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Rudolf Frisius
ZUM PORTRÄTKONZERT WOLFGANG RIHM:
KLAVIERMUSIK AUS VIER JAHRZEHNTEN
Veröffentlichte und unveröffentlichte Klavierwerke
Die Musik, die ich für Klavier komponiert habe, ist nicht ein gesonderter Block innerhalb des Produktionsstroms. Jedes Stück nimmt auf seine Art teil an der umgebenden Problematik.
(...)
Das Klavier ist für mich auch kompositorisch bis heute Phantasierinstrument geblieben. Nicht, daß ich am Klavier komponiere. Das gibt es auch, hauptsächlich um Harmonik zu beklopfen. Aber am Klavier sitzen, bevor ich ans Papier gehe, die Musik gleichsam anfassen, das ist Einstimmung geblieben, immer wieder.
Wolfgang Rihm: Aus "Tasten" (1982)
7. April 1970 - 7. April 1999: Zwei "Rihm-Events" in Darmstadt
Am 7. April 1970 wurde im Darmstädter Justus-Liebig-Haus ein Klavierwerk eines 18jährigen Komponisten aus Karlsruhe aufgeführt:
Wolfgang Michael Rihm: Fünf Stücke für Klavier 1969
Berthold Fritz, Klavier
Die Komposition erklang in einem "Forumskonzert junger Komponisten" im Rahmen der 24. Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung. Im Programmheft fand sich folgende biografische Begleitinformation:
RIHM, Wolfgang, geb. 1952 in Karlsruhe, Gymnasiast, studiert an der Musikhochschule Karlsruhe, eigene Kompositionen: Kammermusikalische Werke, verschiedenster Besetzung, Sinfonie, Lieder, Orgelwerke.
Im Programm wechselten Klavierstücke und Ensemblestücke miteinander ab: Rihms Klavierstücke waren der zweite Klaviermusik-Beitrag nach dem Duo für einen Pianisten von Joachim Krist, das zu Beginn des Konzertes von Michael Krist "mit sich selbst über Tonband" (wie es in einer kurzen Programmnotiz hieß) gespielt wurde. Umgeben waren Rihms Stücke von zwei Werken, die schon in ihren Titel auf die damals auch in Darmstadt spürbare politische Unruhe der frühen siebziger Jahre Bezug nahmen:
Wolfgang Hamm: "Flugblätter" für Stimmen, Instrumente und Tonband
Wolfgang Hufschmidt: Konzertante Aktionen für Schlagzeuggruppen und Lautsprecher.
Gemeinschaftskomposition der Kompositionsklasse Hufschmidt
an der Folkwang Hochschule Essen
Rihms Klavierstücke hatten mit Lautsprecher und Tonband, mit Gemeinschaftskomposition oder Flugblättern wenig gemein. An seinen Widerstand gegen damals in den Vordergrund rückende politisch-ästhetische Tendenzen hat er sich auch in späteren Jahren noch erinnert, z. B. 1979 im Gespräch mit Luca Lombardi:
In Darmstadt, während der der Musikerziehung gewidmeten Frühjahrskurse (nicht der "Ferienkurse") hatte ich die ersten Aufführungen(...). Jedenfalls, während diese Stücke aufgeführt wurden, hatte ich den Eindruck, am falschen Ort zu sein, da in jener Zeit andere Dinge en vogue waren; es was 1970, und da waren Leute, die Flugblätter verteilten,während jemand auf einer elektrischen Orgel improvisierte; und so sagte ich mir: "Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder du kannst anfangen ebenfalls diese Dinge zu machen oder damit aufhören Dich gekränkt zu fühlen, und versuchen Du selbst zu sein." So kam ich zu ganz anderen Lösungen.
