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4.20 Nachtkonzert III - Musik mit Stimme(n)


Nachtkonzert III

MUSIK MIT STIMME(N): SICHTBAR - UNSICHTBAR

Stimme - Lautsprechermusik - Lautsprechermusik mit Stimme(n)

Freitag, 9. 4. 1999, 21.30 Uhr Großer Saal

Hörclip-Intro: Stimme(n) X (Alexander Schwan)

UNSICHTBARE UND SICHTBARE STIMME(N):

LAUTE DIESSEITS UND JENSEITS DER SPRACHE

John Cage: EXPERIENCES II (1945-1948)

Solo (voice)

(words by e. e. cummings)

Pierre Schaeffer / Pierre Henry: EROTICA

(aus: SYMPHONIE POUR UN HOMME SEUL, 1949-1950)

Josef Anton Riedl: VIELLEICHT-DUO (1963/1970)

(Version mit aufgenommener Sprechergruppe)

STIMMEN DIESSEITS UND JENSEITS DES ALLTAGS

Mauricio Kagel: ANTITHESE für elektronische und öffentliche Klänge

(1962)

Luigi Nono: LA FABBRICA ILLUMINATA (1964)

Francois Bayle: SOLITIOUDE (1969)

John Stanley Body: MUSIK DARI JALAN (Musik der Straße) (1976)

Jonathan Harvey: MORTUOS PLANGO, VIVOS VOCO (1980)

Daniel Teruggi: FUGITIVES VOIX (1997)

STIMMEN UND ELEKTROAKUSTISCHE KLÄNGE:

VERBAL UND NONVERBAL - ELEKTRONISCH UND KONKRET

John Cage: ARIA (1958) with FONTANA MIX (1958)

Sigune von Osten, Stimme

Alexander Schwan, Klangregie

John Cage: Experiences II (1945-1948)

Experiences II wurde geschrieben in der rhythmischen Struktur des Tanzes von Merce Cunningham, derselben, die für Experiences I (für zwei Klaviere) Verwendung gefunden hat. Die melodische, die im Charakter modal ist, ist fast dieselbe in beiden Stücken.

Pierre Schaeffer / Pierre Henry: Erotica (aus: Symphonie pour un homme seul, 1949-1950) (1´15)

Es beginnt mit einem seltsamen Dialog im Dunkeln: Leises, verschmitztes Frauenlachen - dann merkwürdig plappernde, automatenähnlich geleierte Laute einer anderen Frauenstimme. Ein Dialog der unsichtbaren Stimmen fängt an. Die "lebendige" Frauenstimme scheint zu reagieren: Erstaunt, kokett, spöttisch. Die "Automatenstimme" stoppt, setzt danach ihr Geleier wieder fort, wechselt über zu anderen, wiederum mechanisch wiederholten Klangmustern, verwandelt sich in "Musik mit Stimmen." Plötzlich entdeckt man, daß auch die "lebendig" wirkende Stimme in Wirklichkeit nur ein Automat ist: Ihr Gelächter kommt ins Stocken, wiederholt sich wie eine defekte alte Schallplatte. Die Klänge wandern durch den Raum, aus dem Hintergrund in Richtung Bühne.

