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3.8 Veränderungen des Hörens - Veränderungen im Musikleben


MUSIK UND TECHNIK

Veränderungen des Hörens - Veränderungen im Musikleben

I.

Musik und Technik: Zwei scheinbar durchaus gegensätzliche oder sogar gänzlich heterogene Bereiche - oder zwei Bereiche, die in engen Wechselbeziehungen zueinander stehen, die in ihren unterschiedlichen Grundgegebenheiten und in ihren immanenten Entwicklungen und Veränderungen vielfältig aufeinander einwirken?

Beide Aussagen mögen zunächst miteinander unvereinbar erscheinen. Vieles aber spricht dafür, daß man dem Kern des Problems erst dann näher zu kommen beginnt, wenn man gegenüber dieser allzu nah liegenden Annahme ein wenig skeptisch geworden ist.

Musik und Technik: Ein Thema, dessen Konturen deutlicher zu werden beginnen, wenn man es im Zusammenhang mit Veränderungen untersucht - mit Veränderungen des Hörens und mit Veränderungen des Musiklebens. Diese Veränderungen sind für die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung, besonders in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, einer Zeit einschneidender kunstgeschichtlicher Veränderungen, und zwar vor allem im Bereich der Musik: Sie hat sich grundlegend verändert - aus einer Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (im Sinne Walter Benjamins) ist eine Kunst im Zeitalter der technischen Produzierbarkeit geworden. Wichtige Veränderungen des Hörens ebenso wie wichtige Veränderungen des Musiklebens sind stark davon geprägt, daß das Zeitalter der technisch produzierbaren Klänge (und damit auch das Zeitalter der technisch produzierbaren Musik) später begonnen hat als das Zeitalter der technisch reproduzierbaren Bilder von Photographie und Film. Ein zusammenhängende, über isolierte und zunächst folgenlos gebliebene Einzelversuche hinausführende Entwicklung technisch produzierter Musik können wir erst seit 1948 verfolgen, als Pierre Schaeffer in einem Pariser Rundfunkstudio die ersten Produktionen seiner musique concrète realisierte

1 Schaeffer Étude de bruits

Étude aux chemins de fer

Was hat sich durch die Erfindung der musique concrète verändert? Welche Konsequenzen ergaben sich für das Musikleben und für die Strukturierung des Musiklebens?

Wenn man die ersten Geräuscheetüden Schaeffers fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung und ihrer ersten Aufführung anhört, dann kann man feststellen, daß sie auch am Ende des 20. Jahrhunderts den Hörer und den Teilhaber am Musikleben vor nicht unbeträchtliche Probleme stellen könnte: Noch immer gibt es eine weltweit verbreitete Unsicherheit darüber, wie man solche Klangproduktionen eigentlich hören und welchen Platz im Musikleben man ihnen eigentlich zuweisen soll. Diese Unsicherheit läßt sich konkretisieren, wenn man sie als Frage zu formulieren versucht. Ist eine solche Klangproduktion - um noch mal Walter Benjamin abzuwandeln - ein Kunstwerk im Zeitalter der technischen Produzierbarkeit - oder gar ein Musikwerk dieses Zeitalters?

Und läßt es sich in einen Sektor des Musiklebens einordnen - sei es aus der Tradition bekannt - sei es neuer Art?

2 Étude aux chemins de fer, Schluß

Die ersten Geräuscheetüden Schaeffers wurden nicht in einem Konzertsaal uraufgeführt, sondern in einer Radiosendung. Fragmente aufgenommener, teilweise auch technisch verarbeiteter Klänge waren hier zu einem zusammenhängenden, wiederum auf Schallplatte fixierten Stück vereinigt. Die Uraufführung des Stückes ging aber so vor sich, daß über den Rundfunk eine Schallplatte abgespielt wurde. Es gab keine Musiker mehr, die im Moment der Aufführung noch irgendwelche Klänge hätten hervorbringen können; alle Klänge und Klangstrukturen waren vorproduziert. Es gab keinen privilegierten Ort mehr, an dem sich die Hörer einer Aufführung hätten versammeln können oder müssen; schon die Hörer der Uraufführung bildeten ein weit verstreutes, anonymes Publikum von Leuten, die zumeist an den häuslichen Radioapparaten zuhörten.

Eine Aufführung ohne live Mitwirkende und die Verbreitung eines Werks an ein verstreutes, anonymes Publikum - beides war 1948 - im sechsten Jahrzehnt der Filmgeschichte und im zweiten Jahrzehnt der Geschichte des Tonfilms - längst nichts Ungewöhnliches mehr. Neu jedoch war, daß beides im Bereich der Musik geschah. Technisch produzierte, z.B. für das Massenmedium Radio produzierte Musik war 1948 ein Novum - auch dann, wenn man bedenkt, daß bereits in den späten zwanziger Jahren Musik ausdrücklich für den Rundfunk komponiert worden ist (z.B. Musik von Paul Hindemith und Kurt Weill für das Hörspiel Lindberghflug von Bertolt Brecht). Die Klangstudien Pierre Schaeffers unterschieden sich von älterer Radiomusik vor allem dadurch, daß sie nicht mehr in herkömmlicher Weise komponiert, d.h. zunächst auf Notenpapier fixiert worden waren.

Schaeffers Klänge sind direktes Resultat seiner Studioarbeit. Mit herkömmlichen Klangmitteln und unter traditionellen Konzertbedingungen lassen sich diese Studioproduktionen nicht mehr aufführen. Sie wird Musik, die man nur am Lautsprecher hören kann (wie es Stockhausen später nannte).

Die Schwierigkeiten, mit solchen Klanggebilden umzugehen und über sie etwas auszusagen, zeigt sich schon dann, wenn man danach fragt, ob und in welcher Weise sie dem entsprechen, was man sich im herkömmlichen Sinne unter "Musik" vorstellt. Handelt es sich wirklich um Musikwerke - oder doch eher um Radiostücke oder Hörspiele, deren Besonderheiten der Begriff "Musik" nicht (oder zumindest nicht vollständig) abdecken kann.

Schon die erste Geräuscheetüde Schaeffers ist ein Stück, in dem nicht nur ungewöhnliche Klänge vorkommen, sondern auch ungewöhnliche Musikinstrumente: Zu hören sind Geräusche von Lokomotive und Eisenbahnwaggons. Als Bestandteile eines Tonfilms oder eines Hörspiels wären sie um 1948 nichts mehr Neues gewesen, wohl aber waren sie neu im Kontext autonomer Musik.

Die Frage, ob und inwieweit Geräusche - zum Beispiel Umweltgeräusche von Lokomotiven oder Eisenbahnwaggons - als vollwertige Elemente musikalischer Gestaltung angesehen werden können - diese Frage ist seit 1948 nie gänzlich verstummt. Zwar wissen wir, welches Aufsehen die Futuristen schon vor dem ersten Weltkrieg mit ihren Geräuschmanifesten und ihren Geräuschinstrumenten erregten, doch wir kennen Vorläufer dieser orchestralen Verwendung von Geräuschen, etwa die komponierten Kanonenschüsse in Beethovens Prgrammusik Wellingtons Sieg bei Vittoria oder das Ensemble von 12 Ambossen in Wagners Rheingold. Auch wissen wir, daß der junge John Cage schon 1937 für eine vollständige musikalische Gleichberechtigung aller Geräusche plädiert hat - und wir wissen, welche Konsequenzen er daraus gezogen hat seit seinen ersten Hörspielexperimenten sowie seit seinen ersten Werken für Schlagzeugorchester oder für präpariertes Klavier. Von all diesen älteren Beispielen aber unterscheidet sich Schaeffers Eisenbahnetüde grundsätzlich: Sie kann nicht mehr im herkömmlichen Sinne aufgeführt, etwa auf Geräuscheinstrumenten "gespielt" werden. Deswegen kennen wir, anders als in den Kompositionen von John Cage, keine im Voraus fixierte Partitur des Stückes, die von Musikern in einer Aufführung klanglich realisiert werden könnte. Das traditionelle Aufführungsritual ist hier unmöglich geworden - und diese Neuerung reicht beträchtlich weiter als die Einbeziehung von Umweltgeräuschen.

Moderne Techniken der Reproduktion, Verarbeitung und Produktion von Klängen haben es möglich gemacht, nicht nur das Arsenal musikalisch verwertbarer Klänge beträchtlich zu erweitern, sondern auch die Abhängigkeit von den traditionellen Bedingungen der live-Aufführung zu überwinden. Aus beiden Gründen ergibt sich, daß im Bereich der technisch produzierten Klangkunst Werke möglich geworden sind, die über die traditionellen musikalischen Klangmittel hinausgehen und nicht mehr im herkömmlichen Sinne "komponiert" und für live-Aufführungen bestimmt sind - und deswegen auch anders gehört und im Musikleben anders verbreitet werden müssen als Musik mit traditionellen Klangmitteln.

Kritische Fragen provoziert technisch produzierte Klangkunst vor allem dann, wenn sie mit aus der täglichen Erfahrung bekannten Erfahrungen arbeitet und gleichwohl musikalische Autonomie beansprucht. In diesem Sinne wurde die musique concrète schon frühzeitig kritisiert: Ihre Klänge - so sagten manche Kritiker - eigneten sich vielleicht für Hörspieleffekte, aber nicht für autonome Musik. das war offensichtlich als kritischer Vorbehalt gemeint, denn "angewandte Kunst", etwa die Musik konkreter Klangproduktion, die sich mit den funktionellen Begrenzungen des Klangdekors etwa im Hörspiel oder im Film begnügte, galt als minderwertig. Man muß diese Bewertung für zutreffend oder für fragwürdig halten: sicher ist jedenfalls, daß durch Schaeffer die Grenzen der "angewandten" Klangkunst allzu eng empfunden hat, und daß er sich intensiv darum bemüht hat, diese Grenzen zu überwinden. Nicht wenige Kritiker aber haben bezweifelt, ob ihm dies gelungen ist - und zu diesen Kritikern gehörten in den frühen fünfziger Jahren auch radikale serielle Komponisten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen. Diese beiden Komponisten - und auch etliche ihrer profilierten Kollegen - beispielsweise John Cage, Luciano Berio, Mauricio Kagel und György Ligeti - waren niemals dazu bereit, die von Schaeffer eingeführten Neuerungen vorbehaltslos und auf Dauer zu akzeptieren: Die Konzeption einer universellen Klangkunst (unter Einbeziehung aller Geräusche) in Verbindung mit der definitiven Abschaffung der live-Interpretation.

Pierre Schaeffer und Pierre Henry - der kompositorische Partner seiner frühen Jahre, der sich später selbständig machte - haben eine radikale Alternativkonzeption zur Musik mit traditionellen Klangmitteln entwickelt. Die Entschiedenheit, mit der sie sich von der tradierten Kompositionsweise, Aufführungs- und Vermittlungspraxis distanzierten, war nicht weniger radikal als die Alternativen, die zuvor Komponisten der zweiten Wiener Schule - vor allem Anton Webern - zur traditionellen Dur-Moll-Tonalität entwickelt hatten. Vor allem Pierre Schaeffer ist sich der Radikalität des Bruches mit den Traditionen der abendländischen Kunstmusik stets bewußt geblieben. In seiner letzten musikalischen Arbeit stellte er den unversöhnlichen Gegensatz in einer grotesken Karikatur dar: Er läßt ein Präludium von Johann-Sebastian Bach spielen, das gleichzeitig in der Tonbandwiedergabe technisch verfremdet und mit Fragmenten konkreter Musik gemischt wird: Musique concrète präsentiert sich hier als radikale Alternative zum traditionellen Kunstwerk.

3 Bilde

Die musique concrète ist die Kunst der befreiten Geräusche. Dabei hat die realistische Funktion (oder pseudorealistische) Funktion konservierter Umweltgeräusche Pierre Schaeffer nur wenig interessiert. Anders als im traditionellen Hörspiel sollte ein Geräusch in seiner musique concrète kaum jemals die Illusion eines tatsächlichen realen Vorganges weichen. Geräusche als Requisiten der unsichtbaren Hörbühne interessierten ihn nicht sonderlich. Statt dessen versuchte er, deutlich zu machen, wie stark sich technisch konservierte, über Lautsprecher abgehörte Klänge von realen Klängen unterscheiden können. Die Aufnahme des Klanges unterschiedet sich vom Klang selbst nicht weniger deutlich als eine Photographie oder ein Stummfilm vom abgebildeten Gegenstand oder Vorgang. Um dies zu verdeutlichen, hat Schaeffer mit seinen Klangaufnahmen ähnlich vor wie die Pioniere des Stummfilms mit ihren Bildern und Schnittfolgen: Einerseits isolierte er Details, die in der Vereinzelung anders wahrgenommen werden als im kontinuierlichen Fluß der alltäglichen Erfahrung. Andererseits fügte er solche Technik isolierter Details zu Klangmustern und Klangmontagen zusammen, wie sie in der täglichen Erfahrung sonst nicht zu finden sind. Beides - das durch Schnitt isolierte Klangobjekt und die Verknüpfung von Klangobjekten durch Montage - ist typisch für die technisch produzierte Musik seit ihren ersten Anfängen. Der Begriff Komposition wird wörtlich genommen - als Zusammenstellung von Klängen in der Aufeinanderfolge, durch Montage, aber auch in der Überlagerung dieser Mischung. So ließen sich neuartige Klangstrukturen auch aus scheinbar altvertrauten Klängen entwickeln.

La Ville

Der Schock der unsichtbaren Musik, einer Musik ohne live-Interpreten, war offenbar stärker als der Schock einer Musik der Geräusche. Die Emanzipation des Geräusches hat sich im 20. Jahrhundert auch in wichtigen Bereichen der Instrumental-und Vokalmusik durchgesetzt. Der Schock der unsichtbaren Musik aber ist stark geblieben bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein. Das zeigt sich nicht zuletzt in immer wieder unternommenen Versuchen, moderne technische Möglichkeiten mit den Praktiken der live-Interpretation zu verbinden. Die live-Elektronik als Kompromiß zwischen technischen Produktionsbedingungen und live-Praxis spielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter manchen Aspekten eine ähnliche Rolle wie in der ersten Jahrhunderthälfte manche versuche, die Möglichkeiten der modernen Zwölftontechnik zu versöhnen mit der traditionellen Dur-Moll-Tonalität. Gelegentlich wird die live-Musik gegenüber der technisch vorproduzierten Musik mit ähnlichen Argumenten verteidigt wie in den zwanziger Jahren die neoklassizistische Neutonalität gegenüber der Atonalität der Wiener Schule: Das Neue wird als Ausläufer des Tradierten oder sogar als veraltet bezeichnet - die atonale Musik seit den zwanziger Jahren, die Tonbandmusik seit den sechziger Jahren. In einem wieder anderen Falle wurde nicht selten vergessen, daß wichtige Probleme des als veraltet abqualifizierten Neuen ungeklärt blieben, während die als modern etikettierten Restaurationsversuche manchen Schwierigkeiten durch den Rückgriff auf Bekanntes abzuhelfen schienen.

