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3.33.5 Musique concrète


Rudolf Frisius

MUSIQUE CONCRÈTE

I. Entwicklungslinien

II. Kompositorische Tendenzen

Diesseits und jenseits der Neuen Musik Wandlungen des musikalischen Hörens

ENTWICKLUNGSLINIEN

Z: Schaeffer: Pochette surprise (Ausschnitt Schott-CD: take 1)

55´´

Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der etikettierten Musik.

Besonders beliebt geworden sind etikettierende Unterscheidungen

zwischen dem eingängig Populären und dem sperrig Avantgardistischen.

In vielen Bereichen des Musiklebens dominiert Musik, die sich leicht einordnen läßt

und dies gilt nicht nur im Bereich der live dargebotenen,

in Aufführungen dargebotenen Musik,

sondern vor allem auch für die über Massenmedien verbreitete Musik

für Musik auf Tonträgern, für Musik in Radio, Fernsehen und Film.

Es gibt viele Musik,

zu der der Hörer sich schon nach wenigen Sekunden eine Meinung bilden kann

sei sie positiv oder auch negativ.

Z: Aus pochette: Der dritte Mann Männerstimme: Oh non, non, pas ca!

4´´ - 12´´ (anfangen nach "Voulez vous... pochette surprise?")

Musik, die sich schon nach wenigen Sekunden identifizieren läßt,

macht es dem Hörer einfacht:

Er kann sich ziemlich leicht vorstellen, wie es weitergeht.

Wenn keine größeren Überraschungen zu erwarten sind,

erleichtert ihm das die rasche Urteilsbildung.

Insofern ist er selbst dann zufrieden,

wenn er rasch herausfindet, daß die Musik nicht nach seinem Geschmack ist.

Dies zeigt eine kleine Hörszene aus den frühen fünfziger Jahren:

Ein Hit aus der damaligen Zeit wird angespielt:

Musik zum Film "Der dritte Mann."

Dann meldet sich ein französischer Hörer mit gehobenem Durchschnittsgeschmack:

Diese Musik ist ihm offensichtlich zu vordergründig populär, zu vulgär.

Die Fortsetzung der Szene zeigt dann aber,

daß auch das andere Extrem ihm nicht gefällt:

Eine radikal avantgardistische Musik.

Z: Fortsetzung pochette: Antiphonie Männerstimme:... ce n´est pas possible!

12´´-20´´

Pierre Schaeffer, der französische Radiopionier, zeigt in einer kleinen Hörszene,

daß Musik des 20. Jahrhunderts auch in extrem unterschiedlichen Erscheinungsformen

sich oft für einfache Etikettierungen anbietet.

Unter dieser Perspektive erscheinen marktgängige Massenmusik

und experimentelle Avantgardemusik wie zwei Seiten derselben Medaille

zumindest dann, wenn im einen wie im anderen Falle

die Musik so weitergeht, wie sie angefangen hat;

wenn der Hörer also rasch das passende Etikett finden

und sich seine Meinung dazu bilden kann.

Der Schauspieler Jean Toscane, der in diesem Hörspot die Rolle des Radiohörers spielt,

ist erst dann zufrieden, als traditionelle Musik erklingt:

Ein französisches Volkslied,

gesungen von einer Belcanto-Sängerin mit Klavierbegleitung,

findet sein uneingeschränktes Lob.

Es ist das erste Musikbeispiel, das nicht unter Protest abgebrochen wird, sondern sich fortsetzt.

Allerdings verändert sich die Musik:

Zuerst wird das Lied kurz variiert.

Dann wechselt die Musik:

Man hört hohe, zwitschernde Klänge, die anders sind als alles vorher Gehörte.

Pierre Schaeffer fragt seinen Hörer, ob ihm nun diese Klänge gefallen oder nicht.

Z: pochette Ah vous dirai-je maman, Melodie Variation; hoch zwitschernde konkrete Klänge

Frage Schaeffer: ... plaisant ou non?

20´´ - 55´´

Pierre Schaeffer ist ein Pionier

neuer Radiokunst und einer neuen, mit radiophonen Mitteln arbeitenden neuen Musik.

Voreilige Etikettierungen, denen solche und andere Musik oft ausgesetzt ist,

greift er auf, um sie in Frage zu stellen.

Deswegen interessiert er sich auch für Klänge und Klangstrukturen,

die sich nicht ohne weiteres einordnen lassen

für Musik, der man längere Zeit zuhören muß, um ihr Wesen zu ergründen;

für Musik jenseits der Abgrenzungen zwischem dem Populären und dem Avantgardistischen,

zwischen dem Altvertrauten und Neuartigen.