Das kurze Stück heißt "Erotica". Es ist ein Satz aus der ersten Lautsprecher-Sinfonie der Musikgeschichte: Aus der 1950 uraufgeführten "Symphonie für einen einsamen Menschen" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Wenn diese Musik im Konzertsaal erklingt, ergibt sich eine paradoxe Situation: Alle Klänge sind im Studio vorproduziert; es gibt also keine "live" auftretenden Interpreten mehr, nur den Klangregisseur am Mischpult und seine Techniker. Statt Instrumenten sind im ganzen Raum Lautsprechergruppen verteilt - in zahllosen Varianten der Größe, der Form und der technischen Eigenschaften, so daß dasselbe Klangmaterial farblich und räumlich vielfältig variiert werden kann. Deswegen erschließt sich der volle klangliche Reichtum dieser Musik eigentlich erst in der Konzertaufführung mit einem reicht bestückten Lautsprecherorchester, wie es in Paris regelmäßig in Lautsprecherkonzerten des Rundfunks zu hören ist. Wer diese Musik zu Hause, in Rundfunksendungen, auf Schallplatte oder compact disc hört, muß sich mit einem stereophonen Abbild des vollen Raumeindruckes begnügen, ebenso wie bei Aufnahmen anderer Konzertmusik auch. Allerdings hört er - anders als bei über Lautsprecher übertragener traditioneller Konzertmusik - Musik, die ausdrücklich für seine Hörsituation bestimmt ist: Unsichtbare Musik. - Wer diese Musik im Konzertsaal über Lautsprecher hört, entdeckt das Unbekannte im Bekannten: Die Stimmlaute, die er vernimmt, lassen sich keiner realen, sichtbaren und vokal agierenden Person mehr zuordnen. Klänge im Raum werden zu rätselhaften Klangsignalen ortloser und gleichwohl unverkennbar präsenter Stimmen.

Josef Anton Riedl: Vielleicht-Duo (1963/1970) (3´02)

(Version mit aufgenommener Sprechergruppe)

Das Vielleicht-Duo (ausgehend von dem Satz: "Vielleicht ist es so, vielleicht ist es auch nicht so" aus Büchners "Leonce und Lena") ist einerseits für einen Vokalisten, der seine Laute mit Wasser moduliert - indem er etwa in ein Wasserbecken hineinspricht oder beim Sprechen Wasser in den Mund nimmt -, andererseits für elektronische Klänge, die mit Hilfe eines Vocoders menschliche Sprache nachahmen. Also ein Duo aus verfremdeter natürlicher Sprache und naturalisierter künstlicher Sprache, das im Reagieren des Vokalisten aufs Tonband entsteht - Improvisation zu einem leicht improvisatorischen Cantus firmus.

Dieter Schnebel

Auf die Idee, Vokalmusik über einen Textsatz Büchners zu komponieren, kam Riedl, als er Musik für eine Inszenierung an den Münchener Kammerspielen zu komponieren hatte. Dies regte Riedl, auch über den ursprünglichen Anlaß hinausgehend, zu verschiedenen Lautgedichten über diesen Textsatz an, in denen z. B. durch Ausfiltrierung von Buchstaben oder Bildung neuer Lautgruppen aus dem ursprünglichen Textsatz zahlreiche Text- und Lautvarianten abgeleitet wurden. Im Vielleicht-Duo steht weniger die strukturelle Lautkomposition als die teils live, teils vorproduziert erscheinende Verfremdung des konventionellen Stimm- und Sprachklanges im Vordergrund. Live (durch Füllung des Mundes mit Wasser) verfremdete Stimmlaute verbinden sich hier reaktiv mit elektonisch transformierten vorpruduzierten Klängen.

Mauricio Kagel: Antithese für elektronische und öffentliche Klänge (1962) (9´24)

Die Komposition Antithese existiert in verschiedenen Ausformungen: Als Tonbandmusik; als "Spiel für einen Darsteller mit elektronischen und öffentlichen Klängen", d. h. als von einer Tonbandwiedergabe begleitete szenische Aktion oder umgekehrt als Tonbandmusik mit szenischer Begleitung; als Musikfilm. Das Tonband wurde im Siemens-Studio für Elektronische Musik München produziert. Den Ablauf der Tonbandmusik beschreibt Dieter Schnebel als die Vorführung eines Skandals und zwar eines so prächtigen, wie es ihn heute kaum noch gibt. Es geht zu wie dereinst bei Aufführungen neuer Musik: Zunächst Gemurmel, dann beim Auftritt der Interpreten Befall und Ruhe. Die folgende Musik ist zunächst ungestört zu hören, wird dann in zunehmendem Maßü von Äußerungen des Publikums begleitet, ja verschüttet, kommt aber immer wieder durch. Endlich kocht´s im Saal, hellt sich wieder auf (die Leute verlassen den Raum), und dann endet das Stück mit den freundlichen Geräuschen einer Cocktailparty: anschließender Empfang im Rundfunk, beim Mäzen oder sonstwo. Also ist der Skandal auskomponiert; wird freilich durch solche Spiegelung gebrochen, was ihn gleichsam verfärt. Musik wird quasi theatralisch mit der Situation konfrontiert, in der sie sich abspielt. Ob solchen Gegenübers wird die Musik der elektronischen und öffentlichen Klänge verstörend zur Antithese.