Auf den Tag genau 29 Jahre später, am 7. April 1999, beginnt die 53. Arbeitstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung im Zeichen Wolfgang Rihms: Das Programm der Tagung "Neue Musik 1999: Bilanz und Perspektiven" verzeichnet einen Eröffnungsvortrag des Komponisten, ein Gespräch mit Wolfgang Rihm und ein Porträtkonzert. Rihm, der 1970 auf einem Darmstädter Nachwuchsforum debütierte, kehrt 1999 als Komponist wieder, der inzwischen wesentlich dazu beigtragen hat, die Musik seiner Zeit zu verändern und weiter zu entwickelt - auch in (west-)deutschen Foren der aktuellen Musikentwicklkung wie Darmstadt (Frühjahre 1970 und 1971; 1972 wurde mit Grat für Violoncello solo erstmals ein Stück auf den Darmstädter Ferienkursen aufgeführt) und Donaueschingen (erste Rihm-Uraufführung: Morphonie - Sektor IV, 1974), mit denen Rihm seit den frühen siebziger Jahren in Berührung gekommen ist. Seitdem hat Rihm entscheidend dazu beitragen, die kompositorische Situation in seinem Lande und darüber hinaus wesentlich zu verändern: Als Exponent einer zugleich kritisch reflektierten und im kompositorischen Zugriff undogmatisch spontanen Expressivität. Erste Anzeichen seiner neuen Ansätze finden sich - verbunden noch mit Anklängen an damals übliche konstruktive Denkgewohnheiten - schon im Frühjahr 1971, als, wiederum in Darmstadt, Rihms Sätze für zwei Klaviere op. 6 (1970-1971) aufgeführt wurden. In Rihms Programmnotiz - übrigens der ältesten, die später Eingang in seine gesammelten Schriften gefunden hat - heißt es:
"Sätze" im Sinne von Gesprächsbeiträgen und -fetzen, wobei ein Dialog nicht unbedingt entsteht: Man redet oft aneinander vorbei, findet sich aber gelegentlich. Sieben Abschnitte. Freimotivisch, - zwölftönig, - seriell, - postseriell: statistisch.
Schon in diesem frühen Text wird eine Idee angedeutet, die später in Rihms Musikdenken zentrale Bedeutung gewinnen sollte: Komposition als Sprachsuche.
Frühe Klaviermusik
Vor 1970 entstand nun wirklich sehr, sehr viel fürs Klavier, wohl auch, weil ich das Instrument auf diesem Umweg mir aneignete, mir beweisen wollte, daß ich es auch mit dem großen Sarg kann.
Wolfgang Rihm (1982)
Die Klaviermusik spielt im oeuvre von Wolfgang Rihm eine wichtige, aber in ihrem Facettenreichtum nur schwer beschreibbare Rolle. Das Klavier war (wenn man von zeitweiligem kindlichem Blockflötenspiel absieht) Rihms erstes Instrument, das in der Folgezeit auch in seiner kompositorischen Arbeit eine wichtige Rolle spielen sollte - sei es als als improvisatorischer Stimulus kompositorischer Erfindung, sei es als Experimentierfeld etwa für kompositorische Erkundungen. Dennoch wäre es eine falsche, unzulässige Vereinfachung, wenn man Rihm generell als vom Klavier aus denkenden Komponisten charakterisieren wollte. Schon in seinen kompositorischen Anfangsjahren schrieb er Musik für Violoncello und Klavier, die er zusammen mit seinem Freund Thomas Rübenacker spielte. Außerdem begann er Orgel zu spielen und Orgelmusik zu komponieren. Über kammermusikalische Besetzungen hinaus gelangte er zu größeren Besetzungen. Andererseits entstanden aber auch in späteren Jahren immer wieder Klavierstücke.