Die Veränderungen des Hörens, die die Einführung und Entwicklung der unsichtbaren Lautsprechermusik ausgelöst hat, hängen weitgehend damit zusammen, daß diese sich als eine Musik der Klangbilder beschreiben läßt. Um sich die Bedeutung dieser Charakterisierung zu verdeutlichen, könnte man versuchen, sie zu vergleichen mit einer anderen, sei es auch schlagwortartig vereinfachenden Bezeichnung für bestimmte Tendenzen in der frei-atmenden Musik des frühen 20. Jahrhunderts, wenn man in ihr eine Musik der Klangzentren finden will. In der Musik der Klangzentren - im frühen 20. Jahrhundert auch in früheren historischen Vorbildern - ist es möglich geworden, einzelne harmonische Konstellationen als selbständige Einheiten auszugestalten - ohne Einbindung in andere harmonische Konstellationen, die vorausgehen oder folgen, in besonderen Fällen vielleicht sogar gleichzeitig zu hören sind. Diese Konzeption konzentrierte sich zunächst auf Tonkonstellationen, in manchen Fällen auch mit geräuschhaften Tonverfremdungen durch besondere Spielweise und durch die Kombination von Instrumentaltönen mit Schlagzeuggeräuschen. Die Bindung der Tonordnung an vorgegebene Regeln der Zeitgestaltung (z.B. Vorbereitung, Übergang, Weiterführung, Anfangs- und Schlußbildungen) war damit aufgegeben - als erster Schritt in eine Richtung, die einige Jahrzehnte später münden sollte in der vollständigen Vereinzelung des komplexen Einzelklangs bei John Cage - oder, im Sinne von Heinz Klaus Metzger ausgedrückt, in der Abschaffung der musikalischen Zusammenhanges. In fast allen Kompositionen von John Cage bleibt allerdings unzweifelhaft, daß diese Ziel - die Abschaffung des musikalischen Zusammenhangs - auch mit herkömmlichen Klangmitteln erreicht werden kann. Dies zeigt nicht zuletzt die Anarchic Harmony in den späten Zahlenstücken. Im Zusammenhang damit ist bedeutsam, daß Cage fast ausnahmslos an der traditionellen Funktion des Komponisten festhält, der seine Musik nach einem vorgegebenen Regelsystem - zum Beispiel entsprechend genau organisierter Zufallsoperationen - a priori entwirft und sie in einer Partitur fixiert, nach der sich live-Interpreten in einer Aufführung zu richten haben. Dies gilt selbst für Kompositionen, die mit technischen Medien realisiert werden müssen - z.B. für alle Stücke des Zyklus der Imaginary Landscapes und für die Tonbandkomposition Williams Mix aus dem Jahre 1952.

Von traditionellen Kompositionen unterscheiden fast alle Werke, die Cage seit den frühen fünziger Jahren geschrieben hat, sich allerdings dadurch, daß der Komponist nicht das gewünschte Klangergebnis im Voraus fixiert, sondern Aktionen von Interpreten, deren Klangergebnis vollständig oder in wesentlichen Aspekten unvoraussagbar bleibt. Unvoraussagbarkeit in diesem Sinne aller ließ sich in der Lautsprechermusik der fünfziger Jahre nicht realisieren. In ihr mußten der Komponist alle Klänge im Studio selbst produzieren, und die Ergebnisse der Verbreitung und Montage exakt auf einem Tonträger fixieren. In den ersten drei Jahren der musique concrète war dies die Schallplatte.

Seit 1951 wurden die Stücke auf Tonband produziert, waren also in allen Einzelheiten einer musikalische Montage exakt und eindeutig fixierbar. John Cage konnte in dieser Situation Tonbandproduktionen mit unvoraussagbaren, unbestimmten Klangresultaten nur dadurch erreichen, daß er Partituren mit Montageschemata schrieb, die bei der klanglichen Realisation auf unterschiedliche Weise realisiert werden konnten. In diesem Sinne konzipierte er Imaginary Landscape No.5, als exaktes Montageschema, das der Realisator auf frei wählbaren Schallplatten anwenden konnte, sowie Williams Mix, ein Werk, für das das Montageschema Klangstrukturen sowie bestimmte Eigenschaften der Klangverarbeitung und Klanggestaltung vorschrieb, aber nicht die Klänge selbst. Unvoraussagbarkeit und Unbestimmtheit führten in beiden Stücken zu vollkommen unterschiedlichen Konsequenzen: Während in Imaginary Landscape No. 5 viele unterschiedliche Realisationen mit durchaus unterschiedlichen klanglichen Resultaten bekannt geworden sind, ist die Partitur zu Williams Mix so kompliziert und umfangreich, daß bis heute nur eine einzige Realisation dieses Stückes zustande gekommen ist, die vom Komponisten selbst stammt. So hat diese Realisation einen ähnlichen Status erhalten wie andere Produktionen der Tonbandmusik: Es gibt nur eine einzige, vom Komponisten selbst realisierte und auf Tonband eindeutig fixierte Fassung des Stückes - obwohl es zutrifft, daß Cage hier seiner Partitur gefolgt ist, die eigentlich auch andere klangliche Resultate zulassen würde. Wer von dieser Partitur nichts weiß, kann deswegen versuchen, dieses Stück ähnlich zu hören wie andere Werke eindeutig fixierter Tonbandmusik.

Williams Mix

In der Musik von John Cage haben sich extreme Konsequenzen einer Entwicklung ergeben, die bereits vor dem Beginn seiner kompositorischen Arbeit begonnen hatte - beispielsweise in der Zwölftonmusik seines Lehrers Arnold Schönberg. Von großer Bedeutung ist eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Form und Struktur - d.h. die Beziehungen zwischen dem Werk als hörbares Resultat und dem Werk als Resultat kompositorischer Arbeitsprozesse. Die Formanalyse und die Strukturanalyse gehen von vollkommen unterschiedlichen Ausgangsgegebenheiten aus und verfolgen durchaus unterschiedliche Ziele - selbst dann, wenn versucht wird, über das Verhältnis eines dieser Analyseansätze zum anderen gründlich nachzudenken. Eine Analyse, die von Reihentabellen ausgeht, hat andere Ansprüche und Ziele als die Höranalyse eines in Reihentechnik komponierten Werkes. Versuche, die Ergebnisse dieser beiden grundverschiedenen Analyseansätze aufeinander zu beziehen, sind schwierig; sie können sich allerdings im Falle klassischer Zwölftonmusik in der Regel darauf berufen, daß es sich hier noch um Komposition im klassischen Sinne insoweit handelt, daß sie ausgehen vom Prinzip der Klangvorstellung des Komponisten - einer Klangvorstellung, der das klangliche Resultat einer Aufführung möglichst nahe kommen kann und soll. Im Idealfall hört der Hörer einer Aufführung oder Aufnahme aber auch in dieser Musik genau das klangliche Ergebnis, das der Komponist sich zuvor vorgestellt hatte. Diese Idealvorstellung einer Identität des a priori Vorgestellten und des a priori tatsächlich konkret Wahrgenommenen wird erst von John Cage grundsätzlich in Frage gestellt. In seiner kompositorischen Entwicklung tendierte er mehr und mehr zu kompositorischen Verfahren, deren klangliche Resultate unbestimmt blieben. Bei ihm ist die Polarisierung zwischen Form und Struktur ins Extrem getrieben - etwa dann, wenn er in extrem detaillierten, in allen rhythmisch minutiös fixierten Partituren genauestens vorschreibt, welche Frequenz und Lautstärke auf Radioapparaten eingestellt werden sollen oder wie ein Realisator von ihm Fragmente aus frei wählbaren Schallplattenfragmenten montieren soll. Niemand kann voraussagen, welche Klänge an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aus den Radiolautsprechern kommen werden oder welche Schallplatten und welche ihnen entnehmbaren Fragmente ein Realisator auswählen wird. Für diese Medienkompositionen ergab sich eine paradoxe Situation - nicht unähnlich derjenigen, die Cage fast gleichzeitig in einem Instrumentalwerk erreicht hatte: In der Music of Changes für Klavier. In diesem Stück und in den Medienkompositionen der frühen fünfziger Jahren ergab sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem zufallsbedingten Kompositionsverfahren einerseits und rigoros fixierten Anweisungen an die Interpreten andererseits. In der Folgezeit hat Cage den Konflikt dadurch gelöst, daß er auch in seinen Partituren auf ein die jeweilige Aufführung eindeutig fixierendes Klangergebnis mehr und mehr verzichtete. So arbeitete er beispielsweise auch in der Radio Music (1956) mit Radioklängen, aber mit weniger rigoroser Anweisung an die Interpreten als in der älteren Radiokomposition Imaginary Landscape No. 4. Die jüngere Partitur ließ dem Interpreten mehr Spielraum, so daß die Radio Music im Klangergebnis viel stärker vom live-Aktionen geprägt erscheint als die "Imaginary Landscape No. 4. In der Folgezeit haben sich diese Tendenzen auch in elektroakustisch geprägten Werken von Cage verstärkt, daß in den sechziger Jahren die live-Elektronik entscheidende Bedeutung für die Kompositionen von Cage und ihre Aufführungspraxis erlangte. In dieser Musik erlangte der Aspekt der Aktivierung des Interpreten entscheidende Bedeutung. Allerdings blieb es nicht ohne Auswirkung, daß diese auf Unbestimmtheit, auf klangliche Vieldeutigkeit angelegten Stücke oft weniger in den Partituren bekannt wurden als in eindeutig fixierten Schallplattenaufnahmen (die dann allerdings in der vielseitigen Ausdeutbarkeit der Partituranweisungen kein Bild mehr vermitteln konnte. In HPSCHD versuchte Cage, dies wenigstens teilweise auszugleichen, indem er den Hörer der Schallplatte mit dem Schallplattencover beigelegten Anweisungen zu aktivieren versuchte. Dennoch ließ sich auch an diesem Werk ablesen, daß die Orientierungsmuster in der Musik sich seit den späten sechziger Jahren zu ändern begannen. Noch deutlicher wurde dies in einer Reihe von Medienstücken der späten siebziger und achtziger Jahre, beginnend mit Roaratorio . Zwar sind auch diese Stücke noch stark geprägt vom Charakter der sound performance, wie er charakteristisch ist für John Cage ebenso wie für die von ihm geprägten Vertreter der amerikanischen sound poetry. Im Falle Roaratorio wurde dies vor allem in der Klangschicht des Sprechtextes deutlich - etwa in der Weise, daß er einerseits auf Band vorproduziert und mit den Geräuschen und Musikaufnahmen gemischt wurde, daß andererseits aber auch Aufführungen in einer halb-live-Version möglich waren, in der Cage seinen Text las, begleitet von der Tonbandwiedergabe der Geräusche und Musikzuspielungen. Als Auftragswerk des Hörspielstudios des Westdeutschen Rundfunks war das Werk allerdings so angelegt, daß es vollständig auf Tonträger fixiert und in dieser Form im Rundfunk verbreitet werden konnte: Schon die Wahlmöglichkeiten zwischen reiner Tonbandversion und halb-live Version macht allerdings deutlich, daß hier in den Möglichkeiten der Studioarbeit mit vorproduzierten Klängen nur in begrenztem Maße gebraucht worden sind. Überdies wird nicht nur in der Partie der Sprechstimme, sondern auch in den Zuspielungen irischer Volksmusik deutlich, daß Cage (wie übrigens auch mit den meisten seiner Werke) den live-Charakter der Musik eindeutig den Vorzug gibt vor dem Charakter einer Studioproduktion mit vorproduzierten Klängen. Auch in seinem Falle zeigt sich, daß die extremen Klangsequenzen der technisch produzierten Musik auch von exponiert modernen Komponisten des 20. Jahrhunderts nicht uneingeschränkt unterstützt werden.

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II.

Z: concert imaginaire, entrée 27´´

Am 6. Januar 1995 wurde in der "Salle Olivier Messiaen" des Pariser Rundfunks ein Jubiläum gefeiert: Zehn Jahre war es her, daß in Frankreich die erste - und zugleich die bisher erfolgreichste - compact disc Neuer Musik veröffentlicht wurde. Ihr Titel: Concert imaginaire, Imaginäres Konzert. Diese compact disc, die seinerzeit von der Fachkritik enthousiastisch gefeiert wurde und in der Folgezeit mit 50 000 Exemplaren eine Spitzenstellung in den Absatzzahlen avantgardistischer Tonträger eroberte, enthält eine Zusammenstellung kurzer Stücke aus dem Repertoire des Pariser Studios des "Groupe de Recherches Musicales" - Werke von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, Ivo Malec, Bernard Parmegiani, Francois Bayle, Michel Chion, Jean Schwarz, Jaques Lejeune, Denis Dufour, Philippe Mion und Christian Zanesi. Der disc liegt ein viersprachiges booklet bei (in französisch, englisch, deutsch und japanisch), in dem Francois Bayle, der Leiter der Pariser Forschungsgruppe, das Konzept der Zusammenstellung erläutert. Er schreibt:

"Für viele- und je mehr, dest besser wäre es - wird dieses Konzert eine erste Begegnung bedeuten. Eine überraschende, einschüchternde Begegnung mit einer reichen aber komplexen Welt. Die Welt des Schalls, ähnlich der der Meerestiefen, oder der Gestirne, beherbergt furchtbare, wunderbare und verführerische Gestalten. Die Erforscher - sprich Komponisten - dieser Welt haben deren Prinzipien und Zusammensetzungen erkannt, wußten mit ihren Werken Mächte zu beschwören, Formen zu schaffen; sie haben das Staunen noch nicht verlernt und bewegen daher alle, die ihnen zuhören. Dieses Konzert soll das Tor sein zu einer Welt, die zweifelsohne mit zu den guten Errungenschaften unseres Jahrhunderts zählt."