Antithese ist eines der frühesten Beispiele für neue Tendenzen der Tonbandmusik, die sich seit den sechziger Jahren ausprägten: Aufgenommene Klänge erscheinen nicht nur in weitgehender Verfremdung und Abstraktion, sondern im Kontrast dazu in unterschiedlichen Graden der Identifizierbarkeit bis hin zum Extremfall des situativ identifizierbaren, mehr oder weniger realistischen Umweltgeräusches.

Luigi Nono: LA FABBRICA ILLUMINATA für Sopran und Tonband (1964) (16´45)

Text von Giuliano Scabia und Cesare Pavese

Tonaufnahme des studio di fonologia der RAI Mailand

(unter Einbeziehung von Aufnahmen mit dem Chor der RAI Mailand, Leitung: Giulio Bertola)

In der Komposition La Fabbrica Illuminata verwendet Luigi Nono:

- Tonaufnahmen in einem Walzwerk in Genua (kalt - heiß - Hochofen)

- Elektronisches Material, aufgenommen im Studio di Fonologie der RAI in Mailand

- Tonaufnahmen und vielfältige Interpretationen des Testes durch den gemischten Chor der RAI unter dem Dirigenten Giulio Bertola und durch die Mezzosopranistin Carla Henius.

Im Juni und Juli 1964 hat Luigi Nono im Studio die Fonologia Mailand das Material ausgewählt und verarbeitet sowie die endgültige Komposition fertiggestellt. Das Werk ist den Arbeitern der Italsider-Werke von Genua-Cornigliano gewidmet. Überdies verarbeitet Nono einen Text von Giuliano Scabia und ein Fragment aus "Due poesie a. T." vo Cesare Pavese. Bei Konzertaufführungen verbindet sich eine live-Gesangspartie (Mezzospran) mit der Tonbandwiedergabe. Die Partitur der live-Partitur orientiert sich an den Textvorlagen. Sie enthält außer Gesangstönen auch Sprechklänge mit oder ohne festgelegte Sprechhöhe, geflüsterte, fast geflüsterte oder fast gesprochene Klänge

Im Gespräch mit Hansjörg Pauli hat Luigi Nono 1969 erläutert, was er erlebt hat, wenn er diese Komposition italienischen Arbeitern vorgeführt und mit ihnen diskutiert hat:

"Niemand wunderte sich, ob das noch Musik sei, und niemand meinte, allenfalls ginge solche Musik als Begleitung zu science-fiction am Fernsehen. Ganz direkt wollten die Arbeiter wissen, wie das omponiert sei, wie aus Fabriklärm und Tarifverträgen Musik werden könne. Sie bezogen, was sie hörten, sofort auf sich. Undd dann warfen sie mir vor, die Geräusche in meinem Stück, in D"La fabbrica illuminata", seien bei weitem nicht so stark wie die, die sie gewöhnt seinen. Das fiel ihnen au. Sie sahen ein, daß sie bisher wie Roboter in die Fabrik gegangen waren und ihre Arbeit getan hatten, ohne weiter darüber nachzudenken. Jetzt wurde ihnen, durch den Vergleich, plötzlich bewußt, unter welchen akustischen Bedingungen sie arbeiteten, und sie begannen sich zu überlegen, ob das denn so sein müsse, und ob es nicht eine Möglichkeit gebe, das zu ändern."