Ulrich Mosch hat ermittelt, daß selbst unter den rund 160 vor 1970 entstandenen Klavierwerken nur 34 Titel sich als reine Klaviermusik klassifizieren lassen. Darunter finden sich viele Werktitel, die man aus traditioneller Klaviermusik kennt, z. B.: Bagatelle, Capriccio, Elegie, Intermezzo, Nocturne, Notturno, Praeludium, Prélude, Sonatine, Suite, Walzer. Es wäre aber voreilig, aus den Titeln schließen zu wollen, daß es sich hier durchweg um traditionelle Musik handelt. Bemerkenswert ist immerhin, daß Rihm schon 1967 mit graphischer Notation experimentiert in seinen trois bagatelles pour piano (einem Werk allerdings, das unter seinen früheren Werken durchaus als Ausnahme zu gelten hat und dem er heute, mehr als drei Jahrzehnte später, einigermaßen kritisch gegenübersteht). Aber es gibt andere Kompositionen aus jener Zeit, die ihn auch heute noch interessieren:
Sechs Préludes für Klavier (1967)
Fünf Monologe für Klavier (1968)
Klavierstück I (1968-1969)
Fünf Klavierstücke (1969)
Die frühen Klavierwerke sind über drei Jahrzehnte lang unveröffentlicht geblieben. Über sie ist in der Öffentlichkeit bisher noch weniger bekannt als über frühe Werke für andere Besetzungen, von denen einige inzwischen veröffentlicht worden sind, z. B. Orgelwerke (Contemplation per organo 1967; Drei Fantasien für Orgel, 1967; Fantasie für Orgel, 1968), Klavierlieder (Gesänge op. 1 1968, 1970), Chormusik (Crucifixus für gemischten Chor a capella 1968) oder ein 1969 entstandenes Konzert für Klavier und acht Instrumente.
Rihms frühe Klaviermusik steht, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, quer zu den aktuellen Tendenzen der damaligen Avantgarde. In seiner Geburtsstadt Karlsruhe hat er während seiner Schulzeit ein vorwiegend konservativ geprägtes Musikleben vorgefunden. Das Radio als Informationsquelle für zeitgenössische Musik hat ihn damals nicht interessiert. Um so auffallender ist es, wie stark seine Individualität schon in den frühesten Werken hervortrat und wie es ihm später immer wieder gelungen ist, neue, aktuelle Anregungen in seine Musiksprache zu integrieren, ohne jedoch dabei mit der eigenen Vergangenheit zu brechen. In seiner kompositorischen Entwicklulng unterscheidet Rihm sich insofern grundlegend von führenden Exponenten der ihm vorausgegangenen Komponistengeneration, die in den fünfziger Jahren im radikalen Bruch auch mit der eigenen Vergangenheit Geschichte gemacht haben.
Klavierstück Nr. 2 op. 8b (1971)
Rihms Klavierstück Nr. 2 wurde am 10. 12. 1971 in Karlsruhe von Gunther Hauer uraufgeführt. Als Rihm 1982 eine Zwischenbilanz seiner bis dahin entstandenen Klaviermusik zog, erschien ihm dieses Stück ferner(...), weil es strukturiertheit vorgibt und ich noch nicht den Mut hatte, die reine Zuständlichkeit von Musik anzugehen. Das Werk gehört in eine Übergangsphase, die Rihm später im Rückblick (1979 im Gespräch mit Luca Lombardi) als ambivalente Auseinandersetzung mit seriellem Konstruktivismus beschrieben hat: Wenn man sehr jung ist, glaubt man in einem System, in der Tendenz zu systematisieren, einen Rettungsanker zu sehen. Ich möchte aber unterstreichen, daß diese Willigkeit, sich den Beschränkungen eines Systems zu unterwerfen, Anzeichen einer vorkünstlerischen Situation ist, typisch für die Pubertät. Ein Künstler, der sich in dieser Weise verhält, ist noch nicht er selbst. In jener Zeit schrieb ich serielle Musik, aber gegen meine Natur. Schon für seine frühen Stücke reklamiert Rihm gleichwohl eine Position, in der sich erste Ansätze einer Alternativposition abzeichnen: Ich komponiere nicht, um eine bestimmte Technik zur Schau zu stellen.
Klavierstück ? (1974)
Ein am 6. Januar 1974 entstandenes, 13 taktiges Klavierstück führt in seinem Titel ein Fragezeichen. Dieses Fragezeichen taucht auch am Ende des Stückes wieder auf, nach dem Doppelstrich: Die Frage zielt wahrscheinlich darauf, ob am Ende dieser Seite statt des abschließenden Doppelstriches auch die Öffnung zur Fortsetzung des Stückes sehen könnte - und ob vielleicht diese Ungewißheit auch dazu beigetragen hat, daß dieses Klavierstück zunächst unveröffentlicht blieb und keine eigene Nummer bekam.
