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4.10.1 VORW95.DOC


Vorwort

"Musik und Technik" war das Thema der 49. Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, die vom 3. bis 8. April 1995 in Darmstadt stattgefunden hat. Der vorliegende Band enthält die Texte der Kongreßreferate (Rudolf Frisius, Gottfried Michael Koenig, Diedrich Diedrichsen, Klaus Schöning, Helga de la Motte-Haber) sowie schriftliche Zusammenfassungen von Vorträgen und Seminaren unter analytisch-musikpädagogischen, technologiegeschichtlichen und kompositionsästhetischen Aspekten (Alexander Schwan, Elena Ungeheuer/Pascal Decroupet, Johannes Goebel, Jean-Claude Risset). Die Textbeiträge zum ausführlichen Programmheft erscheinen in den "Feedback Papers", wofür deren Herausgeber Johannes Fritsch an dieser Stelle herzlich gedankt sei; das Programmheft selbst ist erhältlich über das Sekretariat des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (Grafenstraße 35, 64 283 Darmstadt).

In Beiträgen, die sowohl die Praxis der Studioarbeit als auch kompositionstechnische und kompositionsästhetische Probleme reflektieren, äußern sich zwei Autoren,d ie sowohl in Kompositionen als auch in theoretischen Arbeiten maßgebliche Beiträge zur Entwicklung und Erforschung der elektroakustischen Musik geleistet haben: Gottfried Michael Koenig und Jean-Claude Risset.

Gottfried Michael Koenig, dessen Beitrag auch als Bilanz seiner in bisher drei Bänden gesammelten theoretischen Schriften gelesen werden kann (Ästhetische Praxis. Texte zur Musik Band 1-3. Saarbrücken 1991, 1992, 1993), konzentriert sich auf grundlegende Veränderungen des Musikdenkens, die sich unter dem Einfluß der Elektronischen Musik (einschließlich der von ihr geprägten Computermusik) vollzogen haben - Veränderungen, die man im Sinne von Koenig entweder als radikale Wandlung und Neubestimmung oder als vollständige Auflösung des instrumentalen Denkens bezeichnen könnte. Die Frage, die Koenig im Thema seines Referates stellt, läßt verschiedene Antworten offen: "Hat Technik die Musik von ihren Instrumenten befreit?" Wie schwierig diese Frage zu beantworten ist, sagt Koenig selbst im Zentrum seines Textes: "Statt zu sagen, die Technik habe die Musik von den Instrumenten befreit, müßte man eigentlich sagen, die Instrumente seien in die Musik hineingezwungen worden" (S. 18). - Koenigs Frage nach der Funktion des Instrumentes bzw. des Instrumentalen in der Elektronischen Musik geht aus von der seriell geprägten Elektronischen Musik der fünfziger Jahre, führt aber auch über diese hinaus zu aus ihnen entwickelten Ansätzen der Computermusik. Koenig selbst äußerte sich hierzu im Vorprospekt der Darmstädter Tagung, wo er ein sein Kongreßreferat begleitendes Seminar mit folgenden Worten ankündigte: "Elektronische und Computermusik hängen technisch insofern zusammen, als mit einem Computer studiotypische Klänge erzeugt werden können. Weiterführende Zusammenhänge ergeben sich für Komponisten, die die Erfahrungen mit elektronischer Musik für Computer fruchtbar machen und die Musik noch von den Studios befreien, wie schon die Studios die Musik von ihren Instrumenten befreit haben." In dieser Perspektive erscheint die aus dem seriellen Musikdenken hervorgegangene Elektronische Musik, an deren Entwicklung Koenig als Realisator und Komponist in den fünfziger und sechziger Jahren maßgeblich beteiligt war, als Zwischenstadium auf dem Wege zu einer radikalen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen klanglichen Mitteln und kompositorischer Vorstellung.

Das kompositorische und musiktheoretische Denken Koenigs ließe sich beschreiben als Versuch der algoithmischen Verallgemeinerung von Ansätzen der seriellen Musik, wie sie seit den fünfziger Jahren entwickelt wurden und auch für die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte bedeutsam geblieben sind. Jean Risset hingegen orientiert sich als Komponist und Theoretiker eher an der Diversität und scheinbaren Unvereinbarkeit verschiedener Ansätze, die seit den sechziger Jahren in der aktuellen Musikentwicklung immer deutlicher hervorgetreten sind. Ihn interessieren Spannungsverhältnisse zwischen akustisch-musikpsychologischen Entdeckungen und auf ihnen basierenden künstlerischen Gestaltungsideen, zwischen synthetischer Klangproduktion und Live-Musikpraxis, zwischen konkreten und elektronischen Klangstrukturen, zwischen technisch vorproduzierten und in interaktiven Prozessen live erzeugten Klängen. - Rissets Beitrag läßt sich lesen als Einführung nicht nur in sein facettenreiches kompositorisches Schaffen, sondern auch in das breite Spektrum seiner (bisher leider noch nicht gesammelt edierten) musiktheoretischen Arbeiten. Sein Text ist eine schriftliche Ausarbeitung frei gesprochener Erläuterungen im Darmstädter Eröffnungskonzert am 3. 4. 1995 (in dem von Risset die deutsche Erstaufführung der Tonbandkomposition "Invisible Irene" sowie Werke für interaktives Klavier zu hören waren) sowie eines Vortrags, der am 4. 4. gehalten wurde unter dem Titel: "Imitation of instruments, sound paradoxes and composition of sounds: the musical rol of the computer in my music".