I. CORO INIZIALE

fabbrica dei morti la chiamavano Fabrik der Toten wird sie genannt

esposizione operaia Ausgesetztsein der Arbeiter

a ustioni den Verbrennungen

a escalazioni nocive den Giftgasen

a gran masse di acciaio fuso den großen Gußstahlmassen

esposizione operaia Ausgesetztsein der Arbeiter

a altissime temperature den sehr hohen Temperaturen

su otto ore due ne intasca l´operaio für acht Stunden Arbeit kassiert

der Arbeiter nur zwei

esposizione operaia Ausgesetztsein der Arbeiter

a materialie proiettati den herumfliegenden Metallteilen

relazioni umane per accelerare i tempi "human relations" zur Beschleunigung

des Arbeitstempos

esposizione operaia Ausgesetztsein der Arbeiter

a cadute dem Herunterstürzen

a luce abbaglianti den blendenden Lichtern

a corrente ad alta tensione dem Hochspannungsstrom

quanit MINUTI/UOMO per morire? wieviele Minuten pro Mensch um zu sterben?

II. GIRO DEL LETTO

(Anm.: Mit Giro del letto bezeichnet man ein Arbeiterehepaar, das durch die Arbeit nicht mehr zusammenleben kann, besonders ein Ehepaar, bei dem der Mann nachts, die Frau aber tagsüber arbeitet.)

e non si fermano MANI di aggredire

und (die Hände) hören nicht auf die Hände zuzugreifen

ININTERROTTI che vuota le ore

ununterbrochen die (dem Körper) Stunden entleert

al CORPO nuda afferano

dem Körer nackt ergreifen

quadranti, visi: e non si fermano

Zifferblätter, Gesichter: und sie hören nicht auf

guardano GUARDANO occhi fissi: occhi mani

sehen sehen starre Augen: Augen Hände

tutte le mie notti ma aridi orgasmi

alle meine Nächte aber trockene Organmen

III. TUTTA LA CITTA

TUTTA la città dai morti VIVI

die ganze Stadt von den Toten Lebende

noi continuamente PROTESTE

wir unaufhörlich protestiert

la folla cresce parla del MORTO

die Menge wächst, spricht vom Toten

la cabina detta TOMBA

die Kabine, die man Grab nennt

tagliano i tempi

die Zeiten werden zerstückelt

fabbrica come lager

Fabrik wie Konzentrationslager

UCCISI

Getötete

IV. FINALE

passeranno i mattini vergehen werden die Morgen

passeranno le angosce vergehen werden die Ängste

non sarà cosi sempre es wird nicht immer so sein

ritroverai qualcos du wirst etwas wiederfinden

Francois Bayle: Solitioude (1969) (2´15)

Solitioude ist ein Titelwort, in dem ein englisches Wort (solitude) französisch buchstabiert wird. Die Einsamkeit, von der der Titel spricht, ist diejenige des Komponisten, der allein im Studio ist und dieser Isolierung verbleibt unabhängig davon, ob er die gemütliche Musik eines Gitarristen oder den Lärm der Massen während der Pariser Maiunruhen im Jahre 1968 verarbeitet. Im einen wie im anderen Falle werden die Klänge durch die zugleich differenzierte und prägnante Montagetechnik als fiktive Klangbilder entlarvt - in einem Musikstück, das die Möglichkeiten politischer Artikulation und Funktionalisierung zugleich benennt und (selbst-)kritisch in Frage stellt.

