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Rudolf Frisius: Bernard Parmegiani, Bidule en ré. 20´01´´- 29´21
Z: Bidule en ré vollständig
Die Geburt von Klängen, Stimmlauten und Musik aus dem Geiste und aus dem Geräuschdekor der Schallplatte: Mit solchen oder ähnlichen Schlagworten könnte man die Grundidee eines Tonbandstückes beschreiben, das Bernard Parmegiani im Jahre 1969 realisiert hat: "Bidule en ré", "Dingsda in D".
Das Stück beginnt mit den Geräuschen knisternder Schallplatten - mit einer dichten, innerlich belebten Geräuschfläche, auf deren Untergrund nach einiger Zeit auch Konturen einzelner, deutlich profilierter Klänge erkennbar werden.
Z: Anfang:
Knistern - einzelne auf diesen Grund aufgesetzte, stärker "figürliche", gestalthafte Klänge
bis 2. Jauler: 20´01 bis nach 20´55
Der erste Teil des Stückes zeigt, ausgehend vom Grundrauschen und Knistern der Schallplatte, die Entstehung des Geräusches. Er endet abrupt, und es folgt ein zweiter Teil, in dessen Verlauf sich Stimm- und Sprachlaute bilden.
Z: Schluß 1. Teil - Anfang 2. Teil
mit crescendo-Akzent bei 23´34, neuer Klangfläche ab 23´39, bis Akzent 24´21 (2. evtl. 3 Akz.)
(evtl., je nach Sendezeit, eher anfangen, früher oder später ausblenden)
Auch der zweite Teil endet abrupt, und im dritten Teil treten wiederum andersartige Klangmaterialien in den Vordergrund: Es beginnt mit Klavierklängen - zunächst im originalen Klangbild, danach durch Präparation klanglich verfremdet, sich annähernd an das Timbre technisch produzierter Klänge.
Z: 2. Teil 2 Schlußakzente (ab 25´34) - 3. Teil (ab 25´48) bis 1. Akzent (ausblenden ab 26´13, ca. bis 26´18, bei Ausblenden auf Verschwinden des Baßtones achten)
2 Schlußakzente - neue Klangfläche mit Klavier bis hoher, ausklingender Akzent
Den Schluß des Stückes bildet eine Apotheose der brillanten Geschwindigkeit - eine Stretta mit künstlicher verfremdeter Klaviermusik, die in einem kräftigen Abschlußakzent mündet.
Z: Stretta 28´30 - 29´29 (Schlußakzent) (beginnend mit Klavier-Repetitionen)
Bernard Parmegiani bezeichnet sein Stück als Huldigung an die Anfänge der "musique concrète" und an ihre beiden Pioniere: An Pierre Schaeffer, der 1948 mit einigen Schallplattencollagen (sogenannten "Geräuschetüden") diese Musikart begründete, und an Pierre Henry, der 1949 für einige Jahre der kompositorische Partner Pierre Schaeffers wurde und der seit den fünfziger Jahren zum produktivsten und vielseitigsten Komponisten der konkreten Musik geworden ist. - Die Huldigung, die Bernard Parmegiani, der von Schaeffer und Henry begründeten "musique concrète" darbringt ist, rund zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung, alles andere als deren simple Imitation. Das läßt sich deutlich zeigen im Vergleich - zum Beispiel mit einem Stück aus dem Jahre 1950, auf dessen Titel Parmegiani offensichtlich anspielt: "Bidule en ut", "Dingsda in C" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry.
Z: Schaeffer/Henry: Bidule en ut. 1´51 CD Schaeffer 2, take 13. evtl. ausblenden bis 1´03
Einsätze 0´´, 20´´ (tiefer), 40´´ (Mittellage), 1´07 (sehr hoch), 1´26 Beginn Stretta
(u. U., je nach Sendezeit, auf früherem Einsatz ausblenden auf 1. oder 2. 7tonfigur)
Schaeffer und Henry arbeiteten in den ersten Jahren der "musique concrète" häufig mit dem präparierten Klavier. Hieran erinnert Bernard Parmegiani im Schlußteil seines Stückes. Im Vergleich dieses Teils mit früher musique concrète wird allerdings deutlich, daß Parmegiani das Klangmaterial seiner Vorgänger in ganz anderer Weise verarbeitet: Während Schaeffer und Henry vereinzelte Fragmente verwendeten, die technisch verarbeitet und in verschiedenen Varianten aneinandermontiert wurden, geht es Parmegiani offensichtlich weniger um Montageeffekte als um kontinuierliche Klangentwicklung: Er kombiniert Klangflächen und Klangfiguren in raffinierten, komplexen Überblendungen und Mischungen.
Z: 3. Teil Fortsetzung ab hohem, ausklingenden Akzent 26´13 bis vor 27´04 (tea for two)
Unter verschiedenen Perspektiven wird deutlich, wie stark sich die Kompositionsweise Parmegianis gegenüber den Verfahren älterer musique concrète verselbständigt hat. Dies zeigt sich auch daran, wie er mit den Rausch- und Knistergeräuschen von Schallplatten umgeht: Was seine Vorgänger nur widerwillig als Störgeräusche, als Abfallprodukte einer noch unentwickelten Studiotechnik akzeptiert hatten, wird von Parmegiani als kompositorisch nutzbares Ausgangsmaterial deklariert - als grundierende Klangschicht des ersten Teiles seiner Komposition.