Die kurze Eröffnungsnummer, die den Titel "Entrée" führt, beschreibt Francois Bayle mit folgenden Worten:

"Der Lärm wird schwächer. Der Vorhang des Klanges geht auf... Stille...

Z: entrée 27´´´

Es mag paradox erscheinen, daß im Titel eines für die häuslichen Lautsprecher bestimmten Tonträgers das Wort "Konzert" erscheint. Im Titel "Concert imaginaire" wird allerdings die Assoziation an ein reales Konzert zugleich auch in Frage gestellt. Francois Bayles Kommentar macht deutlich, worin der entscheidene Unterschied besteht: Die Bühne, deren Vorhang aufgeht, bleibt unsichtbar. Der Vorhang öffnet sich nicht in der Realität, sondern in der Vorstellung eines Hörers, der die ersten 27 Sekunden der disc anhört. Es entsteht eine Musik der Klangbilder. Diese Klangbilder können sich deswegen in der Vorstellung des Hörers bilden, weil er realiter nichts sieht, was mit der Hervorbringung dieser Klänge zu tun haben könnte. Der Hörer ist in einer "akusmatischen" Situation - d. h. in einer Situation, die uns schon von den Schülern des Pythagoras her bekannt ist, deren Meister hinter einem Vorhang versteckt zu ihnen sprach, so daß sie ihn nur hören, aber nicht sehen konnten. Die meisten Hörer sind sich dessen nicht bewußt, daß heute, im Zeitalter der Massenmedien, die meiste Musik in akusmatischen Situation, nämlich über Lautsprecher gehört wird - losgelöst von Aufführungssituationen, in denen man die Hervorbringung der Klänge nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen live verfolgen könnte. Merkwürdig ist allerdings, daß, vor allem im Bereich der sogenannten "Ernsten Musik", die meisten Hörer am Lautsprecher Musik bevorzugen, die eigentlich gar nicht für den Lautsprecher bestimmt ist, nämlich vokale oder instrumentale Musik älteren oder auch neueren Datums. Nur wenige ziehen die Konsequenz daraus, daß für das Hören am Lautsprecher sich eigentlich diejenige Musik am besten eignet, die ausdrücklich für die Lautsprecherwiedergabe bestimmt und deren Wiedergabe unter traditionellen Konzertbedingungen unmöglich ist. Die CD "concert imaginaire" enthält eines der ältesten Beispiele einer solchen akusmatischen, d. h. im Studio für die Lautsprecherwiedergabe bestimmten Musik.

Z: Erotica 1´18

Es beginnt mit einem seltsamen Dialog im Dunkeln: Leises, verschmitztes Frauenlachen - dann merkwürdig plappernde, automatenähnlich geleierte Laute einer anderen Frauenstimme. Ein Dialog der unsichtbaren Stimmen beginnt. Die "lebendige" Frauenstimme scheint zu reagieren: Erstaunt, kokett, spöttisch. Die "Automatenstimme" stoppt, setzt danach ihr Geleier wieder fort, wechselt über zu anderen, wiederum mechanisch wiederholten Klangmustern, verwandelt sich in "Musik mit Stimmen." Plötzlich entdeckt man, daß auch die "lebendig" wirkende Stimme in Wirklichkeit nur ein Automat ist: Ihr Gelächter kommt ins Stocken, wiederholt sie wie eine defekte alte Schallplatte. Die Klänge wandern durch den Raum, aus dem Hintergrund in Richtung Bühne.

Das kurze Stück heißt "Erotica". Es ist ein Satz aus der ersten Lautsprecher-Sinfonie der Musikgeschichte: Aus der 1950 uraufgeführten "Symphonie für einen einsamen Menschen" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Wenn diese Musik im Konzertsaal erklingt, ergibt sich eine paradoxe Situation: Alle Klänge sind im Studio vorproduziert; es gibt also keine "live" auftretenden Interpreten mehr, nur den Klangregisseur am Mischpult und seine Techniker. Statt Instrumenten sind im ganzen Raum Lautsprechergruppen verteilt - in zahllosen Varianten der Größe, der Form und der technischen Eigenschaften, so daß dasselbe Klangmaterial farblich und räumlich vielfältig variiert werden kann. Deswegen erschließt sich der volle klangliche Reichtum dieser Musik eigentlich erst in der Konzertaufführung mit einem reicht bestückten Lautsprecherorchester, wie es in Paris regelmäßig in Lautsprecherkonzerten des Rundfunks zu hören gibt. Wer diese Musik zu Hause, in Rundfunksendungen, auf Schallplatte oder compact disc hört, muß sich mit einem stereophonen Abbild des vollen Raumeindruckes begnügen, ebenso wie bei Aufnahmen anderer Konzertmusik auch. Allerdings hört er - anders als bei über Lautsprecher übertragener traditioneller Konzertmusik - Musik, die ausdrücklich für seine Hörsituation bestimmt ist: Unsichtbare Musik.

Z: Parmegiani, La roue Ferris

Das "Concert imaginaire" ist keine historisch geordnete Anthologie. Die frühe Musik von Schaeffer und Henry steht nicht am Anfang, sondern sie folgt als knappes Kontrastmodell einem breiter angelegten Musikstück aus neuerer Zeit: La roue Ferris von Bernard Parmegiani - eine Produktion aus dem Jahre 1971, deren kreisende Figuren, die modernen Äquivalente zu den Schallplatten-Ostinati von Schaeffer und Henry, der Komponist mit den Bildern der glitzernden, sich drehenden mexikanischen Sonne und des perpetuum mobile beschreibt. Die Klänge dieser und anderer akusmatischer Musik kann der Hörer nur dann erfassen, wenn er sich völlig von den Erwartungsmustern der traditionellen Konzertmusik und ihrer musiksprachlichen Konventionen löst.

Wer die Entwicklung der elektroakustischen Musik in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, kann feststellen, daß die Diskussion über die akusmatische Musik sich neuerdings, vor allem in den achtziger und neunziger Jahren, intensiviert hat. Der Umstand, daß Pierre Schaeffer diesen Begriff in die Terminologie der Neuen Musik eingeführt hat, könnte allerdings die Vermutung nahelegen, daß vor allem im Bereich der von Schaeffer begründeten "musique concrète" von akusmatischer Musik die Rede ist. Tatsächlich haben er und sein Nachfolger Francois Bayle in der Pariser Forschungsgruppe GRM sich intensiv für den Begriff und die Sache eingesetzt - bis hinein in scheinbare Äußerlichkeiten, die den Außenstehenden in Erstaunen versetzen könnten (wenn etwa der Abhörraum des Pariser Studios den Namen "Acousmatèque" führt oder wenn der Katalog des Studios "Repertoire acousmatique" heißt). Dennoch macht man es sich zu einfach, wenn man das Problem der akusmatischen Musik ausschließlich auf eine spezielle Musiktradition bezieht. Richtig ist nur, daß dieses Problem, das sich eigentlich auf jede mit technischen Mitteln produzierte Musik bezieht, von Komponisten, die mit der musique concrète vertraut sind, schärfer gesehen und intensiver diskutiert wird als von vielen anderen.

Die belgische Komponisten Annette Vande Gorne hat verschiedene Komponisten zur Problematik der akusmatischen Musik befragt und als Ergebnis ihrer Umfrage Beiträge von 18 Komponisten veröffentlicht. Aus den Beiträgen geht hervor, daß fast alle befragten Komponisten sich darüber im Klaren sind, daß der Begriff "Akusmatische Musik" in der Musikentwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Schlüsselrolle spielt wie der Begriff "Atonale Musik" in der ersten Jahrhunderthälfte: Die Lösung der Musik aus live-Aufführungssituationen bedeutet einen wohl noch radikaleren Wandel als die Infragestellung der überlieferten Tonalität. Dies hat mehrere Komponisten zu der Frage veranlaßt, ob nicht dem radikalen Wandel ein radikal eingeschränkter Begriff entsprechen müsse - ein Begriff der akusmatischen Musik beispielsweise, der jegliche Konzession an die traditionelle Konzertpraxis ausschließt, z. B. auch die Verbindung von vorproduzierten und über Lautsprecher wiedergegebenen Klängen mit dem live-Spiel von Interpreten, die sogenannte musique mixte.

Z: Schwarz, And around. Ina/Grm; Adda, Celia records CL 8902-2. Accord, take 8 Anf.mind. 2´

Der französische Komponist Jean Schwarz beginnt seine 1981 entstandene Komposition "And around" mit einer Pseudo-Konzertsituation. Erst nach einiger Zeit bemerkt der Hörer die Fiktion: Zunächst gehört man Geräusche eines Jazzclub-Publikums und Musiker, die mit zwanglosem Einspielen zu beginnen scheinen. Bald aber kommen Geräusche hinzu, die nicht von den auf dem cover verzeichneten mitwirkenden Solisten (Charles Austin, Saxophone und Flöte; Joe Gallivan) stammen können - elektroakustische Klänge. Die Konzertsituation wird also gleichzeitig suggeriert und als technisch hergestellte Fiktion entlarvt. Mit anderen Worten: Hier ist die Situation des "Concert imaginaire" auskomponiert. So erklärt es sich, daß die Musik von Jean Schwarz auch in der CD "Concert imaginaire" vorkommt - und zwar nicht nur im kurzen, einen Konzertbeginn pseudo-simulierenden Eröffnungsstück, sondern auch in der Mitte des imaginären Konzertes unter dem Titel "entr´acte", d. h. in einer auskomponierten Pause.

Z: concert imaginaire 7 entr´acte 2´26

Aus einer Musik, die ursprünglich einen Konzertbeginn simulieren sollte, wird im Zusammenhang des "Concert imaginaire" eine surrealistische Konzertpause - ein Interludium, daß mit seinen aufgenommenen Instrumentalpassagen den Begriff der akusmatischen Musik viel weiter auslegt als die meisten anderen Nummern dieser compact disc - enger sogar als ein unmittelbar daran anschließendes Stück von Jean Schwarz selbst: "Suite N" aus dem Jahre 1981.

Z: Schwarz, Suite N Anf. Concim 8

Was Jean Schwarz in seinem "Pausenbeitrag" in eher populärer Form dargestellt hat, wird in seiner anschließenden "Konzertnummer" noch deutlicher: Diese Musik distanziert sich von traditionellen Instrumentalkompositionen selbst dann, wenn sie mit aufgenommenen Instrumentalpassagen arbeitet. Schwarz interessiert sich für den lebendigen Klang jenseits der fixierten Notation. Deswegen arbeitet er mit Jazzmusikern zusammen, und deswegen erinnern auch viele seiner im Studio produzierten Klänge an free jazz. In diesem Geiste hat Schwarz schon 1972 gearbeitet, als er für die Olympischen Spiele in München ein Stück für Schlagzeug und Tonband verwendet, in dem ein rechhaltiges Arsenal außereuropäischer Musikinstrumente verwendet wird: Anticyle.

Z: Anticycle, Xylorimba. CD take 8, 3´27 oder take 12 Djimbé (gleichz. Europ. Schlagzeug und aufgenommene afrikanische Musik)

Im "Concert imaginaire", vor allem in den Beiträgen von Jean Schwarz, wird deutlich, daß unter den Produktionsbedingungen der elektroakustischen Musik zwischen Musik und Nicht-Musik, zwischen musikalischen und außermusikalischen Hörereignissen fragwürdig geworden sind. Darüber hinaus hat sich auch der Begriff der Musik verändert: Als Material der Musik dienen nicht abstrakte Materialordnungen, sondern alle auf technischem Wege speicherbaren und im Studio verarbeitbaren Klangmaterialien einschließlich der Klänge vorgefundener Instrumente und vorgefundener Musik.

Akusmatische Musik, die Instrumentales einerseits einbezieht, andererseits aber auch in modernere, im Studio produzierte Klangwelten einbezieht, findet sich auch in neueren Werken von Jean Schwarz. In den sieben Sätzen seiner 1988 entstandenen "Suite symphonique" verarbeitet er drei instrumentale Sequenzen auf einem computergesteuerten Sampler und gibt ihnen ein neues Klangbild, indem er sie in Verbindung mit 16 anderen Klängen weiter verarbeitet.

Z: Schwarz, Suite Symphonique, Celia Records CL 8908-2. Ostinato Anfang

Der 1939 geborene Jean Schwarz steht in einer Musiktradition, die seit den Anfängen der musique concrète sich auf lebendige, von der traditionellen Notation nicht erfaßbare Klangstrukturen konzentriert und deswegen auch bei der Verwendung von Fragmenten vorgefundener Musik sich weniger für Komponiertes interessiert als für Improvisiertes. Diese Auffassung spielt auch in der Arbeit jüngerer Komponisten eine wichtige Rolle - beispielsweise in der 1993 entstandenen Komposition "Kilim" des 1962 geborenen britischen Komponisten Alistair MacDonald. Der Komponist beschreibt sein Stück als kompositorische Verarbeitung improvisierter Ausgangsmaterialien. In seinem Kommentar heißt es:

"´Kilim´ betrachtet die Improvisation als Antwort auf sein Ausgangsmaterial, das viele improvisierte Instrumentalklänge enthält. Die Komposition umrahmt eine Reihe von Klangspuren, die wie Entspannungsfelder und Kadenzen gebildet sind, die längere Passagen umspannen und den Materialen, die sie hervorbringen, einen Rhythmus aufprägen. Reine Klänge werden in komplexen Kombinationen verwendet, um Gesten, Objekte oder Teile von Texten zu erzeugen, und oft ist ihre Rolle ambivalent. Das Interesse dieser Komposition richtet sich darauf, das Dilemma aufzulösen, das darin besteht, daß man den Klängen erlaubt, instrumental wiedererkennbar zu sein, all ihre Energie zu bewahren - und daß man die Klänge trotzdem benutzt, um Gesten ´unsichtbarer Musik´ zu erzeugen."