Seit den vierziger Jahren hat er maßgeblich dazu beigetragen,

die musikalische Erfindung und das Hören von Musik

im Zeitalter des Lautsprechers grundlegend zu verändern.

Die neuartige Lautsprechermusik, die er produzierte,

hat ihn immer wieder dazu angeregt,

Neues genauer zu erforschen auch im Vergleich mit dem scheinbar Wohlbekannten.

In seiner letzten Komposition, die 1979 entstanden ist, ging er so weit,

seine eigenen Klänge zu infiltrieren in ein Präludium von Johann Sebastian Bach.

Z: Bilude CD Schott take 2, 2´15

"Bilude" ist eine Komposition für Klavier und Tonband.

Das Stück beginnt mit vier (vom Tonband erklingenden) Metronomschlägen,

die dem Pianisten den Takt angeben sollen.

Er beginnt, ein bekanntes Musikstück zu spielen:

Das c-moll-Präludium aus dem ersten Teil

des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach.

Er spielt zwei Takte und bricht dann ab.

Danach setzt das Tonband ein:

Man hört die zwei folgenden Takte

allerdings nicht auf dem Klavier, sondern auf dem Cembalo.

Wenn das Stück im Konzertsaal aufgeführt wird,

antwortet dem sichtbaren Klavierspieler also ein unsichtbarer Cembalospieler.

Dem live-Spiel auf dem modernen Klavier

folgt technisch konserviertes Spiel auf einem historischen Instrument, dem Cembalo.

Z: Bilude Anfang, Takt 1-4: 2 Takte Klavier 2 Takte Cembalo

0´´ (oder erst nach 4. Metronomschlag bei 2´´ beginnen) 12´´

Wechsel zwischen Klavier und Tonband finden sich auch im weiteren Verlauf,

jetzt aber in kürzeren Abständen, von Takt zu Takt.

Vom Tonband sind jetzt nicht Cembaloklänge zu hören,

sondern technisch verfremdete, gleichsam verwackelte Klavierklänge.

Z: Bilude Fortsetzung mit taktweisem Wechsel, T. 5-8: Klavier live verwackelt, live verwackelt

13´´ - 23´´

Im Tonbandpart wird deutlich, daß die Musik sich von den live-Klängen entfernt:

Zu hören sind nicht gespielte, sondern technisch aufzeichnete, aufgenommene Klänge.

Im Folgenden wird dies noch deutlicher,

wenn die Musik sich mehr und mehr von Bachs Tonstrukturen löst

und wenn dann in Bachs Rhythmen nicht mehr Töne,

sondern verfremdete Töne oder schließlich Geräusche zu hören sind:

In zunehmend kürzeren Abständen;

mit zunehmend stärker hervortretenden Tonband-Einschüben,

die bald länger werden als die Klavier-Fragmente

und schließlich sogar gleichzeitig zu hören sind.

Z: Bilude, Fortsetzung mit verfremdeten Tönen und Geräuschen,

bis 1. Zäsurton auf Orgelpunkt (ausblenden auf klappernden Stäben)

24´´ - 1´12

Sobald die aufgenommenen Geräusche gleichzeitig mit dem live-Klavierspiel zu hören sind, lösen sie sich endgültig vom Rhythmus des Bach-Präludiums:

Gleichzeitig mit der Steigerung, die in Bachs Präludium zu einem Orgelpunktton führt,

hört man sich beschleunigende Klänge eines Blechtellers.

Später werden die Geräusche noch wichtiger,

da sie die Musik nicht nur überlagern, sondern auch dabei verändern:

Jedes Mal, wenn der Orgelpunktton erreicht ist,

bleibt die Musik stehen,

und der ausgehaltene Klavierton überlagert sich dann mit Tonbandklängen.

Z: Bilude, Hinführung zum Orgelpunktton, umspielter Orgelpunkt

(ausblenden vor Einsatz der Stretta über ausgehaltenem Orgelpunktton),

accelerierend rotierender Blechteller

Tonbandeinschübe klappernder Stab, Impulse, mex. Flöte, Eisenbahn

53´´ (f-moll) bis vor Stretta 1´35

Die Tonbandklänge, die Schaeffer in Bachs Präludium einschiebt, sind Ausschnitte aus seinen eigenen Kompositionen zum Beispiel aus seiner ersten Lautsprechermusik aus dem Jahre 1948:

Etude aux chemins de fer Eisenbahn-Etüde.

Z: Etude aux chemins de fer, Schott take 5 (oder CD-Album Schaeffer)

von Anfang bis zum 2. Pfeifsignal bei 0´55

Das Stück beginnt scheinbar realistisch, wie ein Hörfilm:

Man hört einen Pfiff, dann eine anfahrende Dampflok.