Z: Schallplattenknistern (Anfang, ab 20´01, Länge je nach Sendezeit, z. B. ausblenden nach ersten Akzenten ab 20´31)
Schon die ersten Knistergeräusche des Stückes machen deutlich, daß Parmegiani hier weniger mit aneinandergereihten Montagestrukturen arbeitet als mit Klangflächen, mit komplexen Klangverarbeitungen und Mischungen. Wie wichtig ihm eine kontinuierlich strömende Klangentwicklung ist, zeigt sich auch daran, daß er die aufgenommenen Einzelklänge technisch so verarbeitet, daß sie noch besser miteinander verschmelzen als im Rohzustand. Parmegiani bedient sich dabei eines einfachen technischen Kunstgriffes: der Rückkopplung.
Z: 1. Teil Rückkopplung ab 20´13, z. B. bis Akzente, ausblenden ab 20´31
In jedem der drei Teile des Stückes stehen andersartige Klangmaterialien im Vordergrund. Dies führt dazu, daß Parmegiani jeweils unterschiedliche Verfahren der Verarbeitung und Verbindung von Klängen entwickelt. Im zweiten Teil, bei der Verarbeitung von Stimmlauten, geht er beispielsweise davon aus, daß ganz unterschiedliche Klangwirkungen entstehen können, je nachdem, ob einzelne oder viele Stimmen, individuelle oder kollektive Stimmäußerungen zu hören sind.
Z: 2. Teil Anfang:
militärisches Kommandogebrüll - kollektiv-synchrones Geschrei - zusammenmontierte Einzelstimmlaute 23´47 - 24´47 (hohe Akzente)
Der 2. Teil beginnt mit militärischem Geschrei - zunächst mit einer einzelnen, in unverständlicher Sprache kommandierenden Stimme, dann mit dem Geschrei vieler Stimmen gleichzeitig - auf Kommando streng synchron. Das kollektive Geschrei überlagert sich mit kollektivem Beifall, der sich verliert, in einen individuellen Atemlaut verwandelt. Ein scharfer Akzent macht deutlich, daß von jetzt ab andere Klänge im Vordergrund stehen - nämlich Klänge von Einzelstimmen: viele kurze Fragmente, virtuos aneinandermontiert, wie die surrealistische Karikatur eines hektischen babylonischen Geschwätzes, bei dem jeder einzelne nur kurze Laute hastig herausbringt, aber alle extrem rasch aufeinander reagieren und einander ablösen. So wird dieser Teil mit seinen technisch manipulierten, der Verständlichkeit beraubten Stimmlauten zum doppeldeutigen Symbol - zum Sinnbild nicht nur der kollektivistischen, sondern auch der individualistischen Zerstörung von Sprache.
Z: Wiederholung der vorigen Zuspielung (eventuell)
Im dritten Teil des Stückes, bei der Verarbeitung von Fragmenten vorgefundener Musik, geht Parmegiani anders vor. Hier zeigen sich Verwandlungen und Kontraste einerseits in unterschiedlichen Verarbeitungen derselben Musik, andererseits in der Konfrontation verschiedener Musikarten. So kommt es dazu, daß, im verfremdeten Klang des präparierten Klaviers, die Anspielung an einen Evergreen zu hören ist: "Tea for two" - ein alter Schlager, im kunstvoll gefälschten Klangbild à la John Cage oder Pierre Henry.
Z: 3.Teil Zitat Tea for two 27´16 oder ab 27´42 (ausblenden ab 27´52: Läufe)
Im letzten Abschnitt des dritten Teiles konzentriert Parmegiani sich auf historisch etablierte, artifizielle Klaviermusik par excellence: Er komponiert eine technisch produzierte "hommage à Chopin", bei der die rasante Geschwindigkeit der ursprünglichen Aufnahme in der technischen Verarbeitung durch Zeitraffer-Effekte noch weiter bis ins Extrem gesteigert wird.
Z: 3. Teil Chopin-Musik mit "brillanten" Hochtranspositionen ab 28´36 hoher Akzent
anschließend Repetitionen und beschleunigte Musik, bis Schluß 29´36
(evtl. vorher ausblenden, bis vor 29´01, Einsatz neuer Klaviermotive)
"Bidule en ré" ist eine Komposition, in der Altes und Neues sich auf paradoxe Weise miteinander verbinden: Aus der Musik der collagierten Schallplattenfragmente hat sich eine Musik der Klangflächen und Klangfiguren, der paradoxen Konfrontationen und der organischen Formprozesse entwickelt: Musik, die ihrer eigenen Tradition gerade dadurch treu bleibt, daß sie diese nicht steril repetiert, sondern in origineller Weise weiterentwickelt.
Z: "Bidule en ré" vollständig 9´27
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