Z: MacDonald, Kilim. CD Noroit 3, take 1 von Anfang oder evtl. ab 4´ (Länge nach Sendezeit)

In vielen Produktionen akusmatischer Musik haben die Komponisten bei der Studioarbeit technische Prozeduren entdeckt, die weniger mit traditionellen Kompositionstechniken gemein haben als mit bestimmten Verfahren der Improvisation. Daraus ergaben sich nicht nur neue Gestaltungsideen, sondern auch vielfältige Anknüpfungspunkte an musikalische Erfahrungen in Bereichen jenseits der etablierten abendländischen Kunstmusik. Mit anderen Worten: In der akusmatischen Musik wurde es möglich, die Grenzen einer in sich abgeschlossenen Avantgardemusik zu überwinden. Dies wird deutlich, wenn Alistair MacDonald Fragmente aufgenommener free-jazz-Musik verarbeitet. Seine Musik stellt sich damit in eine Tradition, die sich mehr als vier Jahrzehnte zurückverfolgen läßt - bis zu einem Stück, das schon im Titel seine Absicht verrät - die Absicht einer technisch produzierten "Musik über Musik". Es ist die 1951 entstandene Komposition "Jazz et Jazz" von André Hodeir. In einer historischen Programmnotiz zu diesem Stück heißt es:

" Nichts steht der musique concrèt so nahe wie der Jazz - aber andererseits gibt es auch nichts, was zu ihr stärker kontrastiert. Nahe stehen sich beide Musikarten insoweit, als der Jazz den Geschmack für den Eigenwert des Klanglichen fortentwickelt; fern stehen sie sich insofern, als die Aufführung von Jazzmusik eine Aufführung von Menschen ist, in der der Mensch und das Instrument miteinander verschmelzen.

Musique concrète und Jazz stimmen sich aufeinander ein und treffen sich auf demselben Ton, aber hier sind es die lebendigen Lippen von Louis Armstrong, dort die kalten Scheren und die Montage.

Wenn man den Jazz mit den Entdeckungen der musique concrète bereichern will, dann bedeutet dies, daß man den Künstler und die Maschine zusammenbringt, die Maschine und die Kunstfertigkeit. Darauf hat sich André Hodeir eingelassen...

´Jazz et Jazz´ ist eine konzertante Etüde: Bernard Pfeiffer spielt ein Klaviersolo, das André Hodeir in einer ´abstrakten´ Partitur fixiert hat. Ein ´konkretes´ Tutti hat der Autor zuvor aufgenommen mit Trompetenpassagen von Roger Guérin, Kontrabaßklängen von Emmanuel Soudieux und einem Schlagzeugpart von Ritschie Frost."

Z:Hodeir, Jazz et Jazz. 3´02. INA/GRM

Die Verarbeitung von Musikaufnahmen, die aus Bereichen jenseits der abendländischen Kunstmusik stammen, spielt in der Lautsprechermusik eine wichtige Rolle. Sie öffnet sich für verschiedene Musikkulturen und trägt so das Ihrige zur Bildung einer ästhetisch offenen und stilistisch vielfältigen Weltmusik bei. Beispiele hierfür findet man in Verarbeitungen von Musik höchst unterschiedlicher Kulturkreise und Regionen.

Z: Javier Alvarez: Mambo à la Braque. Empreintes digitales, IMED-9004-CD, take 24

Der in Mexiko geborene Komponist Javier Alvarez, Jahrgang 1956, hat 1990 ein kurzes Stück mit dem Titel "Mambo à la Braque" realisiert. Der Komponist teilt mit, daß er den Mambo "Caballo negro" von Dámaso Perez Prado verarbeitet hat.

Z: Mambo Caballo negro 2´21 EPM 995202, ADE 650

Der Komponist beschreibt, daß er diesen Mambo ähnlich verarbeitet hat wie aus einer Zeitung herausgeschnittene Buchstaben, die zu neuen Wörtern zusammencollagiert werden. Er hat Ausschnitte aus dieser Musik herausgelöst und sie, in Verbindung mit anderen Klängen, zu einem neuen Musikstück zusammengefügt. So wollte er eine kubistische Musik, einen Mambo eigener Erfindung schaffen.

Z: Alvarez wie oben (Anfang)

Auch der französische Komponist Michel Chion, Jahrgang 1947, hat sich von Mambo-Musik inspirieren lassen, und zwar in durchaus überraschenden Zusammenhängen: 1992 realisierte er eine konkrete Musik mit dem Titel "Credo Mambo".

Chion: Credo Mambo. Metamkine MKCD004 bis vor 3´10 Credo in unum Deum

oder evtl. Ab 5´25 Akzent... spiritum sanctum - 6´55 nach prophetas (vor... filium)

Der kanadische Komponist John Oliver, Jahrgang 1959, hat 1990 ein Stück realisiert, das er selbst als politisch engagierte Weltmusik interpretiert. In "Marimba Dismembered" verarbeitet er verfremdete Klänge der Marimba, eines für die Musik in Guatemala wichtigen Instrumentes. Mit diesem Verfahren will er einen musikalischen Protest gegen den Völkermord an den Maya artikulieren.

Z: John Oliver, Marimba Dismembered, Electro Clips Nr. 8

Die elektroakustische Musik, von ihren Anfängen bis in ihre neuesten Produktionen hinein, ist eine Musik der Grenzüberschreitungen. Sie öffnet sich anderen Musiktraditionen, und sie stellt sich der außermusikalischen, nicht zuletzt auch der politischen Realität.

Z: Katzer, Aide-memoire, Sequenz über die Geschichte des 2. Weltkriegs -

Sequenz mit Goebbels-Fragen Sportpalast

1983 hat der in Ostberlin lebende Komponist Georg Katzer, Jahrgang 1933, für den Rundfunk der DDR ein Tonbandstück produziert, das der Erinnerung an die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und an die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur dienen soll. Die Komposition heißt "Aide-Mémoire". Dieses Stück ist der erste Teil einer Trilogie von Tonbandkompositionen über geschichtliche bzw. zeitgeschichtliche Themen. 1989 folgte ein Stück zum Gedenken an die französische Revolution - eine sehr skeptische und kritische Musik über deren Idealbegriffe, damit zugleich eine musikalische Kritik an den langfristigen Konsequenzen dieser Revolution, also auch an der russischen Oktoberrevolution (und dies einige Monate bevor die politischen Ereignisse in Osteuropa das Scheitern dieser Revolution besiegelten). Georg Katzer gab dieser Komposition den Titel: "Mein 1789".

Z: Katzer, Mein 1789

1990, ein Jahr nach der Wende in Ostdeutschland, realisierte Georg Katzer eine Tonbandmusik über die ostdeutsche Revolution. Aufschlußreich ist, daß in diesem Stück nicht nur Honecker und die Volksmassen von 1989 zu hören sind, sondern auch Erinnerungen an Goebbels und die Volksmassen von 1943. Die Komposition wird hier zum skeptisch-zeitkritischen Medienstück.

Z: Katzer, Mein 1989. Zitat Goebbels mit Volk - Zitat Honecker mit Volk (Zusammenschnitt)

Vor allem die politischen Ereignisse des Jahres 1989 haben dazu geführt, daß Komponisten akusmatischer Musik Werke realisierten, in denen nicht nur Zeitgeschichte dokumentiert wurde, sondern auch die Veränderung politischen Denkens. In der Musik des französischen Komponisten Christian Clozier beispielsweise führten die revolutionären Ereignisse, die 1989 in den kommunistisch beherrschten Ländern Europas stattfanden, zu einer radikalen Veränderung seiner Tonsprache. Sie zeigt sich im Vergleich seiner Werke aus den Jahren 1989 und 1990. 1989, im Gedenkjahr der französischen Revolution, hatte Clozier noch eine dezidiert optimistische, klanglich reiche und formal abgerundete Musik komponiert, die sich mit zentralen Ideen Robbespierres zu identifizieren versuchte: Das Stück heißt "Le bonheur - une idée neuve en Europe" - "Das Glück - eine neue Idee in Europa".

Clozier: Le bonheur - une idée neue en Europe

Einen schroffen Kontrast zur Revolutionsmusik des Jahres 1989 bildet ein Stück, das Clozier ein Jahr später realisierte unter dem Titel "118 et 21 ans après", "118 und 21 Jahre danach". Im Titel dieses Stückes erinnert Clozier an zwei gescheiterte Revolutionen: An den Pariser Kommuneaufstand 1871 und an den Prager Frühling 1968. Die kargen, schroffen Klänge dieser Musik, die zurückfinden zur ästhetischen und politischen Radikalität des jungen Clozier, sind eine deutliche Absage an die festliche Revolutionsmusik des Jahres 1989. Im Rückblick auf dieses Revolutionsjahr artikuliert Clozier eine schonungslose Skepsis und Hoffnungslosigkeit, als hätte er die verheerenden wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der kommmenden Jahre damals schon vorausgesehen. Diese politisch engagierte Musik gewinnt ihre Stärke aus der Identifikation mit den politisch Schwachen, mit den Verratenen, Besiegten, Vernichteten.

Clozier: 118 et 21 ans après

Aus den politischen Ereignissen des Jahres 1989 ergab sich auch für die Komponisten elektroakustischer Musik eine besondere Situation - eine Ausnahmesituation ähnlich derjenigen um 1968. Die damaligen Ereignisse ließen sich - z. B. mit Aufnahmen von Politikerreden oder von Volksmassen - in eindrucksvollen Tondokumenten festhalten, und solche Tondokumente boten sich den elektroakustischen Komponisten zum Zitat und zur klanglichen Verarbeitung im Studio an. Wichtige politische Ereignisse jenes Jahres ließen sich kompositorisch verarbeiten, weil es dank der Massenmedien Tondokumente gab (oder weil die Komponisten selbst bestimmte Erlebnisse in Tondokumenten festhielten). Schon im folgenden Jahr aber, beim Ausbruch der Golfkrise, hatte sich diese Situation geändert: Zum Golfkrieg gab es nur eine straff gelenkte Berichterstattung der Massenmedien. Dementsprechend schwierig ist es, dokumentarische Kompositionen zu finden, die auf diesen Krieg Bezug nehmen. Als eine vereinzelte, wenngleich instruktive Ausnahmelösung könnte man die Tonbandkomposition "Gloire à" von Jerome Noetinger nennen - ein Stück, das den Golfkrieg aus der Perspektive des Radiohörers darstellt.

Z: Noetinger: Gloire à 0´- 1´05, oder evtl. 4´35 Meldung "Desert storm" -6´35 thank you

very much. (6´55 weitere Nachrichten, dazu zerhackte Geräusche in Steigerung, bis 7´49 Zäsur)

(13´35 Militärmusik, mitlitärisches Gebrüll, ausblenden nach 15´ober bis 15´54 Pause)

(Schluß 20´35 - 21´ gloire a nos héros)

Politisch engagierte Musik, die nicht den ästhetischen Spuren der traditionellen Programmusik folgen will, sieht sich der Frage ausgesetzt, ob und in welcher Weise sie aus der Alltagserfahrung bekanntes dokumentarisches Klangmaterial einbeziehen will. So läßt sich erklären, daß Konzeptionen politisch engagierter Geräuschmusik entstehen konnte - etwa in der Komposition "Les oiseaux de Bullion", die der kanadische Komponist Claude Schryer, Jahrgang 1959, im Jahre 1990 realisiert hat. Die Konzeption dieses Stückes ähnelt der Grundidee eines älteren Hörstückes von Gerhard Rühm, in dem - unter dem Titel "Kleine Weltgeschichte der Zivilisation" - Klaviermusik mehr und mehr von Verkehrslärm erdrückt wird. Eine ähnliche Aussage artikuliert Claude Schryer, wenn er Laute von im Käfig gefangenen Vögeln mit Lastwagengeräuschen und später hektische Atemgeräusche mit dem verhallten Geräusch eines Eisenbahnzuges in Verbindung bringt.

Z: Claude Schryer, Les oiseaux de Bullion, Electro Clips 6

Wenn Claude Schryer im Schlußteil seines Hörstückes die Atemgeräusche mit einem langen Akkord, mit Musik im engeren (aus der Tradition bekannten) Sinne überlagert, dann wirkt diese wie Tonfilmmusik in einem Film ohne äußerlich sichtbare Bilder - in einem Film allerdings, dessen Bilder sich in der Vorstellung des Hörers bilden können. Hier realisiert sich elektroakustische Musik als Akustische Kunst, als Hörfilm. Sie steht damit in einer Tradition, die sich bis 1930 zurückverfolgen läßt - bis zu Walter Ruttmanns Hörstück "Weekend".

Z: Ruttmann, Weekend Anfang. Metamkine MKCD 010, bis 1´57 (nach Gesang Frauenstimme):

Aber Frollein!

Walter Ruttmann hat in seinem Hörstück "Weekend" Prinzipien der Montage, die er zuvor - z. B. in "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" - im Stummfilm angewendet hat, auf Klänge übertragen. So fand er Gestaltungsprinzipien, die später - da sein Stück jahrzehntelang verschollen war - von führenden Exponenten des Neuen Hörspiels wie Ferdinand Kriwet wieder entdeckt werden mußten. Heute ist Ruttmanns Stück in den Hörspielprogrammen westdeutscher Rundfunkanstalten zu finden, und Jérome Noetinger hat eine Mini-CD des Werkes veröffentlicht in seiner Reihe "Collection Cinéma pour l´oreille" ("Sammlung Kino für das Ohr").

Evtl. Z: Weekend Fortsetzung (Länge je nach Sendezeit)

Ruttmanns Stück steht ganz im Zeichen der Montageästhetik. Entscheidend sind nicht die einzelnen Klänge selbst, sondern deren beziehungsreiche Verknüpfungen mit anderen Klängen. So läßt sich auch erklären, daß Ruttmann vorwiegend mit äußerst kurzen Klängen arbeitete. So machte er deutlich, daß es ihm nicht um die akustische Simulation realer Vorgänge ging, sondern um Strukturen von Klangbildern und deren Konstellationen. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von einfacheren, der konventionellen Geräuschdramaturgie näher stehenden Geräuschgeschichten späterer Zeiten.

Z: Christian Calon, Claude Schryer: Prochaine station

1990 realisierten die beiden kanadischen Komponisten Christian Calon und Claude Schryer zusammen ein kurzes Hörstück mit dem Titel "Prochaine Station" ("Nächste Station"). Das Stück ist konzipiert als Klangreise durch Montréal (meistens mit der Metro, in der man mehrfach den Aufruf der nächsten Station hört). Das Stück folgt der sinnfälligen Disposition eines kurzen Hörfilms. Die Geräusche sollen hier die Vorstellung einer realistisch erzählenden, einer anekdotischen Musik wachrufen, wie sie Luc Ferrari seit den sechziger Jahren entwickelt hat: Geräusche erscheinen nicht in abstrahierenden Montagestrukturen, sondern als Abbilder der Realität.

