aus (pseudo-)exotischen Stimmlauten
Pierre Schaeffer/Pierre Henry: Erotica, aus Symphonie pour un homme seul (1949-1950)
Erotica ist der Titel eines kurzen Satzes in der Symphonie pour un homme seul von Pierre Schaeffer und Pierre Henry (1949-1950). In diesem Satz sind nonverbale Stimmäußerungen komponiert:
- teils als kurze, verschiedene Ostinatoschleifen, die unterschiedlich häufig wiederholt werden
- teils als etwas längere, individuelle (und sich nicht als kurze Schleifen wiederholende) Stimmäußerungen
Die erstgenannten Klänge fungieren gleichsam als klangliche Grundierung,
vergleichbar der Harmonie in traditioneller Musik.
Die letztgenannten Klänge sind gestaltlich prägnant und dominierend,
vergleichbar der Melodie in traditioneller Musik.
Sie sind so charakteristisch, daß ein Ausschnitt von ihnen
auch als bekanntes Element aus Schaeffers Klangarchiv bekannt geworden ist unter dem Namen
Cri d´amour (Liebesschrei), bzw., genauer als polynesischer Liebesschrei mit der Solistin Moune de Rivel.
Dieses kurze Beispiel einer originalen Stimmaufnahme mit der Stimme von Moune de Rivel
hat Pierre Schaeffer in einer Anthologie experimenteller Radiokunst präsentiert.[6]
Im Anschluß an die originale Stimmaufnahme präsentiert Schaeffer in seiner Radio-Anthologie
einen Ausschnitt konkreter Musik, in dem kurze Elemente aus dieser Stimmaufnahme verarbeitet sind
(meist in kurzer Fragmentierung und schließender Repetition,
so daß sich ähnliche Klangresultate ergeben wie bei der Verwendung eines modernen Samplers.
Dieses Beispiel unterscheidet sich deutlich von der Verarbeitung der Stimmaufnahme in Erotica,
da hier Fragmentierungen und Mischungen mit andersartigen,
auch tieferer Lage deutlich kontrastierenden Klangmustern im Vordergrund stehen.
Ganz anders wirken die Stimmlaute in Erotica:
Wie ein Dialog zwischen „lebendigen“ Stimmlauten
und „maschinellen“ (in Schleifen-Ostinati wiederholten) Klängen.
Hier präsentiert sich Musik mit nonverbalen Stimmlauten als (quasi-)exotisierende Grenzüberschreitung.
Schon zu Beginn des Stückes werden kontrastierenden Elemente, aus denen es gebildet ist, klar erkennbar:
- Individuelle, unwiederholte Stimmlaute (Klangsignale): als Eröffnungs- oder als Zäsur-Signale („melodisch“)
- mechanisch wiederholte Fragmente (Klangmuster): als Klanggrundierung („harmonisch“)[7]
Zu Beginn des Stückes (0´´- 15.6´´) hört man zwei Mal nacheinander beide Klangtypen
im (sich überlappenden) Wechsel, anschließend vorwiegend gleichzeitig
(in Überlagerungen, wie sie sich bereits zuvor mehr und mehr herausgebildet hatten).
Dabei verdeutlicht sich, was zu Beginn des Satzes sich bereits angedeutet hatte:
Auch die Klangsignale sind miteinander verwandt,
teilsweise sogar arbeiten sie mit denselben Montagestücken.
Dennoch behalten sie den Charakter der einzelnen, in ihrem inneren Ablauf zahlenmäßig nicht erfaßbaren
individuellen Stimmäußerung: Es bleibt beim dialogischen Wechsel zweier Klangtypen.
Erotica 0´´- 15,6´´: Klangsignale (S) - Schleifen/Klangmuster (M)
1 2 - 3 - 4 - 5 - 6 7 8 - 9 - 10 - 11 - 12 13 (6+)... (7)...........
S1......... S2......................... (S3...........) S4........................
(ähnl. Schluß S2) (ähnlich S2)
Eröffnung - Zäsur (Eröffnung -) Zäsur
Erotica 15,6´´ - 32,8´´
S5 S6=S1 S7.............. S8 S9=S7+........... S10=S9=S´/+
Erotica 32,8´´ - 48,7´´
Exotische Musik zweiten Grades
Pierre Schaeffer: Simultané camerounais (1959)
In den Anfangsjahren der elektroakustischen Musik wurden „exotische“ Klänge (die anderen Musikkulturen entstammten oder Assoziationen an diese evozieren sollten), wenn überhaupt, dann meistens nur in winzigen Fragmenten verwendet: als Resultate minutiöser Montage. Erst später setzen sich auch andere Verfahren durch, die die Verwendung längerer Musikausschnitte ermöglichten und sich dennoch von „dokumentarischen“ Aufnahmen außereuropäischer Klänge und Musiken deutlich unterschieden. Das einfachste Verfahren, um solche Wirkungen zu erreichen, war die Mischung vorgefundener Musik. Das wahrscheinlich früheste Beispiel, das vollständig von solchen Mischtechniken beherrscht wird, ist eine 1959 entstandene Tonbandproduktion von Pierre Schaeffer: Simultané camerounais. In diesem Stück überlagern sich zusammenhängende Musiken, deren originales Klangbild weitgehend erhalten bleibt und nicht durch Fragmentierungen oder technische Verfremdungen denaturiert wird. So entsteht eine technisch produzierte Musik zweiter Art, als deren Ausgangsmaterial nicht „exotische“ Klänge, sondern vorgefundene „exotische“ Musiken dienen.