Das kurze Stück bildet sich aus wenigen Gestaltelementen. Zu Beginn erscheint ein hoher Ton in dreifacher Gestalt: Zunächst lang ausgehalten, in mittlerer Lautstärke; dann echoartig abgewandelt, leiser und etwas kürzer; schließlich als kurzer, heftiger Akzent, erweitert zu einem weit gespannten Zweiklang (eine über vier Oktavräume hinweg gespannte, "hohle" Quinte). Dem knapp akzentuierten, in der Pedalisierung nachklingenden Zweiklang folgt ein clusterartig verdichteter, wiederum scharfer Akkord-Akzent. Von diesem führt die Entwicklung zu raschen Läufen und Repetitionen. Die Repetitionen beginnen mit genau dem Ton, der einige Takte zuvor das Stück eröffnet hat; dann verdichten sie sich im Accelerando zu Oktavklängen, die Schritt für Schritt in die tiefe Lage vordringen. Der tiefe Ton, in den diese abstürzende Bewegung mündet, erklingt in extremer Lautstärke: Zunächst lang ausgehalten (wie zu Beginn des Stückes), dann als rasche Repetition (wie unmittelbar zuvor). Die folgenden Takte entwickeln sich, fortlaufend variiert, aus bereits zuvor eingeführten Gestaltelementen: Unregelmäßige Repetitionen eines tiefen Tones - scharf eingeschnittene, weit gespannte Zweiklänge - Generalpause - ein heftiger, dichter Akkord - eine neue, längere Generalpause als Stille: sehr zart, ohne Aggressivität - schließlich, durch die Pause vorbereitet, eine Figur, deren Töne sich aus den Randlagen des Klaviers aufeinander zubewegen, leise beginnend und schließlich im Ausklingen völlig verlöschend.
Klavierstück (1978)
Im Schubertjahr 1978 komponierte Wolfgang Rihm ein Werk, das im doppelten Sinne ambivalent erscheint: Erscheinung, Skizze über Schubert für neun Streicher und Klavier ad libitum. Die Ambivalenz von Annäherung und Entfernung im Verhältnis zu Schubert spiegelt sich einerseits, scheinbar äußerlich, in der Besetzung des Stückes, andererseits in der Physiognomie seiner musikalischen Gestalten:
Den Kern der Komposition bildet ein Ensemble von 9 Streichern (3 Geigen, 3 Bratschen, 3 Celli), das schon in der Zusammenstellung deutlich zu den von Schubert favorisierten Streicherbesetzungen kontrastiert - und überdies auch in der weit geschwungenen Unisono-Melodik, die schon den ersten Takten des Stückes ihr unverwechselbares Gepräge gibt.
Zu diesem Streichersatz kontrastiert ein kurzes Klaviersolo, das in einer Programmnotiz des Komponisten als in Besetzung und Tonfall schubertisch interpretiert wird: als die satellitenhafte Existenz einer Klavierbagatelle, die - moment musical - entweder vor oder nach (besser: nach) dem Stück gespielt wird". Als die Komposition Erscheinung 1978 bei einer Schubertiade in Baden-Baden uraufgeführt wurde, hat Rihm selbst dieses Klavierstück gespielt.
Das Stück (das heute in Rihms Werkverzeichnis als selbständige unveröffentlichte Komposition geführt wird) leitet sich, wie der Komponist hervorhebt, nicht von einer durch Schubert definierten Formidee her. Rihms Alternative: Es war für mich vielmehr wichtig, Schubertsche Sprachfetzen aus dem gegenwärtigen Moment heraus neuzustammeln. Dies erklärt die sparsam fragmentarische Faktur des Klaviersatzes: mit seinen bald stockend aufstrebenden und wieder zurückgebogenen, bald ausschwingend absteigenden Melodielinien, die in Schubertsche Ambivalenzen zwischen Dur und Moll geraten; mit vereinzelten abdunkelnden Baßtönen; mit getupften Akzenten, die plötzlich in einen heftigen Akkord umschlagen; schließlich im Abstieg verlöschend.