Z: Ferrari, Hétérozygote Anfang (Länge je nach Sendezeit) oder ab 5´19 Frauenst.-Geräusche

bis 6´58 Klangfläche nach Glissandi (ausblenden) oder ab 7´20 (Stimmen, dazwischen Geräusche)

bis 9´40 Zäsur nach Ende Glissandi (vor dt. Szene im Theater - Bühnenarbeiter) (bis 12´22)

Das Konzept einer realistisch (oder pseudo-realistisch) erzählenden Tonbandmusik hat sich in Ferraris elektroakustischer Musik, die anfangs der strukturellen musique concrète Schaeffers sehr nahe stand, seit den sechziger Jahren allmählich herausgebildet - zunächst, noch in stark artifizieller formaler Disposition, in der 1964 entstandenen Komposition "Hétérozygote". In späteren Produktionen traten einfache erzählende oder darstellende Momente noch stärker in den Vordergrund - z. B. als akustische Landschaftsmalerei in der 1969 entstandenen "Music Promenade".

Z: Ferrari, Music Promenade Anfang. Wergo 60 46

In der anekdotischen Musik Ferraris finden sich schon frühzeitig Ansätze einer über weite Strecken kontinuierlichen, von der klassischen Montageästhetik sich abwendenen Formgestaltung. Seit den siebziger Jahren setzten sich in den elektronischen Studios Apparaturen durch, die kontinuierliche Klangentwicklungen auch mit rein elektronischen Klängen bedeutend erleichterten. Dies mag mit dazu beigetragen haben, daß die kontinuierlichen Geräuschmusiken Ferraris kaum nachgeahmt wurden. Erst 1984 entstand ein Stück, in dem realistische Geräusche kontinuierlich, aber zugleich auch losgelöst von einer durchweg realistisch gemeinten erzählenden Dramaturgie zu hören waren: "La Ville - Die Stadt" von Pierre Henry.

Z: Henry: La Ville - Die Stadt. Eveil Anfang oder Höhepunkt und realist. Fortsetzung. Wergo

"La Ville - Die Stadt" von Pierre Henry ist ein Hörfilm in mehrfacher Hinsicht - nicht nur deswegen, weil die verschiedenen Sequenzen des Stückes im Hörer Klangbilder oder Klangszenen evozieren können, sondern auch deswegen, weil die Klangmontagen dieses Stückes nach Henrys Worten von Bildmontagen eines berühmten Stummfilms inspiriert sind: "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" von Walter Ruttmann. Erst nachträglich hat Henry versucht, die Sequenzen seines Hörstückes - mit einigen Abwandlungen und Umstellungen - Ruttmanns Film zu unterlegen (wobei zum Beispiel aus der Eisenbahnsequenz, die eigentlich im Inneres des Hörspiels steht, die Eröffnungsmusik zu Ruttmanns Film-Einleitung wurde, zur Eisenbanhfahrt nach Berlin). Henry, der seit den fünfziger Jahren eine große Anzahl von Filmmusiken realisiert hat (und der aus seinem umfangreichen filmmusikalischen oeuvre 1995 eine Hörspielproduktion für das Studio Akustische Kunst des WDR entwickelt ist) ist anläßlich der Produktion seines Hörspiels "La Ville - Die Stadt" gewissermaßen nachträglich zum Komponisten eines weiteren Films geworden - wobei seine Seqnzen gegenüber den Details der Bildfolge selbständig bleiben - in ähnlicher Weise, wie es Josef Anton Riel in diversen Filmmusiken seit den frühen sechziger Jahren praktiziert. Eine Sequenz mit dem Titel "Train" ("Zug"), die ursprünglich im Inneren des Hörspiels zu finden war, hat Henry später bei der Film-Synchronisation vorgezogen, so daß sie, nach einer mit Schwarzfilm begleiteten Eingangssequenz, dem Beginn von Ruttmanns Film unterlgt ist, der Zugfahrt nach Berlin. So ergibt sich zwischen Bild und Klang eine Koinzidenz zweiten Grades: Die ursprünglich autonom komponierte Musiksequenz wirkt im Tinfilm, als sie sie von vorneherein für diese Szene bestimmt gewesen.

Z: Henry: La Ville, Train

Einige Jahre nach Vollendung seiner nachträglichen Film-Adaption entschluß sich Henry, Musik zu komponieren, die von vorneherein zur Begleitung eines Stimmfilms bestimmt war - nämlich des 1929 entstandenen Films "Der Kameramann" von Dziga Vertov. In dieser Musik wird vollends deutlich, worum es in der als akustischer Film deklarierten Hörkunst geht: Um die Entwicklung moderner Klangstrukturen, die in ihrer technischen Faktur den filmischen Montagestrukturen gleichwertig sind, also nicht mehr an veralteten musikalischen live-Praktiken festhalten.

Z: Henry, L´homme à la camera, take 10 Artisanat Anfang (insges. 3´39)

Die Klangbilder, die Henrys Musik wachruft, behalten ihre eigene Kraft selbst dann, wenn man sie als Begleitung zu einem Stummfilm hört. So können sich erste Ansätze einer wirklichen Gleichberechtigung von Bild und Musik entwickeln.

Evtl. Z: Henry, L´homme, z. B. 4 - hangar d´avions 2´11

Elektroakustische Musik der Klangbilder muß sich nicht in jedem Falle auf realistische, der realen Hörwelt entnommene Klangmaterialien beschränken. Auch synthetische Klänge können Klangbilder, ja sogar bestimmte Bedeutungen evozieren. Vor allem Jean Claude Risset hat gezeigt, wie solche unbekannten synthetischen Klänge sich gerade in der Konfrontation mit realistischen konkreten Klängen besonders wirkungsvoll einsetzen lassen: In seiner 1985 entstandenen Komposition "Sud".

Z: Risset, Sud: Konkrete Klänge - Einsatz der Computerklänge

Im Mittelsatz seiner 1968 entstandenen "Computer Suite from Little Boy" hat Jean Claude versucht, einen neuartigen synthetischen Klang symbolisch einzusetzen: Ein endloses Glissando als Symbol des Abwurfes der ersten Atombombe und eines nicht enden wollenden psychischen Absturzes.

Z: Risset: Comp. Suite Satz 2 Fall, 2´50. Wergo 2013-50

In manchen Fällen wird es gleichgültig, welcher Herkunft die die bildliche Phantasie des Hörers anregenden Klänge sind. Dies gilt beispielsweise für den Anfang der 1995 uraufgeführten Komposition "La fleur future" von Francois Bayle. Dieses Stück beginnt mit einem realistischen Umweltgeräusch, das anschließend durch Hinzumischung elektronischer Klänge Schritt für Schritt in ein anderes Umweltgeräusch verwandelt wird. Für das Verständnis dieses Verwandlungsprozesses ist es unwesentlich, ob der Hörer den realen Ursprung der beiden Umweltgeräusche erkennt oder nicht.

Z: Bayle, La fleur future, Anfang, Verwandlung Maschinengeräusch in Wäschewaschen

Das Interesse an bildkräftigen neuen Klangwelten ist besonders bei jüngeren Komponisten stark ausgeprägt - beispielsweise bei dem kanadischen Komponisten Stéphane Roy in seiner 1993 entstandenen "Crystal Music". Zu diesem Werk schreibt der Komponist:

"Crystal Music"... ist eine Musik der Formen, der Farben und der Klangstoffe, die durch kinetische Energien und durch Perspektivbildungen im Inneren des Werkes ausgeformt werden. Wie ein kostbares Glas wurde das Material erweitert, in eine Form gegossen, verwandelt in den größten Schmelzofen des Studioexperiments. Wie das Kristall ist es ziseliert durch die Einbildungskraft, die seinen transparenten Strukturen die Kraft der Illusion verleiht."

In dieser Musik wird deutlich, worum es in avancierter elektroakustischer Musik heute gehen kann: Um die differenzierte Ausgestaltung der feinsten Bewegungen im Inneren der Klänge - um eine Musik, die bewegen kann, weil sie selbst in sich bewegt ist.

Z: Roy, Cristal Music, Noroit 3

III.

Z: Roxanne Turcotte: Minisérie. Electro Clips 21, 0´-50´

Im November 1990 fand in Montréal das Festival "musiques actuelles/New Music America" statt. In Verbindung mit diesem Festival ist eine compact disc erschienen, die den Titel "Electro-Clips führt. Der Untertitel teilt in drei Sprachen mit, woum es sich handelt - in englisch, französisch und spanisch. Angekündigt werden 25 elektroakustische Schnappschüsse - instantanés électroacoustiques, electoacoustic snapshots, instantánes electroacu´sticas. Im booklet der CD wird das Unternehmen näher beschrieben - als große künstlerische Herausforderung, die die elektroakustische Musik nötige, über ihre eigenen Grenzen hinauszugehen. 25 Komponisten aus Kanada, aus den Vereinigten Staaten und Mexiko waren eingeladen, kurze Miniaturen für diese CD zu komponieren.Begründet und kommentiert wurde dies mit Worten, die anspielen auf neue Aspekte des Hörens und auf neue Positionsbestimmungen im Musikleben und in seinem kulturellen Kontext. Es heißt dort:

"Inwiefern ist diese Schallplatte aktuell? Wenn man ein Werk mit der Form des Schlagers (mit einer Dauer von drei Minuten) und mit dem Konzept des ´Videoclips´ zusammenbringt, dann macht man die Elektroakustik wieder aktuell, indem man sie aus dem traditionellen Konzertsaal herausholt und sie in die Medienwelt des Clips und der Momentaufnahme bringt..., ohne ihr den künstlerischen Wert zu nehmen, den man ihr heute zuerkennt."

Dem booklet liegen 25 durchnumerierte Fotos bei, auf deren Rückseiten sich Komponisten- und Werkinformationen zu den entsprechenden Audioclips finden. Der Hörer (bzw. Betrachter) wird aufgefordert, verschiedene Abfolgen von Fotos und Clips auszuprobieren.

Die 1960 in Montréal geborene Komponistin Roxanne Turcotte hat zu dieser CD das Drei-Minuten-Stück "Minisérie" beigesteuert. In ihrem Kommentar heißt es:

"Drei kleine Szenen ohne Wörter, ohne Bilder. Die Klangumgebung einer Verfolgungsjagd, die über verschiedene Zusammenhänge in die Welt Hitchcocks führt, zu den farbigen Würzen eines Spielberg; eine cinematographische Konstruktion für die Ohren und ... für die Imagination. Durchtränkt vom Horror, erzählt diese Klanggeschichte eine makabro story in einem eher humoristischen Ton, markiert von den raschen Wechseln der Eibenen einer Musik in drei Dimensionen.

Z: Roxanne Turcotte: Minisérie, Electro Clips 21 ab 1´04 hohe, jagende Glissandi

oder evtl. ab 2´18 Einzelstimmen-Fragmente

Das Verhältnis zwischen Musik und Technik, das sich in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts wesentlich verändert hat, ist auch in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts noch mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Vor allem im Bereich der sogenannten "ernsten" Musik - der trotz der integrativen Möglichkeiten der Medien nach wie vor eine Sonderstellung behalten hat - ist oftr zu beobachten, daß wichtige neue Produktionen um so schwerer einen angemessenen Platz im Musikleben finden, je intensiver und konsequenter sie von modernen technischen Möglichkeiten Gebrauch machen. Während sich die Kunst der technisch produzierten Bilder bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kulturell etabliert hat, ist der Kunst der technisch produzierten Klänge, der vergleichbare technische Möglichkeiten (vor allem der Montage) erst Jahrzehnte später zur Verfügung standen, Entsprechendes in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts allenfalls teilweise glungen. Ihren Platz im Radio hat die technisch produzierte Musik in vielen Ländern gefunden, ihren Platz im Fernsehen aber nicht. In einem Zeitalter, für das der Primat des Sehens vor dem Hören auch in den Massenmedien offensichtlich geworden ist, konnten auch medienbewußte Komponisten diese Situation nicht mehr ändern, sondern sie allenfalls noch kritisch dokumentieren.

Ein Komponist, der seit den fünfziger und sechziger Jahren wichtige technisch produzierte Kunst nicht nur der Klänge, sondern auch der Bilder und Klänge geschaffen hat, schrieb 1974 ein Stück, das die paradoxe Situation des Komponisten und Hörers von Kunst im Spannungsfeld der Medien beleuchtet - insbesondere im Spannungsfeld von Radio und Fernsehen. Er komponierte ein Hörstück, für das er nicht nur die Töne der Musik vorschrieb, sondern auch die Sprechtexte und sogar die Geräusche - letztere beispielsweise mit folgenden Worten:

- Gellender Schrei.

- Lachen.

Sofort anschließend lautes Klatschen einer Faust, die in die andere Handfläche schlägt.

- Körper prallt mit aller Wucht gegen Zellentür

- Kurzes Gebrüll

- Holzpritsche bricht krachend zusammen

- Holzlatte schlägt auf Kopf, unwillkürlicher Schrei

- Leises Aufstöhnen

- (Steinboden:) Zwei Hände tasten und gleiten vorsichtig

- Körper schlägt auf den Boden auf

- Überraschender Schrei

- Leises Stöhnen

- Kehle wird langsam zugedrückt:

Darsteller versucht vergeblich, Luft zu bekommen

- Gittertür wird gerüttelt

- (Innen:) Schuß eines Colts (überlautes Knallen)

- Gittertür wird gerüttelt

- Schüsse schlagen in die Pritsche ein

- Körper wirt sich auf den Boden, rollt

- Verzweifeltes Husten, keuchend und würgend

- Colt wird g espannt

- Erbärmliches Husten

Trockener Schuß (mit Dämpfer)

Husten

Z: Soundtrack Geräusche (NoKo)

Im Einleitungstext des Hörspiels schreibt Kagel hierzu:

"Die genaue Dauer jedes Ereignisses wird nicht ausdrücklich vermerkt, da die Geräusche, zumeist kurz, akustische Interpunktionen darstellen sollen (Trennen, Betonen, Steigern, Beenden, usw.)

Für die Realisation... ist die Mitwirkung eines Geräuschemachers, der gewohnt ist, nach dem Bild zu synchronisieren, erforderlich. So kann das Material jene typische Prägnanz erreichen, die es dem Liebhaber von Westernfilmen ermöglicht, den "echten, harten Sound" wieder zu erkennen, auch wenn der Fernsehapparat im Nebenzimmer steht. Um einen authentischen Text zu produzieren, kann der Geräuschkanal durch den Lautsprecher eines Fernsehgerätes im Studio wiedergegeben und dies über Mikrophon gleichzeitig aufgenommen werden."