Linke Spur:
Musik 6................
Musik 5...........
Musik 4..............................................
Musik 3.....
Musik 2..
Musik 1............................................ ............
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 15
1 2 3 4 5 7 9 10 11 13 16 17 18 20 22 24 25 26 34 38 39 40
MusI
MusII....
MusIII .....
MusIV........................
1. Verdichtung..........................................2. Verdichtung............Höhepunkt und Ausklingen............................
Zweiton-Fanfare...........................................
Gliederung der linken und rechten Spur in der Stereofassung:
- Links (oberer Teil der Grafik):
1 Ziemlich leise: Blasinstrument, Schlagakzente (incl. Klatschen), Sprech- und Singstimmen
2 Klatschen plötzlich lauter
1, 3, 5, 7, 9, 15: Einsatz neuer Musik-Klangschichten
- Rechts (unterer Teil der Grafik):
2 Verdichtungsprozesse (1-15, 16-23) - Höhepunkt und Ausklingen (24-Schluß)
Simultané Camerounais entstand 1959 in dem von Pierre Schaeffer geleiteten Pariser Studio
im Rahmen einer Reihe von Werken, die in verschiedenen,
mehr oder weniger voneinander unabhängigen Klangschichten komponiert sind:
Am 1. Juni veranstaltete das Studio in der Salle Gaveau ein Konzert,
in dem Schaeffers Collage verschiedener afrikanischer Musiken
in ähnlicher technischer Disposition aufgeführt wurde
wie eine fast gleichzeitig entstandene Tonbandmusik von André Boucourechliev,
deren drei Klangschichten aleatorisch konzipiert sind,
also in verschiedenen Versionen unterschiedlich überlagert werden können.
(Um dies dem Hörer deutlich zu machen, verlangt der Komponist,
daß in einer Konzertaufführung mindestens zwei verschiedene Versionen gespielt werden sollen).
Schaeffer hat auf die aleatorische Variabilität der Überlagerung verzichtet,
aber gleichwohl bei der Aufführung die gleiche technische Disposition verwendet wie Boucourechliev:
Zwei Klangspuren werden auf einem Zweispur-Magnetophon wiedergegeben,
und gleichzeitig erklingt eine dritte Klangspur auf einem Einspur-Magnetophon.
Um die Musik den üblichen sterophonen Wiedergabe-Konditionen anzupassen,
haben sowohl Boucourechliev als auch Schaeffer auch Stereofassungen ihrer Stücke hergestellt,
in denen drei Klangschichten jeweils auf zwei Stereospuren aufgeteilt sind.
Die mehr oder weniger weitgehende Selbständigkeit verschiedener Klangschichten
bleibt auch in Simultané Camerounais noch weitgehend deutlich erkennbar -
und zwei vor allem deswegen, weil beide Stereospuren durchaus verschieden gegliedert sind.
So präsentiert sich auch hier außereuropäische Musik weitgehend ambivalent,
in der Verarbeitung nicht-westlicher Klangmaterialien nach westlich geprägten Techniken:
Man hört Musik mit afrikanischen Klängen mit Montagen und Mischungen,
mit Produktions- und Wiedergabetechniken,
wie sie sich weitgehend ähnlich auch in aleatorischer Tonbandmusik
der späten 1950er Jahre finden.
Polaritäten zwischen klanglichem und klangkompositorischem Denken,
zwischen klanglicher und kompositionstechnischer Orientierung
sind auch hier noch spürbar,
obwohl die „Verwestlichung“ im Sinne einer westlich notierten/notierbaren Musikpraxis
hier aufgegeben ist und hier nicht mehr das in westliche Notation transkribierte Klangbild,
sondern der reale, technisch gespeicherte und gegebenenfalls verarbeitete Klang
zum musikalischen Ausgangsmaterial geworden ist.