Rihm bezieht sein Klavierstück als schattenhaften Nachklang auf die lange unschubertsche Melodie, mit der der Streichersatz beginnt - auf eine Melodie, die er selbst als Beschwörungsformel bezeichnet, als Ruf, der auch zugleich ein doppelt belichtetes Porträt von Schubert und Beethoven sein könnte.
Das Stück entstand während der Dreharbeiten zu einem Schubert-Film von Thomas Rübenacker, in dem Wolfgang Rihm die Titelrolle zu spielen hatte - z. B. in einer Szene, in der er sein berühmtes Vorbild Beethoven schüchtern fragt, ob es denn noch zulässig sei, Liedformen zu komponieren... Hier zeigen sich verfremdete Anspielungen an die Aktualität eines Generationenwechsels in der (west-)
deutschen Musik der späten siebziger Jahre. Exemplarisch hierfür ist diese kleine Komposition, die scheinbar ihren Ort nicht findet: Sei es vor oder nach dem Streicher-Ensemblestück Erscheinung sei es als Klangsplitter, der sich im größeren, quasi collagierenden Zusammenhang auch im Klavierstück VI wiederfindet; sei es als vereinzelte "Bagatelle".
Klavierstück Nr. 6 (Bagatellen) (1977-1978)
Dieses Stück besteht aus kürzeren Abschnitten - Bagatellen - , deren Herkunft auf spätere und frühere Stücke verweist. Ein Nahtstück also, in dem Reflexe des gerade Komponierten in zukünftige Pläne einzucken.
(Wolfgang Rihm)
Das vielgliedrige, assoziativ vielschichtige Klavierstück Nr. 6 kontrastiert wirkungsvoll zum monumentalen Pathos des fünften und auch - trotz gemeinsamer, aber unterschiedlich ausgeprägter Affinitäten zur Klaviermusik Beethovens, die Rihm im Falles des sechsten Stückes auf Beethovens Assoziationstechnik bezieht - zur gemeißelten Wucht des siebten Klavierstückes. Das sechste Klavierstück, das am Ende einer besonders intensiven kompositorischen Arbeitsphase entstand, markiert einen Neubeginn im Klavierwerk Rihms und in seiner gesamten kompositorischen Entwicklung. In fragmentarischer Knappheit verbinden sich hier Elemente aus verschiedenen anderen Werken Rihms (vor allem aus den Hölderlin-Vertonungen und aus dem Streichtrio). Rihm bezeichnet die Kompositionstechnik dieses Stückes als ein Ausbreiten von Blättern auf einer Fläche - in mehr oder weniger ungeordneter, nur psychologisch auf sich bezogener Sichtweise. Die Schnitte und Collagen zerstören immer wieder die Ansätze eines sich breiter entfaltenden Lyrismus - wie in einem Zyklus der "Lieder ohne Worte", deren (imaginäre) Textzusammenhänge zertrümmert wären.
Klavierstück Nr. 7 (1980)
Dort ist die Auseinandersetzung mit dem Klaviersatz und der wüst-zarten Gestik des sogenannten späten Beethoven Haupttriebfeder.
(Wolfgang Rihm)
Das Klavierstück Nr. 7 zeigt eine neue Stufe in Rihms kompositorischer Arbeit. Die gesamte Formdynamik entwickelt sich hier aus einer einzigen Ausdrucksgeste: aus einem scharf akzentuierten Ton und seiner Wiederholung im leiseren, länger ausgehaltenen Nachschlag; aus einer Figur, die gleichsam "Klang und Schatten" präsentiert. Rihm hat das gesamt Stück aus dieser Figur "in einem Guß" geformt. Aber er vermeidet jegliche Andeutung von Wiederholung und Regelmäßigkeit. Das winzige "Motiv" wird immer wieder rhythmisch und melodisch abgewandelt, erweitert und in neue Zusammenhänge eingeschmolzen: melodisch ausgreifen, in immer neue rhythmische Kontrastierungen hineinführend, häufig konfrontiert mit aufblitzenden Elementen aus dem Klavierstil des späten Beethoven: mit hämmernden, schließlich sogar "krachenden" Akkordschlägen (die gleichsam die Taubheit überdröhnen sollen), mit einer kurzen, abgesangsartigen Adagio-Episode und schließlich mit einem brüsken Abschluß.