(Kagel, Das Buch der Hörspiele, S. 151 f.)

Die Geräusche sind so zusammengestellt, daß die Klischees ihrer Konstellationen auch als "unsichtbare Klänge", als Hörspielgeräusche, Handlungsklischees von Westernfilmen evozieren können. So wird die Konzeption dieses Stückes deutlich, das Kagel als "Film-Hörspiel" bezeichnet: Sein Titel heißt "Soundtrack". Das Titelwort bezeichnet - wie Kagel es einmal ausgedrückt hat (auf einem Seminar der Darmstädter Ferienkurse im Jahre 1976) - das, was vom Film übrigbleibt, wenn man ihm die Bilder wegnimmt. Hier geht es also darum, daß die im Fernsehen allfällige Dimonanz der Bilider konterkariert wird, indem diese einfach fortfallen und und nur das Hörbare über den Radioapparat wiedergegeben, der Fernsehfilm zum Radiohörspiel amputiert wird: Im fertigen Hörspiel verbindet Kagel die Geräuschspur mit Sprechtexten und Musik - wobei die Sprache mehr, die Musik weniger bringt, als der Westernkenner erwartet: Kagel hat die Westerndialoge auf wenige holzschnittartig knappe Sätze verkürzt, zum Ausgleich dafür aber andere Sprache hinzugefügt - nämlich Sätze der Familienmitglieder, die im Fernsehz immer den Western anschaunen. Auf üppige Westernmusik verzichtet Kagel vollständig, so daß der bildlose Film auch noch in einem zweiten zentralen Bereich amputiert erscheint. Statt dessen ist etüdenhaftes Klavierspiel zu hören - das Spiel des Sohnes, der in Nebenzimmer übern muß (der aber immter wieder abbricht und in das Fernsehzimmer herüberzukommen versucht). Kagel gibt hierzu Anweisungen, die die Assoziation des realen Vorganges zugleich bekräftigen und domintieren:

"Ein Pianist (=Sohn, stumme Rolle) übt fast unaufhörlich auf dem Klavier.

Drei Arten von Pausen unterbrechen das Klangkontinuum:

- Die Klavierübungen werden abgebrochen,

die Tür zum Wohnzimmer aufgemacht;

leise Schritte nähern sich

- Laute Schritte nähern sich der Wohnzimmertüt.

Sobald sich diese öffnet, wird das Klavier lauter, erst anschließend verstummt es.

- Abrupte Unterbrechung des Klavierspiels

(Weder Schritte noch das Öffnen der Tür

sind vor oder nach der plötzlichen Pause zu hören)

So verbinden sich Klänge aus dem Fernseher und Klänge aus der Wohnung nicht nur im Bereich gesprochener Sprache, sondern auch im Bereiche des Geräusches. Die Musik wird in diesem Zusammenhang zum störenden Lärm, der unwillig produziert und unwillig rezipiert wird: Der Sohn möchte eigentlich lieber den Western anschauen als Klavier spielen, und die anderen Familienmitglieder werden durch sein Spiel beim Fernsehen gestört.

Z: Soundtrack alle Schichten (NoKo)

Der doppelt amputierte Film ist ein Hörstück, in dem verschiedene Ereignisse und Klangschichten kombiniert sind nach der Logik der Verwandlung des kumulierten Sinnlosen ins Klischee:

Vom Western sind nur st andardisierte Geräusche und einige Dialogfetzen übrig geblieben. Kagel hat erzählt, daß trotzdem nach der Ursendung des Hörspiels (am 13. Juni 1975) Hörerbriefe kamen, in denen die integrale Übertragung des hier angeblich verstümmelten Westernfilms im Fernsehen gefordert wurde - eines Films also, den es gar nicht gibt. Man könnte versucht sein, hieraus abzuleiten, daß es genügen könnte, Geräuschklischees aneinanderzureihen, damit Hörer einen solchen Film in ihrer Phantasie sehen. Dies wäre ein paradoxer Umschlag der Wirkung des Abgenutzten, die so immerhin durch Übersteigerung ein gewisses Maß an Phantasie freisetzen würde.

Die Klischeewirkung des scheinbar sinnlos Aufgereihten zeigt sich nicht nur in der Geräuschspur des Hörspiels, sondern auch in den Texten und in der Musik: Den Familienmitgliedern sind einzelne monologische Sätze zugeteilt, die erst im Verlauf der Inszenierung zu (Pseudo-)Dialogen ineinandergeschoben werden sollen; der Klavierpart besteht aus Figurationen von Akkorden, die für sich stehen und auf verschiedene Weisen miteinander kombiniert werden können. Hier artikuliert sich Aleatorik als Mittel der Medienkritik - als Darstellung von Sprache, deren kommunikative Möglichkeiten offensichtlich verstümmelt sind, und von auf willkürliche Muster isolierter tonaler Akkorde reduzierte Musik.

Mauricio Kagels Fernseh-Hörspiel "Soundtrack" reduziert die technisch vermittelte Musik, das Klavierspiel aus dem Lautsprecher, zur altmodischen, chancenlosen Alternative gegen das Fernsehen - und dies, obwohl selbst die sanften vagierenden Sextakkorde "sinnvoller" erscheinen könnten als die gedankenlos brutalen Geräusche und Redensarten, die aus dem Fernseher oder Wohnzimmer kommen. - Bezeichnend ist, daß der Musiker seine Fernsehkritik hier nicht im Fernsehen selbst artikulieren kann, sondern "nur" im Radio, dem ihm viel besser zugänglichen Medium. Mauricio Kagel, der in den sechziger Jahren wegweisende Beiträge zu völlig neuen Konzeptionen des Fernseh-Musikfilms geliefert hatte, hat progressive Medienarbeit in den siebziger und achtziger Jahren vor allem im Radio geleistet, in seinen Hörspielen. (Seit dieser Zeit sind auch Fernsehproduktionen in seiner Arbeit nicht selten - z. B. im Falle der 1976 uraufgeführten "Kantrimusik" - eher einfallsreich gefilmte Musik-Aufführungen als ästhetisch eigenständige Musikfilme.) Im Falle Kagels zeigt sich besonders deutlich, daß gerade die exponiertesten Vertreter einer musikalischen Medienkunst, die über die Grenzen des bisherigen Musikverständnisses hinausstrebt, es oft besonders schwer haben: Über das Radio erreichen ihre Arbeiten günstigenfalls einen relativ kleinen Kreis intensiv Interessierter, in das Programmangebot der audiovisuellen Medien Kino oder Fernsehen lassen sie sich oft nur schwer integrieren.

Die Isolation der Medienmusik von integralen Zusammenhängen der audiovisuellen Medienkunst ist um so befremdlicher, als viele Medienmusiker stark von der Ästhetik des Film beeinflußt sind - und trotzdem in ihrer eigenen Arbeit über die Isolation des Akustischen nur schwer hinauskommen. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in Klangproduktionen, die den jahrzehntelangen Vorsprung der Filmkunst offen einbekennen und gleichwohl aufzuholen versuchen.

Z: Henry, La Ville - Train (entspr. Ruttmann-Film Berlin Sinfonie einer Großstadt Bildanfang nach

Schwarzfilm-Anfangsabschnitt)

Pierre Henry - der 1927 geborene "konkrete" Musiker, der sich schon in jungen Jahren intensiv für Filmkunst und Filmmusik interessierte - hat 1984 ein Hörspiel realisiert, dessen Klangmontagen nach seinen eigenen Worten von Bildmontagen eines berühmten Stummfilms inspiriert sind: "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" von Walter Ruttmann. Erst nachträglich hat Henry versucht, die Sequenzen seines Hörstückes - mit einigen Abwandlungen und Umstellungen - Ruttmanns Film zu unterlegen (wobei zum Beispiel aus der Eisenbahnsequenz, die eigentlich im Inneren des Hörspiels steht, die Eröffnungsmusik zu Ruttmanns Film-Einleitung wurde, zur Eisenbahnfahrt nach Berlin). Henry, der seit den fünfziger Jahren eine große Anzahl von Filmmusiken realisiert hat (und der aus seinem umfangreichen filmmusikalischen oeuvre 1995 eine Hörspielproduktion für das Studio Akustische Kunst des WDR entwickelte) ist anläßlich der Produktion seines Hörspiels "La Ville - Die Stadt" gewissermaßen nachträglich zum Komponisten eines weiteren Films geworden - wobei seine Sequenzen gegenüber den Details der Bildfolge selbständig bleiben - in ähnlicher Weise, wie es Josef Anton Riedl in diversen Filmmusiken seit den frühen sechziger Jahren praktiziert. Bei Riedl ebenso wie bei Henry zeigen sich Ansätze, der Filmmusik im Kontext autonomer Medienmusik größeres Gewicht zu verleihen - in später Befolgung von theoretischen Postulaten an den Tonfilm, die verschiedene Theoretiker und Praktiker schon in den zwanziger Jahren aufstellten.

Z: La Ville Eveil Höhepunkt und Abdämpfung - Anfang der flg. Sequenz (Einzelschritte, Tür aufschließen)

Henrys Verfahrensweisen lassen sich in vielen Fällen erklären als Übertragung von Techniken des Stummfilms auf die Klangproduktion - insbesondere von Techniken der Montage, teilweise auch der Mischung. Somit wird Henrys Klangkunst zum Gegenmodell einer Musikauffassung, in der die traditionelle live-Musikpraxis immer noch eine entscheidende Rolle spielt. Damit wird Henry zum Antipoden eines anderen berühmten Medienkünstlers: John Cage.

Z: Cage, Roaratorio (Anfang)

Seit den dreißiger Jahren ist John Cage auf anderen Wegen zur Medienkunst gekommen als, ein Jahrzehnt später beginnend, Pierre Henry. Cage ging es um eine universelle Geräusch- und Klangkunst, für deren Verwirklichung ihn technische Medien vorrangig als Mittel zum Zweck interessierten - weniger als eigenständiger Erfahrungsbereich, der den Künstler von vorneherein zur radikalen Revision aller seiner bisherigen Vorstellungen zwänge. Anders als bei Henry sind auch die Medienkompositionen von Cage stets noch in erster Linie Partituren für Interpreten - nicht im Studio entstandene, vom Komponisten selbst ohne externe Vorgaben hergestellte Produktionen: Zu den Interpreten konnte allerdings auch Cage selbst gehören - beispielsweise in den dreißiger und vierziger Jahren als Mitglied seines Geräuschorchesters oder im folgenden Jahrzehnt beispielsweise als Realisator der 1952 als Montageanweisung geschriebenen Tonbandpartitur "Williams Mix" oder, in gleicher Funktion, 1958 als Realisator der graphisch notierten (auch mit instrumentalen Klangmitteln realisierbaren) Komposition "Fontana Mix". Der entscheidende Unterschied zwischen John Cage und Pierre Henry besteht darin, daß Henry, anders als Cage, immer primär als Produzent seiner eigenen Klänge, Klangverarbeitungen und Klangmontagen tätig wird - und eben dies erklärt, daß Henry, wiederum anders als Cage, eine große Affinität zum Film erkennen läßt, besonders zum Stummfilm.

Z: Henry: L´homme à la caméra. Überlagerte Periodizitäten. Nr. 9

Ansätze filmisch inspirierter Lautsprechermusik, wie sie bereits 1984 in "La Ville - Die Stadt" im Rahmen eines Hörstückes finden (das dann erst nachträglich zur Filmmusik umgearbeitet wurde), hat Pierre Henry 1991 weitergefährt in einer Produktion, die von vorneherein konzipiert ist als Begleitmusik zu einem Stummfilm: "Der Kameramann" von Dziga Vertov, eine Produktion aus dem Jahre 1929. In seiner Musik zu diesem Film begleitet Pierre Henry Bilder der späten zwanziger Jahre mit Klängen, die die Aura populärer Medienmusik der frühen neunziger Jahre wachrufen.

Z: Henry: L´homme à la caméra. Forts. der vorigen Zuspielung (Nr. 9)

In Pierre Henrys Koangmontagen und Klangmischungen artikuliert sich Medienmusik als Kunst der befreiten Klänge - als Konsequenz von Entwicklungen der technisch produzierten Hörkunst, die schon Jahrzehnte früher eingesetzt hatten.

Z: Edison. 1. Aufnahme 1877

Die älteste Klangaufzeichnung der Geschichte stammt aus dem Jahre 1877: Thomas Alva Edison feiert die Erfindung seines Phonographen, indem er sich selbst aufnimmt. Er singt das populäre Lied "Mary had a litttle lamb", und dann lacht er. Schon in dieser Aufnahme lassen sich drei verschiedene Dimensionen erkennen: Sprache (der gesungene Text) - Musik (das Lied) - Geräusch (das Lachen). Beim Hören der Aufnahme sind alle drei Dimensionen gleich wichtig - und damit ergibt sich eine grundsätzlich andere Situation als in aufgeschriebener Spracbe oder in aufgeschriebener Musik, wo ein begleitendes Lachen allenfalls durch knappe und nur approximative Zusatzbezeichnungen angegeben werden könnte. Wenn solche Aufnahmen mehrmals abgehört werden, kann der Hörer genauer auf Merkmale achten, die er im vergänglichen live-Hörerlebnis vieleicht nicht angemessen berücksichtigt: auf den Klang einer Stimme, auf Besonderheiten der Geräuschfärbung oder der musikalischen Artikulation und auf anderes mehr. Deutlich wird schon an diesem einfachen Beispiel, daß technisch produzierte Klänge neue Hörperspektiven eröffnen - und zwar Perspektiven eines "reduzierten Hörens", das konservierte Klänge unabhängig von den visuellen Begleitumständen ihrer Entstehung wahrnimmt. So erschließen sich:

- konservierte Geräusche in ihrem klanglichen Eigenlegen, weitgehend abgelöst von mit ihnen verbundenen realen Vorgängen;

- konservierte Stimmen und Sprachlaute in ihren nonverbal-klanglichen Besonderheiten,

auch jenseits des in der Schrift Fixierbaren;

- fixierte Musik in Feinheiten der Interpretation, die die Notation nicht zu fixieren vermag.