Musik zu einem Film über Porträts des Menschen in der Bildenden Kunst verschiedener Weltkulturen
Iannis Xenakis: Orient Occident (1960)
Die Tonbandmusik Orient Occident, die Iannis Xenakis im Studio des Pariser Groupe de Recherches Musicales (GRM) realisiert hat, bezieht sich of Bildende Kunst aus verschiedenen Weltkulturen, ohne Klänge aus diesen Weltkulturen zu verwendet. Statt dessen hat Xenakis die hier abgefilmten Bildwerke in seinen Skizzen knapp abgezeichnet und zu den ihnen gewidmenten Bildsequenzen Klangsequenzen entwickelt. Seine Musik unterscheidet sich deutlich nicht nur von seinen Instrumentalwerken der 1950er Jahre, sondern auch von seinen ersten Tonbandproduktionen im Studio des GRM: Hier geht es nicht in erster Linie um Musik aus kalkulierten Massenstrukturen (z. B. Glissandoschwärme in Diamorphoses (1957) oder akkumlierte Impulse in Concret PH (1958)), sondern um selbst produzierte oder aus dem Klangarchiv des Studios übernommene konkrete Klänge, die zu sinnfälligen konkreten Klangstrukturen zusammengefügt werden, ganz im Geiste der damaligen Produktionen dieses in den Traditionen der konkreten Musik verwurzelten Studios. Insofern bildet dieses Stück einen Sonderfall nicht nur in in der Tonbandmusik des Komponisten, sondern darüber hinaus auch in seinem gesamten oeuvre. Bezüge zu außereuropäischen Kulturen und Klangwelten ergeben sich hier nicht in direkten klanglichen oder musikalischen Bezügen, sondern eher in einer Klanggestik, die in vielen Details noch die live-Produktion der ursprünglichen Klänge erkennen läßt, beispielsweise in verschiedenen Passagen, die an „exotische“ Schlagzeugmusik erinnern.
1 2 3 4 5 6 7 89 10 11 12 13 14 15 16 17
Ruhige +Im- Zeit- Tief rascher +Gliss, Ruhige +höhere +Schlag-Lei- Klangfläche Verdichtung der
Vibrations- pulse raster ruhig vibrie- +Schl Schwell- Klänge, akzente se, m. Ein- Geräusch-
klänge Schlag- leise rend klang- +Geräusch- (sich tief, sprengseln: Einsprengsel
rhythmen fläche kaskaden verdich- ruh. hohe Rep
rascher Akz (links tend) Vib. (links),
Beruhigung Akz raschelnd, dumpfe
rechts Vib
klimpernd) (rechts)
Beruhigung Verdicht-
ung
Klangfläche Klangfl. Klangfläche Klangfläche
................................................. ....................... ...................................... . ..........................................................
I.......................................................................II.............................III....................................................IV...............................................................
Elektronische Musik mit einmontierten Zitaten verfremdeter außereuropäischer Musiken
Karlheinz Stockhausen: Telemusik (1966)
1966 realisierte Karlheinz Stockhausen in Tokio eine Tonbandkomposition, in der sich elektronische Klangstrukturen mit elektronisch verfremdeten Ausschnitten von Musiken aus verschiedenen Kulturkreisen verbinden. Die neuartige Weise, wie neuartige elektronische Klänge und traditionellen Musiken miteinander in Verbindung gebracht werden, bezeichnet Stockhausen als Intermodulation. Die für dieses Verfahren maßgebliche Technik, die Ringmodulation, erscheint hier in neuartigen Zusammenhängen: Sie ermöglicht die wechselseitige Beeinflussung von zwei eingegebenen Klängen, indem ihre Summations- und Differenzfrequenzen gebildet werden, was nicht nur ihr Klangspektrum wesentlich verändern kann (z. B. durch Verstärkung des Geräuschanteils), sondern auch den Klangverlauf (z. B. durch Verwandlungen von statischen in vibrierende Klänge). Durch die Ringmodulation traditioneller Musiken mit elektronischen Klangstrukturen erscheint Fremdartiges gleichsam in radiophon verfremdetem Klangbild. Altes und Neues sind unlöslich miteinander verbunden und modifizieren sich gegenseitig.
In einem Einführungstext gibt Stockhausen verschiedene Hinweise auf die von ihm verwendeten Musikausschnitte, mit denen er hier eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen darzustellen versucht.
Er erwähnt:
jene mysteriösen Besucher
- vom japanischen Kaiserhof, die Gagaku-Spieler;
- von der glücklichen Insel Bali;
- aus der südlichen Sahara;
- von einem spanischen Dorffest;
- aus Ungarn;
- von den Shipibos des Amazonas;
- von der Omizutori-Zeremonie in Nara, an der ich drei Tage und Nächte lang teilnahm;
- aus dem phantastisch-virtuosen China;
- vom Kohyasan-Tempel;
- von den Bewohnern des Hochgebirges in Vietnam, über die ich jeden Morgen
im Hotel grauenhafte und verzerrte Nachrichten aus eine amerikanisch-japanischen Zeitung entnehmen mußte;
- und wieder aus Vietnam;
- und noch mehr Zauberhaftes aus Vietnam (welch wunderbares Volk!)
(...)
- von den buddhistischen Priestern des Jakushiji-Tempels;
- aus dem No-Drama „Ho sho riu“
und was weiß ich wo sonst noch her.[8]
(Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik Band 3, Köln 1971, S. 75 f.)
In dieser Komposition bringt Stockhausen Aufnahmen vorgefundener Musik aus aller Welt
und elektronische Klangstrukturen dadurch in Verbindung,
daß er als vorherrschendes Prinzip der elektroakustischen Verarbeitung die Ringmodulation verwendet -
ein Verfahren, daß die wechselseitige Beeinflussung von zwei eingegebenen Ausgangsklängen ermöglicht.