Z: Eisenbahnetüde

Pfiff anfahrende Dampflok

0´´ - 0´15

Die Hörszene wird beendet durch einen Schnitt.

Anschließend hört man das Geräusch fahrender Waggons -

also andersartige Eisenbahnklänge, aufgenommen aus einer anderen Perspektive.

Z: Eisenbahnetüde

Fortsetzung: zusammenhängendes Waggon-Geräusch

16´´ - 21´´

Wenn diese beiden Hörszenen aneinandermontiert werden,

entsteht eine einfache Montagestruktur:

Die erste Einstellung zeigt, gleichsam als Außenaufnahme vom Bahnhof aus, den anfahrenden Zug;

die zweite Sequenz präsentiert, gleichsam als Innenaufnahme im Zug, den Zug in Fahrt.

Z: Eisenbahnetüde: Montagestruktur Anfahren (Dampflok) Zug in Fahrt (Waggongeräusche)

0´´ - 21´´

Im größeren Zusammenhang des Stückes wird deutlich,

daß die Aufmerksamkeit des Hörers sich Schritt für Schritt verlagern kann,

von realen, hörspielartigen Geräuschen zu eher musikalischen Klangstrukturen.

Dieser Prozeß wird vor allem dadurch deutlich,

daß sich die Montage-Einheiten Schritt für Schritt verkürzen:

Man hört über längere Zeit hinweg, wie die Lok anfährt.

Dann hört man für kürzere Zeit Waggongeräusche des fahrenden Zuges.

Wer Populäres liebt und gleichwohl einen gehobenen Geschmack beansprucht,

entscheidet sich gern für avantgardistische Musik früherer Jahrhunderte,

die im Laufe der Jahrhunderte sich ein größeres Publikum

Z: Ruttmann Weekend

Anfang bis Gesangsübungen C-Des und Männerstimme "Aber Fräulein!"

oder:

Z: Schaeffer Etude pathétique Ausschnitt (Anfang oder evtl. Schluß)

Ausschnittlänge je nach Sendezeit

Was ist MUSIQUE CONCRÈTE?

Seit wann gibt es diese Musik?

Wie hat sie sich von ihren Anfängen bis heute entwickelt?

MUSIQUE CONCRÈTE heißt auf deutsch "Konkrete Musik".

Dennoch wird auch im deutschen Sprachraum

diese Musik häufig mit ihrem französischen Namen verwendet.

Er gilt vielerorts als Indiz dafür, daß diese Musik

besonders eng mit der französischen Musikentwicklung im 20. Jahrhundert verbunden ist

und dies nicht nur deswegen, weil sie dort entstanden ist,

sondern auch deswegen, weil sie womöglich in diesem Lande

von ihren Anfangsjahren bis heute eine besondere Rolle gespielt hat.

Die Bezeichnung "Musique concrète"

stammt von dem französischen Radiopionier Pierre Schaeffer.

Mit diesem Namen wollte er eine neue Musikart bezeichnen,

die er selbst 1948 mit einigen Radiostücken begründet hatte.

Diesen Stücken gab er den zusammenfassenden Titel

"Etudes de bruits" ("Geräusch-Etüden").

Von herkömmlich komponierter Musik unterscheiden sich diese Etüden dadurch,

daß sie nicht als Partitur fixiert sind, die von Interpreten ausgeführt werden muß,

sondern daß der Komponist selbst sie im Studio klanglich realisiert.

Diesen neuen Ansatz des Komponierens beschreibt Schaeffer

als radikalen Perspektivwechsel als Übergang von der abstrakten zur konkreten Musik.

In einem 1949 entstandenen theoretischen Text schreibt er:

Die beiden musikalischen Haltungen, die abstrakte und die konkrete,

lassen sich in exaktem Vergleich einander gegenüberstellen.

Wir wenden das Wort ´abstrakt´ auf die Musik im gewohnten Sinne an,

weil sie zuerst eine geistige Schöpfung ist,

dann theoretisch notiert wird

und schließlich in einer instrumentalen Aufführung ihre praktische Realisierung erfährt.

Unsere Musik haben wir ´konkret´ genannt,

weil sie auf vorherbestehenden, entlehnten Elementn einerlei welchen Materials

seien es Geräusche oder musikalische Klänge fußt

und dann experimentell zusammengesetzt wird

aufgrund einer unmittelbaren, nicht-theoretischen Konstruktion,

die darauf abzielt,

ein kompositorisches Vorhaben

ohne Zuzilfenahme der gewohnten Notation, die unmöglich geworden ist, zu realisieren.

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