Marsch für Klavier (1979)
1979 komponierte Mauricio Kagel für sein Hörspiel "Der Tribun" einige für kleines Instrumentalensemble gesetzte Märsche. Als "autonome" Konzertmusik erhielten sie später den Titel "Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen". - Fast gleichzeitig mit den in leiser Parodierung verfremdenden Märschen Kagels entstand ein Marsch für Klavier von Wolfgang Rihm: nicht zu eilig (so die Tempoangabe in der Partitur) einsetzend in legerem f-Moll; mit einer "quadratisch" einfachen Melodie, deren Begleitakkorde mit einigen unaufgelösten Dissonanzen und verqueren Modulationen gewürzt sind. - Der 2. Teil des in einfacher Liedform disponierten Stückes beginnt wieder mit dem Thema, das jetzt, gleichsam verrutscht, auf der Subdominante einsetzt und dann, modulierend im Stolpergang, nahe und ferne Akkorde und Kadenzen durcheinanderrüttelt, so daß selbst der Reprisen-Einsatz wie eine trugschlüssige Überraschung wirkt. Die Schlußpointe des Stückes besteht darin, daß trotz mehrfacher Wiederholung (wofür Rihm einige Varianten skizziert hat) die Musik niemals wirklich ans Ende kommt: Immer wieder landet sie auf dem Halbschluß, auf dem schließlich im zweitaktigen Decrescendo die Musik verebbt: Im niente. Die Musik mündet in einem "Marsch ins Nichts" - wie eine gedämpfte, hintergründig-unaggressive Variante des "Kälbermarsches" von Hanns Eisler (der Vertonung von Brechts Parodie des Horst-Wessel-Liedes). Aber selbst dieser sich verweigernde Schluß könnte noch zur revidierbaren Variante mutieren (vergleichbar wie den bereits notierten, teilweise fragmentarischen und rätselhaften Varianten zu einigen vorausgegangenen Reprisentakten): Als Rihm (am 21. Februar 1999, anläßlich eines Vorbereitungsgespräches für die am 7. April im Darmstadt vorgesehene Aufführung) die Noten des Marsches wieder einmal in die Hände bekam und durchspielte, suchte er spontan nach Varianten: Nicht nur für den Aufbau des Stückes (Wiederholung des gesamten zweiten Teiles - nicht nur, wie notiert, der Reprise), sondern auch für den Schluß (in spielerischem Rückgriff auf vorausgegangene punktierte Begleitrhythmen). Auch diese spielerischen Varianten werfen ein Licht auf das paradoxe Erscheinungsbild des Stückes: Das Schattenbild einer paradoxen Kopplung von Liedform und offener Form, von tradierten formalen und satztechnischen Mustern und ihren Aufbrechungen in Varianten und kunstvoll destruierten Endlosschleifen.
Ländler für Klavier (1979)
Von seinem Ländler für Klavier spricht Wolfgang Rihm in einem Gespräch mit Reinhold Urmetzer, das später in seinen gesammelten Schriften unter dem Titel "Offene Stellen - Abbiegen ins Andere" veröffentlicht worden ist. Gegen das in einer Frage genannte Stichwort einer Ruinen-Ästhetik stellt Rihm die Möglichkeit, Leben dadurch zu erfahren, daß der Verlauf sich verliert, daß er woanders neu entsteht, daß er verdeckt wird von etwas anderem, das sich davorstellt, daß durch den Riß, den es annimmt, etwas ganz anderes sichtbar wird, daß man im Moment von dem, was gemeint ist, auch absehen kann. In diesem Sinne plädiert Rihm (paraphrasierend und zugleich radikal umfunktionierend anknüpfend an seinen Lehrer Karlheinz Stockhausen) für verschiedene Vollkommenheitsgrade, verschiedene Dichtegrade, verschiedene Lesbarkeiten.