Der technische Effekt besteht darin, daß von den zwei eingegebenen Klängen
Summations- und Differenzfrequenzen gebildet werden,
was bei miteinander modulierten elektronischen Klängen oft einen verstärkt geräuschhaften Charakter ergibt,
während ringmodulierte Aufnahmen traditioneller Musik aus aller Welt
ähnlich klingen können, als kämen sie aus einem fernen,
Störgeräuschen empfangbaren Radiosender.
Die technische Verfremdung kann so weit führen,
daß die ursprüngliche Musik kaum noch wieder zu erkennen ist.
Die Synthese von Elektronik und Weltmusik vollzieht sich hier im Rahmen einer strengen Zeitstruktur:
Stockhausen verwendet hier, wie auch in vielen anderen seiner Werke vor allem aus den 1960er Jahren,
Zeitproportionierungen, die sich aus der Fibonacci- Reihe ergeben: 1 - 2 - 3 - 5 - 8 - 13 - 21 - 34 - 55 - 89 - 144.
In dieser Reihe ist die Summe von zwei benachbarten Zahlen jeweils identisch mit der folgenden dritten Zahl.
Die Zahlen wachsen so, daß man auch die Unterschiede zwischen größeren Dauernwerten deutlich hören kann.
In der Großform des Stückes finden sich 6 verschiedene Sekundendauern: 13 - 21 - 34 - 55 - 89 - 144.
Im fertigen Stück finden sich auch geringfügige Abwandlungen von diesen Dauernwerte (Verlängerungen):
Eine Abweichung: 14 -
2 Abweichungen: 22, 23 -
3 Abweichungen: 35, 36, 37 -
2 Abweichungen: 56, 57 -
Eine Abweichung: 91
Auch die regulären und abweichenden Zeitdauern der Abschnitte
werden teilweise nach Fibonacci-Proportionen dosiert:
5 kurze Abschnitte dauern je 13 Sekunden, 8 weitere je 14 Sekunden;
die Normaldauer 21 Sekunden und die kleinste Abweichung (22 Sekunden) kommen je drei Mal vor,
eine etwas größere Abweichung (23 Sekunden) erscheint nur einmal;
der reguläre Dauernwert von 34 Sekunden erscheint zweimal,
die Abweidungen (35, 36 und 37 Sekunden) kommen je einmal vor;
bei den folgenden längeren Dauern werden die Abweichungen Schritt für Schritt reduziert:
55 - 56 - 57 89 - 91 144
3 Abschnitte 2 Abschnitte 1 Abschnitt
mit 2 Abweichungen mit einer Abweichung ohne Abweichung
3 (2) - 2 (1) - 1 (0)
Diese Dauern werden so verwendet, daß die kürzeren Dauern häufiger als die längeren vorkommen -
und zwar in einer Häufigkeitsverteilung, die wiederum aus der Fibonacci-Reihe hervorgeht:
Im Stück hört man 13mal die kürzeste Abschnittsdauer, 8mal die nächst längere,
3mal eine mittellange, 2mal eine sehr lange und 1 mal eine extrem lange Abschnittsdauer.
Insgesamt ergeben sich 32 Abschnitte,
in denen sowohl die Häufigkeit bestimmter Abschnittsdauern
(seien es reguläre Werte entsprechend der Fibonacci-Reihe, seien es geringfügige Abweichungen davon)
als auch die Positionierung in der Abfolge der Abschnitte genau positioniert sind.
Beim Hören des Stückes werden die Abschnittsgliederungen deutlich markiert
durch Akzente verschiedener Schlaginstrumente:
Je höher der Akzent und je rascher er verklingt, desto kürzer der von ihm eröffnete Abschnitt.
Die längeren Abschnittsdauern werden markiert durch lang nachklingende Schlagakzente.
Diese Akzente sind stets an den Anfängen der Abschnitte deutlich zu hören;
in einigen Fällen setzen sich die Akzentuierungen auch im weiteren Verlauf eines Abschnittes fort.
Insgesamt ergibt sich so ein strenges Zeitraster,
geprägt vom strengen quantitativen Musikdenken westlicher Musik -
ein Zeitraster, in das dann gleichwohl Klänge eingepaßt werden,
in denen Musik aus anderen Kulturkreisen verarbeitet ist.
Hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit des kompositorischen Ansatzes mit dem frühen John Cage:
Westliche Zeitstrukturierung wird zum Organisationsprinzip
nicht nur für absolut neuartige und möglichst vorbildlose Klänge,
sondern auch für Klänge, die nicht-abendländisch inspiriert oder geprägt sind.
Westlich geprägtes integrales Formdenken stellt sich hier wie dort selbst in Frage zumindest insoweit,
als es sich für Klangvorstellungen öffnet, die dem eigenen Grundansatz eigentlich widersprechen.