Die Kongreßreferate konzentrieren sich auf Aspekte sowohl der Rezeption und Vermittlung technisch produzierter Musik (Eröffnungsvortrag Rudolf Frisius) als auch der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Material und Realisation (Abschlußvortrag Helga de la Motte-Haber) sowie - in verschiedenen Ansätzen der Verbindung beider Aspekte - auf Perspektiven eines Verständnisses technisch produzierter Musik, die einerseits die Frage aufwerfen, ob diese Musik als Kontrastmodell zur tradierten Instrumentalmusik definiert werden muß (Gottfried Michael Koenig), und die andererseits tradierte Beschränkungen auf den Bereich des autonomen musikalischen Kunstwerkes aufbrechen in der Öffnung zur Popularmusik (Diedrich Diedrichsen) oder zur Akustischen Kunst (Klaus Schöning).

Die schriftlichen Ausarbeitungen der Seminare von Elena Ungeheuer/Pascal Decroupet, von Alexander Schwan und Johannes Goebel beleuchten unter verschiedenen Aspekten technische und musikalische Aspekte in der Entwicklung der elektroakustischen Musik seit den fünfziger Jahren. Elena Ungeheuer und Pascal Decroupet konzentrieren sich auf Aspekte der seriell geprägten Elektronischen Musik der fünfziger und frühen sechziger Jahre, die sich an akustischen Arbeitsmaterialien ("Rohklängen") und an Kompositionsskizzen genauer studieren lassen und die bisherige Möglichkeiten der Analyse konstruktiv determinierter Musik so erweitern, daß sie sich auch für die Analyse von Musik nutzen lassen, zu der es keine im traditionellen Sinne vollständig fixierte Partitur gibt. Im Vorprospekt und im Programmheft der Tagung haben dies beide Autoren in der Ankündigung von fünf Seminaren zum Thema "Technik und Ästhetik der elektronischen Musik" darauf Bezug genommen, indem sie "die musikalischen Vorstellungen und die technischen Bediungen elektronischer Klangkompositionen... in ihrer gegenseitigen Bedingung" thematisierten und deren Untersuchung "anhand von Werken und Realisationsmaterialien (Arbeitstonbänder, Skizzen, Texte)" annoncierten. - Andere Wege der Analyse elektroakustischer Musik, in denen technische Möglichkeiten auch für die Analyse selbst nutzbar gemacht werden, zeigt Alexander Schwan in Beitrag auf. Sein Beitrag ist die schriftliche Ausarbeitung von drei Seminaren zum Thema "Medienpraktische Arbeit an digitalen Geräten", in denen neue Aspekte der medienpraktischen Musikanalyse und der medienpraktisch orientierten Musikpraxis in der Musikpädagogik behandelt wurden. - Der Beitrag von Johannes Goebel ist die Schriftfassung eines Seminars, das in Vorprospekt und Programmheft der Darmstädter Tagung mit folgendem Untertitel angekündigt war: "Vom technisch Machbaren zum musikalisch Wünschenswerten - und zurück". Im Vorprospekt fragte Goebel: "Digital scheint alles möglich - doch wie weit reicht unsere Vorstellungskraft?" Im Programmheft konkretisierte er seine Skepsis: "... Es klingt oft so, als sei das Interesse an Klangfarben, die nicht die von akustischen Instrumenten simulieren, recht erschöpft. Sind die Ohren erschöpft, weil sie nicht differenziert genug ´bedient´ werden? Sind die Komponisten erschöpft, weil sie von Technik die Nase voll haben? Greifen deshalb Musiker lieber zu vorgegebenen Farben aus der Industriepalette? Sind wir überfordert, weil wir nicht definieren können, was uns vorschwebt? Hat unsere Phantasie nicht genügend Erfahrung, auf der sie aufbauen kann?" Noch weiter ins Detail geht Goebel gleich zu Beginn seines Beitrages, den er mit fünf Thesen eröffnet. In der dritten These heißt es: "Schon in den späten 50er und 60er Jahren wurden die damals vorhandenen technischen Möglichkeiten musikalisch genutzt. Das musikalisch-akustische Potential dieser Techniken hat sich seit 20 Jahren nicht verändert; es ist aber auch heute noch nicht ansatzweise ausgeschöpft." Diese Sätze umschreiben, was einen Kongreß und eine Tagung zum Thema "Musik und Technik" auch und gerade im Jahre 1995 interessant erscheinen lassen könnte: Der Blick auf bisher Erreichtes nicht im Sinne steriler Nostalgie, sondern mit dem Blick auf die Gegenwart und auf das in ihr noch nicht Erreichte.
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