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Rudolf Frisius
Über Pierre Henry und seine Hörspielmusiken zu Friederike Mayröckers "Schubertnotizen"
Pierre Henry, Jahrgang 1927, ist einer der wichtigsten Exponenten der technisch produzierten Musik. Zusammen mit Pierre Schaeffer, dem Begründer der musique concrète (einer Musik der aufgenommenen und technisch manipulierten Geräusche, Instrumentalklänge und Stimmlaute), brachte er 1950 die "Sinfonie pour un homme seul" (Symphonie für einen einsamen Menschen) zur Uraufführung - eine Geräuschsymphonie der Laute menschlicher Einsamkeit, Angst und Obsession; ein Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts, das später nicht zuletzt durch eine aufsehenerregende Ballettversion Maurice Béjarts auch weit über den Bereich der Neuen Musik hinaus bekannt werden sollte. Ebenfalls in Zusammenarbeit mit Schaeffer präsentierte Henry drei Jahr später auf den Donaueschinger Musiktagen das Projekt "Orphée 53", das damals einen heftigen Skandal provozierte. Der Finalsatz "Le Voile d´Orphée", Henrys wichtigster Beitrag zu diesem Gemeinschaftswerk, gehört, in der Synthese aufgenommener Sprache (eines griechisch rezitierten Zeus-Hymnus) mit technisch produzierten Klangflächen und Klangbewegungen, zu den ersten und wichtigsten Beispielen "symphonischer" elektroakustischer Musik. Noch weiter ging Henry 1956 in seiner Ballettmusik "Haut Voltage": Sowohl die nonverbalen Stimmlaute als auch alle übrigen aufgenommen Klänge sind technisch so weitgehend verarbeitet, daß ihre ursprüngliche Herkunft kaum noch zu erkennen ist und daß das Ohr sie bisweilen kaum noch von rein synthetisch erzeugten, elektronischen Klängen unterscheiden kann. Auch in seinen späteren Produktionen hat Henry immer neue Möglichkeiten gefunden, im breiten Spektrum zwischen aufgenommenen, aus der Erfahrung bekannten Realklängen und völlig neuartigen synthetischen Klängen immer wieder neue Gestaltungsprinzipien und Ausdrucksmöglichkeiten zu entdecken - sei es in rein elektronischen Klangstrukturen, sei es in origineller kompositorischer Umfunktionierung von Alltagsklänge (etwa das Quietschen einer Tür in den 1963 realisierten "Variations pour une porte et un soupir"), sei es in der Arbeit mit aufgenommen Geräuschen, Stimmen und Instrumenten oder mit vorgefundener Musik (z. B. präpariertes Klavier in "Le microphone bien tempéré", 1951-1952; ein einziger gesungener Ton in "Vocalises", 1952; nonverbale Stimmaufnahmen mit dem konkreten Poeten Francois Dufrène in "Granulométrie", 1962; Fragmente aus allen neun Symphonien Beethovens in "La dixième Sinfonie de Beethoven", 1979/1986). Seit den frühen fünfziger Jahren arbeitet Henry am Aufbau eines universellen Klangarchivs mit vorgefundenen, technisch manipulierten oder neu produzierten Klängen, das besonders seit den siebziger Jahren zu seiner wichtigsten Materialquelle geworden ist: 1976 zog er eine erste Bilanz seines Schaffens mit 12 thematisch strukturierten Konzerten, in denen unter Themen wie "Das Leben", "Der Tanz", "Der Krieg", "Die Harmonie" oder "Der Tod" Ausschnitte nicht nur aus zuvor entstandenen Werken, sondern auch Einzelklänge und fragmentarische Klangstrukturen (einschließlich Ausschnitte aus "angewandter" Musik, z. B. aus Henrys zahlreichen Filmmusiken) durch Montage und Mischung in neuartige kompositorische Zusammenhänge eingeschmolzen waren. Wichtige Beispiele seiner neueren Klangkunst finden sich unter den seit den achtziger Jahren für das Hörspielstudio und das Studio für Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks produzierten Arbeiten (z. B. "Journal de mes sons / Tagebuch meiner Töne" und "La Ville / Die Stadt").