Hier wie dort stellt sich die Frage, ob und inwieweit hier Spannungsverhältnisse zu Tage treten,
die kompositorisches Denken womöglich auch in produktive Widersprüche verwickeln
und so seine Entwicklung dialektisch weitertreiben können;
vieles spricht dafür, daß diese Frage, vor allem im Hinblick auf längerfristige kompositorische Konsequenzen,
für Cage und Stockhausen durchaus unterschiedlich beantwortet werden müßte.
Stockhausens Telemusik ist ein Werk des Überganges
Erstmals sind hier in seiner elektroakustischen Musik
Klänge „natürlicher“ Herkunft (instrumentale und vokale Instrumental- und Musikaufnahmen)
vollständig gleichwertig behandelt,
auch im Hinblick auf ihre differenzierte klangliche Verarbeitung im Studio.
Dies führte auf durchaus neuartige kompositorische Fragestellungen,
die sich allerdings in der Formplanung des Stückes noch nicht direkt niederschlagen:
diese unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen,
vorwiegend instrumental (teilweise auch live-elektronisch) geprägten
Kompositionen Stockhausens aus jenen Jahren.
Telemusik, Gesamtdarstellung
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 14 16 17 20 21 22 24 25 27 28 31 32
13 13 13 13 13
1 2 3 4 5
14 (14) 14 14 14 14 14 14
1 2 3 4 5 6 7 8
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13x13´´
13 kürzeste Abschnitte (je ca. 13´´): Beginn jeweils mit einem sehr hohen und kurzen Schlagakzent (Taku)_____
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
21 22 21 23 22 23 21 22
1 2 3 4 5 6 7 8x21´´
8 zweitkürzeste Abschnitte (je ca. 21´´): Beginn jew. m. einem etw. tieferen und längeren Schlagakz. (Bokusho)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
34 35 37 36 34
1 2 3 4 5x34´´
5 mittellange Abschnitte (je ca. 34´´): Beginn jew. mit einem Schlagakzent mittlerer Lage u. Dauer (Mokugyo)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
55 57 56
1 1 3x55´´
3 lange Abschnitte (je ca. 55´´): Beginn jew. mit einem nachhallenden Schlagakzent (Rin)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
89 91
1 2x89´´
2 sehr lange Abschnitte (je ca. 89´´): Beginn jeweils mit einem lang nachhallenden Schlagakzent (Keisu)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
144
1x144´´
1 extrem langer Abschnitt (144´´): Extrem lang nachhallende Schlagakzente (große Tempelglocken)
1..2..3..4..5..6..7..8..9..10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32
2113 34 14 22 14 41 55 35 21 89 13 23 14 37 57 22 13 27 23 36 91 14 56 21 14 34 14 22 14 144 13
(14)
(+27)
21 22 21 23 22 23 21 22
1 2 3 4 1 2 3 4 5 1 2 3 / 1 2 3 4 1 2 3 1 2 3 4 5/(1 2 3 4) (1 2 3 4)
34 35 37 36 34
1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6
55 57 56
(1 2 3 4 5 6 7) 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8 (1 2 3 4 5 6 7 8 9)
89 91
(1 2 3 4 5 6 7 8 9 10) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Abschnitt 3
34´´.....................................................................................................................................................................
Einleitung Musik 1............Musik 2...........................Musik 3....................................................
El+Gagaku........El....................................El+Gagaku...............................................
5´´.....................8´´...................................13´´...........................................................
Schlagakzente accelerando (Mokugyo)............................................. Schlagakzent (Mokugyo)
21´´....................................................................................................13´´............................................................
Abschnitt 5
22´´......................................................................................................................................................................
Einsatz Bali
Einsatz Sahara
0´´.............2´´..........................................8...........................................................................................................
Einleitung - Musik aus Bali und Musik aus der Sahara
+elektronische Akzente (bei 2´´, 3´´, 8´´, 10´´, 13´´, 21: Einsatzabstände 1-5-2-3-8)
Abschnitt 7
0´´1´´..................................................14´´.................................................27´´..............................................41´´
13´´ 13´´
Akz.................................................... Akz...............................................(ElAkz)
Impulse abwärts rit..................... Klangfläche
+ Musikmontage..... + japanischer Priestergesang
Gagaku, Bali, Afrika; + Spanien
Abschnitt 9
Elektronische Klangfläche..........................Musikakz.Klangfläche....Musikakzent.....Klangfläche...................
Spanien.... Span+Ungarn...
Abschnitt 11
89´´......................................................................................................................................................................
55´´....................................................................................................34´´...........................................................
El. Klangfläche + Fragmente aus Kabuki-Musiken..........................Forts. mit 3 Schlagzenten (Keisu)
Akz.....Akz....Akz
Abschnitt 12
13´´......................................................................................................................................................................
5´´...................................................................... 3´´...........................................
2´´.............. 3´´............................
Elektronische Klangfläche..................................................................................................................................
+ungar. Mus. +ungar. Musik
Abschnitt 13
23´´......................................................................................................................................................................
(letzter Akzent auf 21´´)
Elektronische Klangfläche, dazu Fragmente aus Musik der Shipibo-Indianer.