Der 1979 entstandene Ländler für Klavier (ein Werk, das der Komponist später auch in einer zweiten Fassung für Streichorchester umgeformt hat) ist ein charakteristisches Beispiel für Wolfgang Rihms ambivalenten Umgang mit traditionell vorgeprägten Klangmaterialien. Das leise und zögerlich schleichende, quasi-synkopisch im Sarabandenrhythmus ritardierende Moll dieses stillen Stückes mit seinen rhythmischen Verschiebungen und harmonischen Verbiegungen wirft ein fahles Licht auf eine sich selbst in Frage stellende, von Gegenwart überschattete Illusion der Vergangenheit.
nachstudie für Klavier (1992/94)
Wolfgang Rihms Klaviermusik entwickelt sich häufig zwischen den Polen des Perkussiven und des Orchestralen. In den Jugendwerken der späten sechziger Jahre und in den Klavierstücken der siebziger Jahre spielen Solokompositionen für Klavier eine wesentliche Rolle. (Das 1969 entstandene Konzert für Klavier und acht Instrumente ist zunächst für längere Zeit ein Einzelfall geblieben.) Seit La Musique creuse le ciel - Musik für zwei Klaviere und großes Orchester (1977/1979) und dem Chiffre-Zyklus (1982/1988) erscheint der Klavierklkang häufig integriert in das Farbspektrum instrumentaler Ensembles oder des großen Orchesters - beispielsweise in der Form, daß Klavierklänge gleichsam als Klangzeichen, als sublimierte Klangspuren der Aktionen des spielenden und schreibenden Komponisten, in ein breiteres Spektrum instrumentaler Farben integriert sind. - In den neunziger Jahren ändert sich in Rihms oeuvre das Verhältnis zwischen Klavier- und Orchesterklang. Neben einer Komposition im Kontext verschiedener Gedächtnismusiken für Luigi Nono (La lugubre gondola / Das Eismeer II für zwei Orchestergruppen und zwei Klaviere, 1992-1994) entsteht ein Werk, in dem Klavier- und Orchesterklang so weitgehend miteinander verschmolzen sind, daß Rihm später eine in ihrer radikalen Paradoxie verblüffende Konsequenz daraus ziehen konnte: Die Komposition Sphère - Kontrafaktur mit Klavier-Gegenkörper für Klavier, Bläser und Schlagzeug (1992-1994) gibt es auch in einer zum Klavier-Solostück umfunktionierten Funktion unter dem Titel nachstudie (1992-1994).
Die nachstudie geht aus von knappen, clusterartigen Akzenten mit leisem Nachhall, in ziemlich tiefer Lage - unregelmäßig zuckend, sich umfärbend und ausweitend; bald auch vermischt mit kontrastierenden Tönen, die länger ausgehalten und/oder dynamisch schärfer akzentuiert erscheinen. Später erweitert sich das Spektrum mit vereinzelten dichten, terzenreichen Akkorden sowie mit Repetitionen von Akkorden, von Clustern und einzelnen Tönen. Immer wieder wird die Entwicklung aufgebrochen durch die Einführung kontrastierender Elemente: Eine kurze, schattenhaft leise Episode mit chromatisch gleitenden Dreiklängen, deren traditionelle Umrisse hier, im radikal augesplitterten Klangbild, vollkommen fremdartig wirken - erste Andeutungen melodischer Figuren - manisch repetierte an- und abschwellende Cluster - markante Repetitionen in höchster Lage - bohrende Wiederholungen des Kammertones, die anschließend zerfallen, sich in Akkorde und pendelnde Figuren auflösen - schließlich, nach vielfältigen Kontrastierungen, Rückgriffe und Umfärbungen, die - wie häufig in Schlußtakten Rihmscher Werke - umschlagen in etwas qualitativ Neues, im Stück bis dahin noch nicht Gehörtes: Zwei Töne geraten in das Knäuel eines Trillers, den dann ein letzter Schlußakzent durchschneidet.
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