So lange sich Klänge auf technischem Wege nur reproduzieren, aber nicht produzieren ließen, mochten diese Veränderungen eher den Hörer betreffen als den schaffenden Künstler. Noch viele Jahrzehnte mußten vergehen, bevor sich direkt für technische Medien bestimmte Klangkunst durchsetzte: Kunst für Stimmen und Sprachlaute auch jenseits eines geschriebenen Textes - Klangkunst auch jenseits der überlieferten Notation - Kunst, für deren technische und ästhetische Grundvoraussetzugnen es unerheblich blieb, ob Geräusche, Sprache oder Musik aufgenommen und später reproduziert wurden; integrative Akustische Kunst also, in der etwa die herkömmlichen Abgrenzungen zwischen Literatur und Musik fragwürdig geworden sind. Auffällig ist allerdings, daß die historischen Spuren dieser Klangkunst im öffentlichen Bewußtsein heute bei weitem weniger verankert sind als Dokumente aus der Geschichte von Fotografie oder Stummfilm. Fotos oder Filmsezenen von wichtigen Personen und Ereignissen der neueren Geschichte sind besser bekannt als entsprechende Tonaufnahmen.

Z: evtl. Stimme Kaiser Franz Joseph 1905

Die Eroberung von Lüttich

Fotografie und Film haben sich offensichtlich so entwickelt, daß schon frühzeitig deutlich wurde, wie weit sie hinausgehen konnten über die angebliche Verdopplung einer vorgeblichen Realität: Die Bilder entfalteten ihr Eigenleben - und wahrgenommen wurden nicht nur die abgebildeten Gegenstände, sondern auch Besonderheiten der Art und Weise, in der sie mit Hilfe technischer Geräte gesehen und dargestellt wurden. In der Akustischen Kunst (bzw. in ihren Vorformen) blieben solche Besonderheiten lange Zeit unbeachtet: Es dominierte das Interesse für das Aufgenommene, aber nicht für die Klangregie der Aufnahme. Wesentliche Veränderungen dieser Situation ergaben sich erst in den zwanzhiger Jahren, als für das neue Medium Radio künsterlisch ambitionierte Hörstücke und Hörspiele entstanden - Produktionen, die uns in etlichen, auch wichtigen Fällen heute nur noch in Rekonstruktion oder Neuinszenierungen aus späterer Zeit zugänglich sind.

Techniker ebenso wie Regisseure wahren jarhzenntelang mit der Situation konfrontiert, daß Hörbares und Sichtbares sich nur getrennt voneinander aufnehmen und r eproduzieren ließen, daß also unter dem Einfluß der Technik Hör- und Sehwarhnehmung zunächst rigoros voneinander isoliert wurden. Im Stummfilm, in der Kunst der unhörbaren Bilder und Bildfolgen, wurde dies durch die Filmmusik komponsiert - durch improvisierte oder komponierte Musik, die zur Begleitung der technisch produzierten Bilder live wiedergegeben wurde. Schon damals, in den Anfangszeiten der Filmmusik, wurde das Publikum daran gewähnt, moderne, von den Techniken des Schnitts und der Montage geprägte Seherfahr ungen zu kombinieren mit Hörerfahrungen einer traditionellen live-Musikwiedergabe. Moderne Sehgewohnheiten verbanden sich mit weiterhin konventionellen Hörgewohnheiten. Seit Jahrzehnten erwartet niemand mehr, daß Filme der traditionellen Theater-Dramaturgie folgen, daß sie dem Betrachter die Illusion des live-Erlebnisses vortäuschen. In der Musik aber - besonders in der sogenannten "ernsten" Musik - gibt es noch in den neunziger Jahren viele Hörer, die zumindest die Illusion eines live-Erlebnisses erwarten; die lieber konventionelle Musikdarbietungen erleben als sich mit der Tatsache abfinden wollen, daß differenzierte Medienmusik sich nicht einfach mit den begrenzten Möglichkeiten der live-Interpretation begnügen kann. Der historische Rückstand der Hörgewohnheiten gegenüber den Sehgewohnheiten beträgt für viele Hörer mehr als ein halbes Jahrhundert. Auf ihn dürfte auch Pierre Henry sich bezogen haben, wenn er noch in den achtziger und frühen neunziger Jahren Musik komponierte, die von Stummfilmen der zwanziger Jahre inspiriert oder sogar als deren Begleitmusik konzipiert ist.

In der Hörspieldramaturgie der zwanziger und frühen d reißiger Jahre setzten sich Tendenzen durch, die in der Folgezeit auch den Tonfilm prägen sollten: Das Klangliche bleibt sekundär, es wird den Erfordernissen einer erzählenden Dramaturgie untergeordnet - zum Beispiel so, daß unsichtbare Geräusche, unsichtbare Stimmen und unsichtbare Musik als Dekor einer Geschichte eingeführt werden, inder tatsächlich nichts zu sehen ist. Ein Beispiel: Mehrere Personen befinden sich in den Gängen eines Bergwerkes. Plötzlich gibt es eine Explosion, und das Licht fällt aus.

Z: Richard Hughes, Danger (A Comedy of Danger)

Szenarien aus der Frühzeit des Hörspiels, die in späterer Zeit nicht s elten mit moderneren Möglichkeiten der Aufnahmetechnik und Regie nachgestellt wurden, haben die Verwendung unsichtbarer Klänge einerseits dramaturgisch motiviert, andererseits aber auch der illusionistischen Vorspiegelung von live-Erlebnissen angenähert und insofern traditionalistisch abgeschwächt. Die total verfinsterte "innere Bühne" des Bergwerksschachtes war dabei ein nur selten praktikabler Extremfall; plausibler war es beispielsweise, "unsichtbare Klänge" darzustellen aus der Bezugsposition eines geschlossenen Raumes, in den von außen Geräusche hereinkommen.

Z: Straßenmann, Treppenhausszene

In dem 1930 produzierten Hörspiel "Straßenmann" von Hermann Kesser gibt es eine Treppenhaus-Szene, in der Stimmen vor und hinter verschiedenen Wohnungstüren zu hören sind - eine in Episoden gegliederte, live gespielte Szene, in der dramaturgischen Vortäuschung einer Montagestruktur (bei der gleichsam Szenen an Wohnungstüren verschiedener Etagen aneinandermontiert werden). Hier geht es um den Wechsel nicht nur verschiedener Sätze, sondern vor allem auch verschiedener Stimmen. Der letztere Aspekt, der Aspekt der Stimmregie, entzieht sich der literarischen Fixierung, aber er ist für die Wirkung dieser Szene entscheidend. Die Szene überschreitet die dramaturgischen Grenzen der traditionellen Funkerzählung, und sie konzentriert sich auf die technisch vermittelten Klänge einzelner Stimmen - unverwechselbar, wie die Gesichter von Filmschauspielern. Dies ist ein herausragendes Beispiel medienspezifischer Stimmregie - ein Beispiel, dem sich nicht ohne we it eres ein vergleichbar prägnantes Beispiel medienspezifischer Musikregie an die Seite stellen läßt.

Die radiophonische Musikregie der zwanziger und frühen dreißiger Jahren blieb weitgehend traditionellen dramaturgischen und musikalischen Vorstellungen verhaftet - selbst in den musikalischen Nummern, die Paul Hindemith und Kurt Weill für Bertolt Brechts Lindberghflug komponierten. Mehr noch: Die Benutzung moderner Massenmedien für regressive Ideologien hat spätestens in den frühen dreißiger Jahren auch die Musik in ihren Bann gezogen: Im 1932 entstandenen Hörspiel Eine preußische Komödie von Paul Rehberg gibt es eine Szene, in der die Musikregie gleichsam die sogenannte Musikergreifung am 30. Januar 1933 vorwegnimmt: Die Beschwörung des Geistes von Langemarck mündet im Deutschlandlied - ganz ähnlich, wie später die Radioreportage über Hitlers Einzug in die Reichskanzlei (und, daran anknüpfend, von Goebbels inszenierte Wochenschauen dieses Jahres, deren krönender Abschluß das Deutschlandlied bildete - wie das ideologisch pervertierte Gegenstück zum Schlußchoral einer Bach-Kantate).

14 Eine preußische Komödie

15 30.1.1933

Musik übernimmt im Zeitalter der Massenmedien nicht selten die Funktion der rückwärts gewandten live-Illusion. Tendenzen der Öffnung zum Geräusch, wie sie seit den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts in der Avantgardemusik eine wichtige Rolle spielten, wurden in der medienspezifischen Massenmusik allenfalls ansatzweise aufgegriffen - beispielsweise in einigen Musiksequenzen Kurt Meisels zu Eisensteins Potemkin-Film. Im Medienalltag aber rechnete man Geräusche nicht zur Musik, sondern zum pseudo-realistischen Dekor einer pseudo-realistischen Handlung. So findet man Sirenen, mit denen Edgar Varèse in Kompositionen der zwanziger und frühen dreißiger Jahren experimentierte, damals als akustische Requisiten eines erzählenden Hörspiels - SOS Rao rao foyn - von Friedrich Wolf. Wie ungewohnt und schwierig Verfahren einer modernen Geräuschregie auch in der Folgezeit noch bleiben, zeigt sich einerseits in dem sensationellen Überraschungserfolg von Orson Wells Krieg der Welten, andererseits, nur wenige Jahre später, im Scheitern des ersten Hörspielexperiments von John Cage. Am 13. August 1979, nach dem Abschluß einer nunmehr gelungenen Hörspielproduktion, des Roaratorio, hat Cage Klaus Schöning, seinen Auftraggeber im Hörspielstudio des WDR, über die negativen Erfahrungen des Jahres 1942 berichtet.(John Cage, Roaratorio:Ja, das Stück hieß "The City Wears a Slouch Hat" von Kenneth Patchen, und ich hatte vor, die Geräusche, die in dem Stück vorkamen, herauszusuchen und eine Musik, die aus diesen Geräuschen bestehen sollte, zu komponieren. Aber ich hatte keinen Erfolg in diesem Fall.S. 192; Roaratorio: Es war wohl noch zu kompliziert für die damalige Zeit. Die Technologie, die wir damals hatten, ließ es noch nicht zu, wir hatten keine 16-Spur-Maschinen, wir hatten überhaupt noch keine Tonbandgeräte zu dieser Zeit. Das kam später, Ende der vierziger Jahre.,S. 92) So blieb es dabei, daß, abgesehen von einigen anderen medienspezifischen Arbeiten von John Cage, die Musik der Mediengeschichte der frühen vierziger Jahre eine eher konventionelle Rolle spielte - sei es als funkisch verzerrtes Weihnachtslied Stille Nacht , das der reichsdeutsche Rundfunk 1942 an allen Fronten, auch in Stalingrad, anstimmen ließ, sei es, fast zwei Jahre später, im Gesang der Marseillaise bei der Befreiung von Paris im August 1944. In einer Dokumentaraufnahme aus dieser Zeit ist ein Gespräch zwischen Radiopionier Pierre Schaeffer und dem Schriftsteller Paul Eluard zu hören,; von außen ergänzt durch den Jubel der Massen und dem Gesang der Marseillaise - Sprache, Geräusche und Musik in einer Hörspielszene, die nicht inszeniert, sondern das Resultat live mitgeschnittener Zeitgeschichte ist.

16 Paris 1944: Schaeffer, Eluard Jubel Marseillaise

Soirée Schaeffer, CD D16

Aus den Kriegsjahren ist uns eine singuläre Hörspielszene erhalten, die Zeitgeschichte im experimentellem Klang einfängt: La coquille à Planètes (Die Planetenmuschel) von Pierre Schaeffer mit akustischen Remineszenzen an den Luft- und Bodenkrieg jener Jahre. Hier findet sich eine künstlerische Gestaltung aktueller geschichtlicher Erfahrung - kurze Zeit, bevor die Lösung der hier dargestellten Konflikte sich in realen Tondokumenten artikulieren.

17 La Coquille à Planètes

Während des zweiten Weltkrieges, zur Zeit des Vichy-Regimes und der deutschen Besetzung Frankreichs, hat Pierre Schaeffer in Beaune ein radiophones Versuchsstudio aufgebaut, und er hat in dieser Zeit vorgearbeitet für die Radioarbeit des für die Zukunft erhofften befreiten Frankreich. !944, bei der Befreiung von Paris, hat sich Pierre Schaeffer mit praktischer Radioarbeit an entscheidender Stelle engagiert. Dies sicherte ihm auch für die Zukunft maßgeblichen Einfluß - einen Einfluß, der ihm später auch Freiräume sicherte, von dort die musique concrète zu etablieren; einen Einfluß, den in den dreißiger Jahren Edgard Varèse in den USA nicht hatte erringen können, so daß er, anders als Schaeffer, zunächst kein Studio bekam, um seine experimentelle Musik und Medienkunst zu realisieren. Varèse mußte bis 1954 warten, als Schaeffer ihn in sein Pariser Studio einlud und ihn dort, zusammen mit Pierre Henry, die Tonband-Interpolationen seiner Déserts realisieren ließ.

18 Déserts Interpolation I

Das Hörspiel ebenso wie die musique concrète (in wichtigen Bereichen auch die Elektronische Musik) entstanden und entwickelten sich als Produkte moderner medienspezifischer Radioarbeit. Zusammenhänge der neuen Medienkunst mit traumatischen Erfahrungen aus der Zeit des zweiten Weltkrieges sind besonders deutlich bei Schaeffer zu erkennen - nicht nur in Produktionen aus den Kriegsjahren, sondern auch aus der Rückschau späterer Jahre, etwa am Anfang der (gemeinsam mit Pierre Henry realisierten) Sinfonie pour un homme seul (Sinfonie für einen einsamen Menschen), wenn pochende Geräusche und Rufe zu hören sind, die den einen an Anfangssignale einer alten Theatervorstellung erinnern würden, andere, wie nicht zuletzt Schaeffer selbst, an den nächtlichen Terror der Gestapo.

19 SHS Anfang

Medienmusik und Medienkunst sind Dokumente nicht nur der Zeitgeschichte, sondern auch der Mediengeschichte. Darauf hat auch Pierre Schaeffer hingewiesen. Nach seinen Worten entstand die musique concréte aus der Erweiterung jener dramatischen Kunst für Blinde, des Hörspiels nämlich, das ebenfalls im Rundfunk entstanden war. (Pierre Schaeffer: Musique Concrète S. 242).