John Stanley Body: Musik Dari Jalan (Musik der Straße) (1976) (8´20)

In seiner Musik Dari Jalan verarbeitet der neuseeländische Komponist John Stanley Body Aufnahmen, die auf indonesischen Straßen gemacht wurden. Hierzu schreibt der Komponist:

Für das abendländische Ohr sind die Straßen Indonesiens voller musikalischer Klänge. Aber die meisten dieser Klänge haben für die Indonesier eine rein funktionelle Bedeutung. Es sind die Klänge der Straßenhändler, die ihre Waren verkaufen. Manchmal sind es vokale Signale, manchmal instrumentale, aber jeder Klang gehört zu einer bestimmten Kategorie von Händlern in einer Weise, die es jedermann ermöglich, jedes Signal sogleich zu identifizieren. Eine andere Kategorie der Musik auf der Straße ist die des Straßenmusikers, der tatsächlich ein veritabler Musiker ist. Der Mann, den man fast am Ende dieses Werkes hört, ist ein Ein-Mann-Orchestermusiker, der singt und sich dabei mit einem "Anklung" (Bambus-Resonatoren, die geschüttelt werden) und einem kleinen Gong begleitet. Alle dieses Klänge erfüllen die Luft mit einer ständig sich verändernden Textur ihrer Resonanzen; es muß aber auch gesagt werden, daß, abgesehen von dem pittoresken Charm dieses lebens auf der Straße, man hier Leuten konfrontiert ist, die in äußerster Armut leben und deren Existenz immer wieder auf harte Proben gestellt wird.

1976 wurde dieses Werk auf dem 4. Internationalen Wettbewerb für Elektroakustische Musik in Bourges mit einem ersten Preis ausgezeichnet.

John Stanley Body

Jonathan Harvey: Mortuos Plango, Vivos Voco (1980) (9´)

Eine Produktion des Instituts IRCAM, Paris

Von 1975 bis 1980 war mein Sohn Dominic Chorsänger im Chor der englichsten Kathedrale Winchester. Ich schrieb viel Musik für den Chor und hörte oft bei den Proben in der riesigen Kathedrale zu, während manchmal hoch oben die Glocken läuteten. Die Resonanzen dieser Jahre fanden ihren Weg in mein erstes Auftragswerk für IRCAM.

Ich nahm die Stimme meines Sohnes auf; er sang den Text, der auf die große Tenorglocke geschrieben war: Horas avolantes numero mortuos plango vives ad preces voco. (Die verfliegenden Stunden zähle ich, die Toten beklage ich, die Lebenden rufe ich zum Gebet.)

Dann nahm ich die Glocke selbst auf. Diese Klangquellen wurden analysiert und resynthetisiert mit Hilfe der Computerprogramme CHANT und MUSIC V. Beides, die Live-Klangquellen und deren künstliche Simulationen, wurde mit dem Computer verarbeitet, oft gleichzeitig. Das unharmonische Spektrum der Glocke formiert die Harmonie des Stückes, auf der alles aufbebaut ist. Modulationen (und Modulationen innerhalb von Modulationen) werden erreicht durch Glissando-Übergänge von einem Teil des Spektrums einer Glocke zu einem anderen (höheren oder tieferen) Teil des Spektrums einer anderen Glocke. Jeder der acht Abschnitte basiert auf einer neuen "Glocken-Tonika" (diese Tonhöhen sind die acht tiefsten Teiltöne der Tenor-Glocke); jeder dieser Abschnitte hat eine Dauer, die zur Frequenz der Glocken-Tonika proportional ist.

Im allgemeinen sind die Teiltöne der Glocken statistisch im Raum verteilt und geben dem Hörer den Eindruck, sich innerhalb der Glocke zu befinden, während die Stimme des Jungen wie ein freier Geist im Konzertsaal rings herumfliegt.