In der Partitur (S. 16) wird die verwendete Aufnahme folgendermaßen beschrieben:
„Dance during puberty rite“: Trommel, Schellen, periodische Töne von Blasrohren;
dazu Rufen, Schreien, Lachen (schallend und ausgelassen) von Mädchen.
Vom Beginn der Tonbandaufnahme 6 s abgeschnitten, um bei s 4,5
das erste Schreien und Lachen der Mädchen einsetzen zu lassen.
Abschnitt 14
14´´......................................................................................................................................................................
1...........2......................3....4.................5...................................6.....................7..........8...............................9.....
0´´........1´´...................3´´..3,5..............5...................................8.....................10...... .11............................13,5
9 Schlagakzente (Taku), transponiert auf verschiedene Tonhöhen)
+ Musikfragmente aus Kabukimusik, ungarischer Musik und indianischer Musik
(die meisten Taku-Akzente markieren Einsätze oder Abschlüsse von Musik-Fragmenten)
Abschnitt 15
37´´......................................................................................................................................................................
Schlagakzente accelerando (Mokugyo)
Glissando-Klangschichten aus außereuropäischen Musiken
und aus vorproduzierten Strukturen der Komposition
Abschnitte 17, 18, 19
22´´........................................................................13´´................................... 14´´...........................................
3 Abschnitte unter Verwendung der sogenannten „Muschel-Musik“.
Diese wird in der Partitur (S. 24) folgendermaßen beschrieben:
MUSCHEL-MUSIK (aus der OMIZUTORI-Zeremonie im TDAIJI-Tempel,Nara)1
1 Innerhalb dieser Zeremonie blasen 5-6 Priester auf verschieden grossen Muscheln,
die mit Mundstücken versehen sind.
Charakteristisch sind sehr unregelmässige Glissandi, Mischungen von Tönen und lauten Blasgeräuschen
(oft sprechen Muscheln kaum oder garnicht an,
und man hört „zerbrechende“ töne oder nur das fauchende Geräusch);
immer sind kiontinuierliehc und mit verschieednen Tempi periodisch wiederholte Töne polyphon gemischt,
höhere und tiefere alternieren manchmal paarweise in 2-tönigen Gruppen (...)
Es gibt 2 charakteristische längere Teile, einen in TIEFERER und einen in HÖHERER LAGE,
von denen jeder mehrere Minuten dauert.
Abschnitt 20
23´´.....................................................................................................................................................................
Bali.... Gagaku......Sahara......Shipibo
Abschnitt 21
36´´.......................................................................................................................................................................
Vibrierende Klangfläche - hinzugeblendete Einschübe mit Fragmenten chinesischer Musik
China... China........... China.................. China.......................
Abschnitt 22
91´´.....................................................................................................................................................................
Überlagert: 2 Tempelgesänge, höhere und tiefere „Muschelmusik“, Musik der Javahe-Indianer „Wiegenlied“
Abschnitt 23
14´´......................................................................................................................................................................
„Muschelmusik“ in 3 Schichten überlagert
Abschnitt 4
56´´......................................................................................................................................................................
35´´.....................................................................................................
34´´................................................................
Überlagerung: Kabuki, Javahe-Wiegenlied........................................................................................................
+Vietnam: Mädchenstimmen, Pfeifen
Abschnitt 25
21´´......................................................................................................................................................................
Alternierende Klänge (Elektronische Klänge - Musik aus Vietnam)
El..... El... El.......... El............. El.....................
1´´.... 1´´.. 2´´.......... 2´´............ 3´´....................
Vietnam............................ Vietnam........... Vietnam... V..... V.....
5´´..................................... 4´´................... 2´´............. 1´´... 1´´...
Abschnitte 26, 27, 28
3 Abschnitte mit Aufnahmen vietnamesischer Musik
„Air de gongs“................+ „Concert de flutes“.................................................................................................
14´´..................................34´´......................................................................................14´´................................
21´´ Schlagakzente rit (Mokugyo)..13´´..............................
Akz (el)
Abschnitt 29
22´´.....................................................................................................................................................................
Vietnamesische Musik und 10 Schlagakzente (je 5x Bokusho, Mokugyo, Rin; 4x Keisu)
1 2 3 4 5 6 7 8 9 1o
Abschnitt 30
14´´.....................................................................................................................................................................
Vietnamesische Musik überlagert mit Tempelgesang aus Japan (Nara)............................................................
5 Schlagakzente
1 2 3 4 5
0´´ 1´´ 4´´ 6´´ 9´´
1´´ 3´´ 2´´ (3´´) 5´´
Abschnitt 31
144´´.....................................................................................................................................................................
Dauerklänge: Elektronisch (hohe Klänge) und instrumental (nachklingende Schlagklänge)
+Gagaku-Musik....................................................................................................................................................
89´´.........................................................................................................55´´......................................................
+ Muschelmusik
Abschnitt 32
Internationalität - Interkulturalität - Elektroakustische Musik
Beatriz Ferreyra: Siesta blanca (1972) und Jazz´t for Miles (2001)
Es sollte längere Zeit dauern, bis internationale und interkulturelle Vernetzungen im Bereich der Elektroakustischen Musik auch in internationalen Kooperationsprojekten zu Tage treten sollten.