Karlheinz Stockhausen, der 1952 einige Zeit in Schaeffers Studio gearbeitet hatte und anschließend zum wichtigsten konzeptionalen Pionier der Elektronischen Musik wurde, hat für die Entwicklung einer medienspezifischen neuen Radiomusik andere Vorstellungen entwickelt - in klarerer Distanzierung zur musikübergreifenden Gattung des Hörspiels, in umso stärkerer Akzentuierung funkspezifischer Produktionsbedingungen. 1958 schrieb er in seinem Werk Elektronische und instrumentale Musik :

Wo wird elektronische Musik produziert?

Das erste Studio wurde im Kölner Rundfunk gegründet: Das ist bezeichnend;

denn die heutigen akustischen Kommunikationsmittel,

über die wir verfügen -

und die vielleicht auch über uns verfügen -

sind in der Hauptsache Rundfunk, Tonband und Schallplatte.

Tonband, Schallplatte und Rundfunk

haben das Verhältnis von Musik und Hörer tiefgreifend geändert.

Die meiste Musik wird am Lautsprecher gehört.

Und was haben Schallplatten- und Rundfunkproduzenten bisher getan?

Sie reproduzierten; reproduzierten eine Musik,

die in vergangener Zeit für Konzertsaal und Opernhaus geschrieben wurde, gerade als ob der Film sich nur damit begnügt hätte, die alten Theaterstücke zu photographieren.

Obgleich nun der Rundfunk eine solche Konservenfabrik geworden war, geschah etwas Unerwartetes:

Elektronische Musik kam ins Spiel;

eine Musik,

die ganz funktionelle aus den spezifischen Gegebenheiten des Rundfunks hervorging;

Die Hörer am Lautsprecher

werden früher oder später verstehen,

daß es sinnvoll ist,

wenn aus dem Lautsprecher Musik kommt,

die man nur am Lautsprecher und nirgendwo sonst empfangen kann.

(Texte 1, 140 ff.)

20 Gesang Anfang

Heute, fast vier Jahrzehnte nach Stockhausens Prophezeiung, gibt es immer noch gewichtige Gründe zum Zweifel daran, ob sie sich tatsächlich erfüllt hat. Als radiophone Musik par excellence hat sich die Elektronische Musik immer noch nicht durchgesetzt: Womöglich hat Stockhausen die Möglichkeiten der raschen Realisierung avancierter Medienkunst damals überschätzt - im Radio ebenso wie im Fernsehen, für dessen künftige Praxis er damals prophezeite, "daß man die Kamera, dem Mikrophon des Rundfunks entsprechend, nur noch für aktuelle live-Reportagen oder überhaupt nicht verwendet und statt dessen fernseheigene, elektronisch-optische Kompositionen sendet."

Stockhausen dachte damals an Medienkünste der synthetischen Klänge und der synthetischen Bilder. Aus der Erfahrung bekannte Bilder und Klänge hielt er damals für nicht weniger veraltet als traditionelle Praktiken der live-Aufführung im Konzertsaal. - Inzwischen ist allerdings deutlich geworden, daß Stockhausen selbst diese rigorose Position in seiner eigenen kompositorischen Praxis modifiziert hat. Niemals hat er aufgehört, live aufzuführende Instrumentalmusik für den Konzertsaal zu schreiben. Überdies hat er - spätestens seit dem 1956 aufgeführten Gesang der Jünglinge auch mit dem Mikrophon aufgenommene Klänge in seiner Tonbandmusik akzeptiert. Mehr noch: Seit der 1960 uraufgeführten Komposition Kontakte ist es in Stockhausens Tonbandmusik fast zur Regel geworden, daß sie im Konzertsaal unter der (meist fakultativen) Mitwirkung von live-Interpreten aufgeführt wird. Stockhausen hat aber schon frühzeitig versucht, traditionelle, vom Notentext für live-Interpreten ausgehende Kompositionsweisen und Aufführungspraktiken in seine Arbeit zu intergrieren. Wenigstens in dieser Hinsicht ließ er auch in den sechziger Jahren noch Affinitäten zu seinem Antipoden John Cage erkennen: Stockhausen ebenso wie Cage versuchten, die elektroakustischen Techniken aus der Exklusivität des Studios herauszulösen und einzubinden in das Erfahrungsfeld der live-Aufführung, sogar der Aufführung im traditionellen Konzertsaal. So wurde der Schock der bis dahin "unsichtbaren" Lautsprechermusik wenigstens teilweise gemildert, und diese wurde wiederum der traditionellen Instrumentalmusik angenähert, wobei auch aus der Vergangenheit bekannte Rollen-Aufteilungen zwischen Komponist und Interpret wieder ganz oder teilweise in Kraft gesetzt werden konnten

Unter den Werken, die Cage und Stockhausen in den sechziger Jahren realisierten, verstärken sich Tendenzen der interpretatorischen Freiheit bis in Extremsituationen hinein: Nur vereinzelt zeigten sich damals auch entgegengesetzte Tendenzen - z.B. bei der Einbeziehung fixierter Konserven traditioneller Musik in Aufführungen der Variations IV von John Cage und in Stockhausens Hymnen USA.

21 Variations IV

22 Hymnen USA

Mit der Rückkehr zur vorgegeben Musik kündigte sich eine Trendwende an: Sowohl Cage als auch Stockhausen kehrten Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre weitgehend zur traditionellen Notenschrift zurück, während sich das Verhältnis zwischen Komponist und Interpret weiterhin veränderte, traditionellen Rollenverteilungen noch stärker annäherte. Beide Komponisten interessierten sich in den siebziger Jahren auch verstärkt für Musik mit herkömmlichen vokal-instrumentalen Klangmitteln. Selbst in Stockhausens elektronischen Hauptwerk der siebziger Jahre, Sirius, ist die Tonbandpartie so gestaltet, daß die Tonhöhenverläufe von Sängern und Instrumentalisten weitgehend mitgespielt und mitgesungen werden können.

23 Sirius

Die Annäherung der Medienmusik nicht nur an traditionelle Aufführungspraktiken, sondern auch an die traditionelle Notation, wie sie Stockhausen seit den siebziger Jahren als Konsequenz seiner Konzeption der Formelkomposition betrieb, mag in der Entwicklung der Medienmusik eine Extremsituation darstellen - zumal Stockhausen selbst in seinen Medienkompositionen immer wieder in Bereiche vorstößt, die sich der traditionellen Notation entziehen. Trotzdem läßt sich feststellen, daß seit den siebziger Jahren, als neue Techniken sich in der Elektroakustischen Musik durchzusetzen begannen, gleichwohl kompositorische und ästhetische Rückwege gesucht wurden - vor allem Wege der Instrumentalisierung technisch produzierter Musik, auch der Annäherung technisch produzierter Klänge an populäre Assoziationsfeldern der Natur, der technischen Welt oder galaktischer Phantasiewelten. Tendenzen der Semantisierung der elektroakustischen Musik zeigten sich in den siebziger Jahren nicht nur in Stockhausens Sirius, sondern auch mit anderen Inhalten, bei Iannis Xenakis. In La Légende d'Eer als galaktische Musik, in Pour la Paix als sprachlich-musikalisches Manifest gegen den Krieg. Damit änderte Xenakis strikte Positionen der formalisierten Tonbandmusik, wie er sie zuvor besonders in elektroakustischen Produktionen der späten fünziger Jahren bezogen hatte. - Auch bei Jean-Claude Risset finden sich - besonders in den politisch unruhigen späten sechziger Jahren, Tendenzen einer Semantisierung experimenteller Klangstrukturen. In der Computersuite Little Boy verwendet Risset Endlosglissandi als Klangsymbol des Atombombenabwurfs, des physischen und psychischen Sturzes ins Bodenlose.

24 Little Boy

Das Verhältnis zwischen Musik und Technik bleibt vielschichtig und schwierig - sei es in vollständig fixierten Studioproduktionen, sei es in Kompositionen mit live-Elementen, auch in Verbindungsformen fixierter und live aufzuführender Strukturen, sei es in analogen, sei es in digitalen Techniken, sei es in abstrakten, sei es in die tägliche Erfahrung dokumentierenden oder verwandelnden Klangwelten.

Neue Fragestellungen für das musikalische Hören ergeben sich aus Anregungen einer Musik, die ihren definierten Platz im Musikleben bis heute noch nicht gefunden hat. Die technisch bedingte Isolierung von Gesichts- und Gehörsinn sind die vordergründigen Versuche, beide Sinne auf unterschiedlichen Stufen der Differenzierung und Entwicklung gleichwohl vordergründig zusammenzubringen, haben beträchtliche Schwierigkeiten provoziert. All dies hat dazu beigetragen, daß die technisch produzierte Musik einen angemessenen Platz in dem von Technik beherrschten Musikleben bis heute noch nicht gefunden hat - weder in den Medien, noch in einzelnen Aufführungen, noch auf größeren Festivals.

Die Schwierigkeiten, neue technische Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der musikalischen Wahrnehmungsfähigkeit zu nutzen, sind offenkundig. neue technische Möglichkeiten sind nicht selten schon vorhanden, bevor der Musiker nach ihnen gesucht hat. Zu hoffen bleibt, daß neue Prinzipien der musikalischen Gestaltung, neue Erfahrungsbereiche der musikalischen Wahrnehmung und neue Strukturen des Musiklebens sich künftig in ihren Entwicklungstendenzen nicht voneinander entfernen, sondern aufeinander zubewegen.

In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts beginnt deutlich zu werden, daß viele exponierte Komponisten dieses Saeculums dazu beigetragen haben, die anstehenden Probleme zu erkennen und voranzutreiben:

- Edgar Varèse hat differenzierte Mischformen hochartifizieller und spontaneistischer Klangestaltung und Klangverbindung entwickelt, die auch Komponisten späterer Generationen nachhaltig beeindruckten. z.B. Iannis Xenakis und - in ganz anderer Weise - Wolfgang Rihm.

- John Cage hat Ansätze der Geräusche- und Medienkunst entwickelt, die bis zur (durch Zufallsverfahren vorstrukturierten) kompositorischen Unbestimmtheit und zur völligen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Komponist, Interpret und Hörer führen.

- Pierre Boulez und - in ganz anderer Weise - der späte Luigi Nono, haben, nach ersten Erfahrungen mit vorproduzierter Tonbandmusik - sich später umorientiert zu instrumental-elektroakustischen Mischformen und zu live-elektronischen Erweiterungsformen der traditionellen Musikpraxis.

- Pierre Schaeffer, Pierre Henry, Francois Bayle und andere Exponenten der musique concrète sind Schöpfer von Verfahren der experimentellen Klangforschung, von vielfältigen Montage- und Mischtechniken einer universellen Klangkunst, die nicht von festen traditionellen Parametern ausgeht, sondern von inneren Differenzierungen und Bewegungsformen komplexer Klänge.

- Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig haben versucht, in serieller elektronischer Musik die traditionelle Instrumentalmusik zunächst im Hegelschen Sinne aufzuheben - was Stockhausen in der Folgezeit auf die Suche nach Verbindungsmöglichkeiten zwischen tradierten und neuen Kompositions- und Aufführungsfomen brachte, während Koenig den umgekehrten Weg einer verstärkten Formulierung wählte und auf diesem zur Computermusik gelangte.(zunächst vorwiegend in mit dem Computer nach Kompositionsprogrammen berechneten Partituren instrumentaler Musik; von hier aus Schritt für Schritt sich annähernd an die Formalisierung der Transformation und Generation synthetischer Klänge.- Die Möglichkeiten einer aus dem seriellen Musikdenken hervorgehenden Computermusik haben auch jüngere Komponisten beeinflußt, z.B. Clarence Barlow in der live-Version und in der synthetischen Version seines Klavierstückes Cogluotobüs- ismetessi.

- Iannis Xenakis hat mit verschiedenen Ansätzen seiner formalisierten Musik, vor allem in seiner elektroakustischen Musik, radikale Antithesen zum traditionellen Musikdenken entwickelt.

. Vertreter der musikübergreifenden Medienkunst von Walter Ruttmann bis Ferdinand Kriwet haben sich entschlossen, die Klangmaterialien und Vermittlungsformen der Musik auch in musikübergreifenden Zusammenhängen zu entdecken, zu organisieren und zu entwickeln. Ihr Denken gibt in dieser Hinsicht grenzüberschreitende, polyästhetische und polymediale Impulse, so wie sie in anderer Weise auch Musiker wie John Cage, Pierre Henry. Josef Anton Riedl und andere vermitteln.

Die technisch produzierte Medienkunst beleuchtet zentrale Probleme des Hörens, insbesondere:

- Das Problem des Verhältnisses zwischen Form und Struktur - zwischen dem sinnlich wahrzunehmenden Hörergebnis einer Musik und der Gesamtheit der technischen bzw. kompositionstechnischen Prozesse, die dieses Resultat hervorgebracht haben.

- Das Problem des Verhältnisses zwischen abstrakten und konkreten Höreindrücken - vereinfacht gesagt:

Zwischen Musik-Hören im engeren Sinne und Hörspiel-Hören.

- Das Problem des Verhältnisses zwischen (pseudo-)realistisch, konventionell abbildenden, die vorgegeben Realität verändernden (verfremdenden) und neue Realitäten setzende Klänge.

Jean Claude findet in vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten des Computers Verbindungs- und Vermittlungsformen zwischen instrumentalen und studiotechnisch geprägten Kompositionsverfahren, zwischen live gespielten und technisch vorgeprägten Klängen, zwischen instrumentaler Aktion und verschiedenen Möglichkeiten ihrer interaktiven Weiterentwicklung, zwischen konkreten und elektronischen Klängen.

Neue Strukturen des Musiklebens, in denen auch die angesprochenen und andere Probleme des Hörens einen neuen Stellenwert gewinnen könnten, haben sich bis heute noch nicht entgültig durchgesetzt. Ihre Notwendigkeit wird deutlich, umso mehr, je stärker die Musik sich von den tradierten Modellen der live-Interpretation löst. Noch immer ist nicht klar entschieden, ob die technisch vermittelte Kunst weiterhin ein Schattendasein im traditionellen Musikleben fristet oder sich eigene Orte suchen kann und soll, so wie der Film sie in Kino und Fernsehen, abseits der Theater, längst gefunden hat.

Die Frage nach der Zukunft der technisch produzierten Musik ist auch eine Frage nach neuen Formen des Umgangs mit Musik - des Hörens und Machens, des Reflektierens und Vermittelns, der Wahrnehmung der Weiterentwicklung und der Entdeckung neuer Möglichkeiten.



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