Jonathan Harvey

Daniel Teruggi: FUGITIVES VOIX (1997) (16´)

Die beiden unsichtbaren Akteure der Fugitives Voix haben mir liebenswürdigerweise ihre Stimmen zur Verfügung gestellt. Die Aufnahme ist neueren Datums, aber Jean Bollery hat mit mir schon vor sieben Jahren darüber gesprochen. Anna Maria Kiefer sagte mir vor vier Jahren: "Nimm meine Stimme auf. Du wirst sicher etwas mit der Aufnahme anfangen können." Wir haben dann etliche Klänge und Sequenzen aufgenommen - mit dem meisterhaften Gesang von Anna Maria und mit der präsenten, eindringlichen Sprechstimme von Jean. Dann haben beide ihre Rollen getauscht: Jean begann zu singen und Anna Maria zu sprechen.

Danach ging es darum, Techniken zu entwickeln, mit denen sich das reichhaltige Material der aufgenommenen Klänge ausfeilen, schneiden und montieren ließ. Es kam darauf an, daß die Klangelemente, die mir für meine Arbeit wichtig erschienen, deutlich hervortreten und so zum Klangmaterial meines Stückes werden konnten. Der spektrale Reichtum der beiden Stimmen, die Virtuosität ihrer Artikulation, ihr rascher Sprachfluß ebenso wie die ausgedehnten Klangprozesse, die sie produziert hatten: das waren die Elemente, mit denen ich die Produktion meiner Klänge organisieren und kontrollieren konnte.

Digitale Hilfsmittel des GRM aus verschiedenen Produktions-Generationen standen zur Verfügung, um die Klänge für dieses Werk zu produzieren: Logiciels 123, Syter, GRM Tools 1.51, GRM Tools TDM Plug-Ins 1 und 2. Sie wurden teils unabhängig voneinander, teils kombiniert verwendet. So ergaben sich vielfältige Möglichkeiten der technischen Verzweigung, um den Klang zu formen.

Die Stimmen artikulieren sich in sieben miteinander verbundenen Momenten. Sie sind flüchtig, weil man sie kaum identifizieren kann. Diese technisch verarbeiteten Stimmen erzeugen eine musikalisch-dramatische Entwicklung, die weit hinausführt über den ursprünglichen Kontext der stimmlichen Äußerungen.

Ich möchte Anna Maria Kieffer und Jean Bollery danken für das begeisterte Engagement, mit dem sie mir ihre Stimmen "geliehen" haben. Ich gebe ihnen diese Stimmen auf meine Weise zurück: Flüchtig.

Daniel Teruggi DANIEL TERUGGI

(1952, La Plata/Argentinien)

Daniel Terugge studierte Klavier und Komposition in Argentinien und Paris. Von 1981 bis 1984 war er Assistent in der Klasse für Komposition elektroakustischer Musik und musikalische Forschung am Pariser Konservatorium. Seit 1983 koordiniert er in der Gruppe GRM die musikalische Forschung und die Produktion, deren Leiter er seit 1997 ist. Teruggi leitet ein Seminar für computergestützte Komposition an der Sorbonne.

Neben reinen Tonbandkompositionen (u. a. ETEREA, AQUATICA, FOCOLARIA; TERRA; INSTANTS D´HIVER, VARIATIONS MORPHOLOGIQUES, VOIX FUGITIVES) hat Teruggi auch "gemischte", elektroakustisch-instrumentale Musik komponiert (u. a. E COSI VIA für Klavier und Tonband; LE CERCLE für Klavier, Flöte, Klarinette und Tonband; WINDTRIP für Saxophon, Tuba und Synthesizer DX 7, XATYS für Saxophon und Syter).