Ein wichtiges frühes Beispiel hierfür stammt aus den frühen 1970er Jahren:
Das neue gegründete Experimentalstudio in Bourges hatte für ein unter seiner Regie neu begründetes
internationales Festival experimenteller Lautsprechermusik
ein internationales Kooperationsprojekt in Auftrag gegeben,
in dem Komponistinnen und Komponisten aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen
sich mit Beiträgen zum Thema „Die Jahreszeiten“ beteiligen konnten,
in die auch Klangmaterialien aus ihrem Herkunftsland integriert sein sollten.
Die aus Argentinien stammende, seit den frühen 1960er Jahren in Frankreich lebende
Komponistin Beatriz Ferreyra beteiligte sich an diesem Projekt mit einem Stück,
das an markanten Stellen Tangomusik von Astor Piazolla verarbeitet.
Diese deutlich erkennbaren Zitate erscheinen an wichtigen Gliederungspunkten des Stückes.
Sie verbinden sich mit längeren, vorwiegend ruhigen Klangflächen,
die sich stärker von realistischen Assoziationen entfernen,
von der Komponistin allerdings als atmosphärische Ausgestaltung des gestellten Themas gemeint sind:
Sie porträtieren die Jahreszeit des Winters.[9]
Interkulturelle Affinitäten ergeben sich in der Musik von Beatriz Ferreyra bei verschiedenen Gelegenheiten, ohne daß sie unbedingt primäre Bedeutung für die kompositorische Konzeption haben müßten:
Charakteristisch für die Arbeitsweise dieser Komponistin,
die mehrere Jahre in einer von Pierre Schaeffer geleiteten Klangforschungsgruppe gearbeitet hat,
ist einerseits die Konzentration auf Klangmaterialien, die aus der realen Hörwelt stammen,
andererseits aber auch häufig deren kompositorische Emanzipation
aus ihrem ursprünglichen realen Kontext.
Ein anderes prägnantes Beispiel interkulturell orientierter elektroakustischer Musik von Beatriz Ferreyra
ist die kurze, 2001 entstandene Komposition Jazz´t for Miles. Dieses Werk ist einerseits elektroakustische Musik mit aufgenommener (Jazz-)Musik als kompositorischem Ausgangsmaterial, andererseits
interkulturelle Musik zweiten Grades:
Musik aus Jazz-Klängen, also aus Klängen einer interkulturellen Musik,
die verarbeitet wird nach Prämissen der französischen musique concrète
und der von ihr inspirierten empirischen „akusmatischen“ Klangforschung.
I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.
Beatriz Ferreyra: Siesta Blanca (1972) 14‘27‘‘
I. Einleitung (Track 01):
I.
Track 01: 00.00.00 Bandoneon+Klavier+Cello: Tango
II. - IX. Akzente - kontrastierende Klangflächen (Tracks 02,03-04,05-06,07-09,10-11,12-13,14-16,17-18,19):
II.
Track 02:
00.17.60 Akzent (hohes es+Unteroktaven, später es+e mit
Schwebungen) –
Klangfläche (mit leise repetiertem b, das später
mit ces und a umspielt wird)
III.
Track 03: 02.31.50 Akzent (es) mit Instrumentalfloskel (cis-e-cis) – Fortsetzung der ruhigen Klangfläche
Track 04: 04.59.30 Anschwellen
IV.
Track 05: 05.16.80 Akzent+Signal – Signal: Echo, Varianten
Track 06: 05.38.80 Fortsetzung der Klangfläche (mit hohem Dauerton: gehalten, später repetiert)
V.
Track 07: 06.18.60 Akzent: geräuschhaft, schrill
Track 08: 06.37.00 Anschwellen mit sich verdichtenden Akzenten
Track 09: 07.53.00 Ab- und Anschwellen (Bandmaschine ausgestellt – Neu-Einblendung)
VI.
Track 10: 07.58.20 Doppel-Akzent (Lauf abwärts: Bandoneon – Gitarre var. 1 Oktav tiefer) – Pause
Track 11: 08.03.90 Sehr tief und leise – etwas anschwellend
Track 12: 08.19.50 Glissando-Akzente (aufwärts), unregelmäßige Einsatzabstände
Track 13: 09.27.00 Anschwellen (Klangfläche mit leisen Akzenten, später + Fanfaren)
VII.
Track 14: 10.13.50 Akzent mit Glissando abwärts
Track 15: 10.18.50 Akzentuiertes Klangmuster (3 Töne, später + tremolierender Klang)
Track 16: 10.57.20 Anschwellen
VIII.
Track 17: 11.34.10 Akzent – leise Forsetzung b-moll (Klavier und Baß, Bandoneon)
Track 18: 11.49.40 An- und Abschwellen
IX.