1994 entstanden, als Hörspielmusik zu den "Schubertnotizen" von Friederike Mayröcker, zwei Versionen einer Montage, in deren Zentrum Fragmente aus Kammermusikwerken Schuberts stehen: "Phrases de quatuor I et II". Beide Versionen entstehen aus der Aneinanderreihung kurzer Sequenzen, denen Henry assoziationsträchtige Titel gibt:
Phrases de quatour I (14´09)
Rumeur (Stimmengewirr) (1´24) - Berceuse (Wiegenlied) (1´20) - Tristesse (Trauer) (1´30) - Tendresse et passion (Zärtlichkeit und Leidenschaft) (1´31) - Inquiétude (Unruhe) (1´08) - Drame (Drama) (34´´) - Douleur et apaisement (Schmerz und Beruhigung) (2´13) - Reve (Traum) (2´40) - Mort (Tod) (1´42)
Phrases de quatuor II (13´03)
Nouvelles phrases (Neue Phrasen) (1´26) - Apparitions (Erscheinungen) (1´23) - Fragment de vie I (Fragment des Lebens I) (1´31) - Orage (Gewitter, Sturm, Unheil) (1´31) - Fragment de vie II (1´06) - Eloignement (Entfernung) (1´25) - Fragment de vie III (50´´) - Mort (Tod) (1´24)
Die beiden Versionen Henrys unterscheiden sich vor allem dadurch, daß die erste Version sich auf die Konfrontation verschiedener Musikausschnitte konzentriert, während in der zweiten Version überdies auch Geräusche eine wichtige Rolle spielen. Als Basis seiner Montagestrukturen hat Henry aus Friederike Mayröckers Text verschiedene "termes acoustiques", d. h. auf Akustisches anspielende oder zur akustischen Ausmalung inspirierende Wendungen ausgewählt, zum Beispiel in folgender Weise:
"am 11. November muszte er sich zu Bette legen,
von Zeit zu Zeit fiel er in Delirien
während welcher er beständig sang.
Die wenigen lichten Zwischenräume benutzte er noch zum
Korrigieren des zweiten Teils der Winterreise.
am 19., 3 Uhr nachmittags entschlummerte er"
Josef von Spaun "Über Schubert"
wenn man stark gegen die Vulkane steht oder gegen Sonnenstrahl.
Wir sind ja über das Blau verbunden, liebe Caroline,
die Glyzinienblüten im Fenster rotviolett,
Ihr Brief liegt regenfeucht in meiner Hand,
ich schreibe auf einem Stapel anderer Briefe die ich heute bekommen habe
und es treibt mir die Tränen hervor was ich
herübergefirmt oder mit kirschroten Ohren,
während das Tännchen des Schachtelhalmkrautes
zur Sänftigung: Stillung der Schmerzen dient.
Sie sind wie ein Geist und immer verschwunden,
mit einem Cello im Arm und Efeuranken um Brust und Wange,
ein Baum womöglich am Wasser gepflanzt OHNE UNTERLASZ,
und oft denke ich,
wenn wir einander nicht mehr sehen können,
weil einer von uns beiden diese Welt verläszt,
wir einander nie wirklich gekannt haben würden,
es war wohl auch ein rascher Zufall oder Idee
Mein wollenes Skript, diese Notenpapierschnitte an meinen Fingern
heilen womöglich wochenlang nicht,
so dasz mir das TASTENTRETEN arge Schmerzen bereitet,
die letzten Sachen habe ich gekritzelt
auf das herausgerissene Vorsatzblatt von Shakespeares "Cymbeline".
Obwohl die Coda schon abgeschlossen ist,
wird noch ein Horn blasen wie aus weiter Ferne,
nämlich als ob es aus weiter Ferne tönend, die vorangegangene Schluszsequenz korrigieren wollte,
die pochenden Zweiunddreiszigstel haben mirs angetan,
pistazienfarben, ich meine Himmelslamellen an einem feurigen Frühwintermorgen,
mit den schneeüberwehten Dächern, und Stürme.
In beiden Versionen verwendet Henry kurze Ausschnitte aus zwei Streicher-Kammermusikwerken Schuberts: 25 Ausschnitte (Gesamtlänge: 3´49) aus dem Quartettsatz c-moll op. posth. (D 703) und 24 Ausschnitte (Gesamtlänge: 3´54) aus dem Streichquintett C-Dur op. 163 (D 956). In der ersten Version sind es 25 Ausschnitte aus dem Quartettsatz und 24 Ausschnitte aus dem Quintett (mit Dauern zwischen einer halben und einer Minute); Henry konfrontiert diese kurzen Bruchstücke mit Fragmenten von Alban Berg (Wozzeck, II. Akt, Anfang der 5. Szene), Maurice Ravel (Rhapsodie espagnole, I. Prélude à la nuit), Camille Saint-Saens (Karneval der Tiere, Introduktion), César Franck (Klavierquintett, 3. Satz) und Claude Debussy (Jeux, Anfang; La mer, 2. Satz Jeux de vagues (Spiel der Wellen) und 3. Satz Dialogue du vent et de la mer (Dialog des Windes und des Meeres); Pelléas et Mélisande, I. Akt, 1. Szene Ende; II. Akt, 1. Szene Ende; III. Akt, 1. Szene Anfang, 2. Szene Schluß; V. Akt Anfang). - In der zweiten Version finden sich wesentlich kürzere Musikausschnitte, und zwar nicht nur aus den genannten Werken Schuberts (Gesamtlängen: 1´05 bzw. 48´´), sondern auch aus Werken von anderen, ebenfalls in der 1. Version zitierten Komponisten: Berg (Wozzeck, III. Akt, 4. Szene), Ravel (Chansons madécasses, Trois poèmes de Stéphane Mallarmé, La Valse Rhapsodie espagnole IV. Habanera), Saint-Saens (Karneval der Tiere, Danse macabre) und Debussy (Pelléas et Mélisande).
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