Diskographie:

E COSI VIA: Wergo Computer Music Currents 8, WER 2028-2

XATYS: Musidisc 244 432 (INA c 2000)

SYRCUS - SPHAERA: Musidisc 244 722 (INA c 1014)

MANO A MANO (mit Jean Schwarz): Musidisc 244 792 (Celia Records CL 9313)

VARIATIONS MORPHOLOGIQUES: Concord Agon PV 72 5003

INSTANTS D´HIVER / SUMMER BAND: Musidisc 245 782 (INA e 5002)John Cage: ARIA (1958) - FONTANA MIX (1958) (9´)

Die Komposition Aria für Stimme (mit beliebigem Stimmumfang) (1958) kann als Solostück als Simultankomposition aufgeführt werden, letzteres gleichzeitig entweder mit einer beliebigen Zusammenstellung von Stimmen des Concert for Piano and Orchestra (1957-1958) oder mit der Tonbandkomposition Fontana Mix (1958). Die Notation stellt den Zeitablauf in der Horizontalen und die Tonhöhe in der Vertikalen dar, eher grob suggerierend als genau beschrieben. Die Beziehung zwischen Raum und Zeit ist frei. Die vokalen Linien sind in schwarz, mit oder ohne eine zu ihnen parallel laufende punktierte Linie, oder in einer oder mehreren von acht Farben gezeichnet. Diese Unterschiede stehen für zehn beliebige Singstile, die vom Sänger ausgewählt werden. Schwarze Quadrate bezeichnen beliebige unmusikalische Verwendungen der Stimme oder von Hilfs-Schallquellen. Der Text verwendet Vokale und Konsonanten und Worte aus fünf Sprachen: Armenisch, Russisch, Italienisch, Französisch und Englisch. Alle Aspekte einer Aufführung (dynamische Bezeichnungen etc.), die nicht notiert sind, dürfen vom Sänger frei bestimmt werden.

Fontana Mix ist eine 1958 in Mailand realiserte Tonbandkomposition, die auch gleichzeitig mit anderen Kompositionen (Aria, Solo for Voice 2, WBAI) aufgeführt werden kann. Dies ist eine bezogen auf ihre Aufführung unbestimmte Komposition. Es gibt zehn Blätter mit Punkten, zehn Zeichnungen mit sechs verschiedenartigen kurvigen Linien, schließlich einen Graph mit hundert horizontalen und zwanzig vertikalen Einheiten sowie eine gerade Linie auf transparentem Material. Ein Blatt mit Punkten wird (in beliebiger Position) über eine Zeichnung mit kurvigen Linien gelegt. Darüber wird der Graph gelegt, und die gerade Linie wird verwendet, um einen Punkt innerhalb des Graphs mit einem Punkt außerhalb des Graphs zu verbinden. Horizontale Messungen an Spitze und Boden des Graphs, die sich an der geraden Linie orientieren, geben eine "Zeitklammer". (Einheiten des Graphs = beliebige Zeiteinheiten). Vertikale Messungen am Graph, die sich auf die Schnittpunkte der kurvigen Linien mit der geraden Linie beziehen, spezifizieren auszuführende Aktionen, wobei die kurvigen Linien verschiedene Arten von Aktionen bezeichnen und die zwanzig vertikalen Einheiten des Graphs zwanzig Stufen derselben. In entsprechender Weise lassen sich Schallquellen, ihre mechanische Veränderung, Wechsel der Amplitude, Frequenz und Obertonstruktur, der Gebrach von Bandschleifen, besondere Arten des Bandschnittes usw. festlegen. Der Gebrauch dieses Materials ist nicht eingeschränkt auf Tonbandmusik, sondern kann in freier Weise für instrumentale, vokale und theatralische Zwecke erfolgen.

Das Tonband-Material ist 17 Minuten lang. Es kann in beliebiger Länge, länger oder kürzer verwendet werden...

Die Tonbänder können in beliebiger Weise aufgeführt werden. Im Ideallfall wird man die Partitur verwenden, um Wechsel der Zeit, Veränderungen von Frequenz und Amplitzde, den Gebrauch von Filtern und die Verteilung des Klangs im Raum festzulegen.

Die Tonbänder wurdem vom Komponisten im Stuio di Fonologia des italienischen Rundfunks in Mailand, Italien, mit der technischen Assistenz von Marino Zuccheri hergestellt.

John Cage



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