Track 19: 12.46.60 Akzente über an- und abschwellender Klangfläche
I. II. III. IV. V. VI.
Beatriz Ferreyra: Jazz’t for Miles (2001) 5‘10‘‘
Formprozess I.: An- und Abschwellen (von d1 bis d2 und zurück), Aufbau einer Klangfläche
Track 01: 00.00.00.00 Leise Läufe aufwärts (d1- e1- f1)
Track 02: 00.00.11.60 Vorbereitung des 1. Akzenttons (a1)
Track 03: 00.00.16.90 1. Akzentton (a1: Quinte, Dominante)
Track 04: 00.00.25.70 + 2. Akzentton (d2: Oktave, Tonika) - Abschwellen
Formprozess II.: Verdichtung, Aufbau von Figuren
Track 05: 00.00.50.50 Instrumentalakzent - Abschwellen (Klangfläche mit Läufen etwas höher)
Track 06: 00.00.56.00 Neue Klangfläche - Anschwellen (mit hohem Halteton)
Track 07: 00.01.07.50 Instrumentalakzent - höhere, schnelle Läufe - danach abschwellende Klangfläche
Überleitung: 1. Jazz-Andeutung (Trompete)
Track 08: 00.01.42.00 + tiefer Akzent
Track 09: 00.01.51.50 + Schlagzeug (Trommeln)
Track 10: 00.01.59.50 + Becken
Track 11: 00.02.03.50 Trompeten: kurze Jazz-Floskeln, Glissando-Akzente
Track 12: 00.02.11.80 Trompetenakzent - Abschwellen - Pause
Formprozess III.: Rhythmus (Schlagzeug) und Melodie (Trompeten)
Track 13: 00.02.21.00 Wirbel (kleine Trommel)
Track 14: 00.02.27.00 + Klangpunkte
Track 15: 00.02.38.50 + Trompete(n); Signal - Pause überbrückt durch Trommelwirbel
Track 16: 00.02.49.00 Neueinsatz Trompete(n)
Track 17: 00.03.03.50 Trompete Schlußakzent (wie 12, Schluß verkürzt) - Pause
Formprozess IV.: Höhepunkt - Beruhigung (Akzentvariation des vorigen Akzents)
Track 18: 00.03.07.50 gedämpfte Trompete (+ Schlagzeug und Klavier).............................................Höhepunkt (Jazz quasi live)
Track 19: 00.03.17.00 Schwellton (Schlußton) - Steigerung der vorigen Phrasen................................Beruhigung
Track 20: 00.03.23.00 + verfremdete akkordisch-orchestrale Klangfläche, an- und abschwellend......Verdichtung
Formprozess V.: Klangfläche und Reduktion
Track 21: 00.03.31.00 Klangfläche Auf - und Abbau.............................................................................Verdichtung
Track 22: 00.04.00.00 Dauerton - repetierte Töne (über leiser Klangfläche + Basston)
Formprozess VI.: Klangfläche - Gestalt - Abbau
Track 23: 00.04.12.00 + Basston - Schwell-Klangfläche / Klangfläche + leise Repetitionstöne - gedämpfte Trompete
(verfremdet) - Konzentration auf Basslage
Track 24: 00.04.37.00 gedämpfte Trompete (Skalen)
Track 25: 00.04.48.50 Trompete Schlussakzent-Ton (zwei Mal) - Abschwellende Klangfläche
Außereuropäische Klänge und Musiken
als Elemente einer All-Klang-Musik
Pierre Henry und seine klangintegrativen Kompositionen
[1] Richard Kostelanetz: John Cage im Gespräch. Köln 1989, S. 58
[2] Monika Fürst-Heidtmann: Das präparierte Klavier des John Cage, Regensburg 1979, S. 152 f.
[3] INA-GRM (Hrsg.): Repertoire acousmatique 1948-1980, Paris 1980, S. 16-18
[4] Pierre Schaeffer: A la recherche d´une musique concrète, Paris 1952, S. 25
[5] Pierre Schaeffer: Musique concrète. Dt. Ausgabe Stuttgart 1974 (Übers.: Josef Häusler), S. 67
[6] Pierre Schaeffer: Les Grandes Heures de la Radio, 1942/1952...
CD-(Re-)Edition Phonurgia Nova / Ina (1989), CD C take 5 Anfang. Dazu booklet S. 52.
Die anschließende Verarbeitung der Stimmlaute in einem kurzen Ausschnitt konkreter Musik
wird angesagt unter dem Stichwort surexotisme.
[7] Solche Unterscheidungen zwischen individuell gestalteten und abzählbar gemusterten Klanggestaltungen
finden sich schon zu Beginn der Symphonie pour un homme seul, in den ersten ersten Sequenzen des Eröffnungssatzes Prosopopée 1. Schaeffer analysiert sie hier mit der Unterscheidung zwischen
motifs incidentaux und motifs variants. Man vgl. hierzu: Pierre Schaeffer: A la recherche d´une musique concrète, Paris 1952, S. 82
[8] Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik, Band 3, Köln 1971, S. 75 f.
[9] Genauere Informationen über Siesta Blanca und andere Kompositionen gab Beatriz 2003 in zwei Vorträgen auf der Darmstädter Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung. Man vgl. hierzu in diesem Bande S. xy.
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