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Rudolf Frisius
CONCERT IMAGINAIRE
Neue Entwicklungen in der Musik des 20. Jahrhunderts:
Die Lautsprechermusik
Z: concert imaginaire, entrée 27´´
Am 6. Januar 1995 wurde in der "Salle Olivier Messiaen" des Pariser Rundfunks ein Jubiläum gefeiert: Zehn Jahre war es her, daß in Frankreich die erste - und zugleich die bisher erfolgreichste - compact disc Neuer Musik veröffentlicht wurde. Ihr Titel: Concert imaginaire, Imaginäres Konzert. Diese compact disc, die seinerzeit von der Fachkritik enthousiastisch gefeiert wurde und in der Folgezeit mit 50 000 Exemplaren eine Spitzenstellung in den Absatzzahlen avantgardistischer Tonträger eroberte, enthält eine Zusammenstellung kurzer Stücke aus dem Repertoire des Pariser Studios des "Groupe de Recherches Musicales" - Werke von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, Ivo Malec, Bernard Parmegiani, Francois Bayle, Michel Chion, Jean Schwarz, Jaques Lejeune, Denis Dufour, Philippe Mion und Christian Zanesi. Der disc liegt ein viersprachiges booklet bei (in französisch, englisch, deutsch und japanisch), in dem Francois Bayle, der Leiter der Pariser Forschungsgruppe, das Konzept der Zusammenstellung erläutert. Er schreibt:
"Für viele - und je mehr, desto besser wäre es - wird dieses Konzert eine erste Begegnung bedeuten. Eine überraschende, einschüchternde Begegnung mit einer reichen aber komplexen Welt. Die Welt des Schalls, ähnlich der der Meerestiefen, oder der Gestirne, beherbergt furchtbare, wunderbare und verführerische Gestalten. Die Erforscher - sprich Komponisten - dieser Welt haben deren Prinzipien und Zusammensetzungen erkannt, wußten mit ihren Werken Mächte zu beschwören, Formen zu schaffen; sie haben das Staunen noch nicht verlernt und bewegen daher alle, die ihnen zuhören. Dieses Konzert soll das Tor sein zu einer Welt, die zweifelsohne mit zu den guten Errungenschaften unseres Jahrhunderts zählt."
Die kurze Eröffnungsnummer, die den Titel "Entrée" führt, beschreibt Francois Bayle mit folgenden Worten:
"Der Lärm wird schwächer. Der Vorhang des Klanges geht auf... Stille...
Z: entrée 27´´´
Es mag paradox erscheinen, daß im Titel eines für die häuslichen Lautsprecher bestimmten Tonträgers das Wort "Konzert" erscheint. Im Titel "Concert imaginaire" wird allerdings die Assoziation an ein reales Konzert zugleich auch in Frage gestellt. Francois Bayles Kommentar macht deutlich, worin der entscheidene Unterschied besteht: Die Bühne, deren Vorhang aufgeht, bleibt unsichtbar. Der Vorhang öffnet sich nicht in der Realität, sondern in der Vorstellung eines Hörers, der die ersten 27 Sekunden der disc anhört. Es entsteht eine Musik der Klangbilder. Diese Klangbilder können sich deswegen in der Vorstellung des Hörers bilden, weil er realiter nichts sieht, was mit der Hervorbringung dieser Klänge zu tun haben könnte. Der Hörer ist in einer "akusmatischen" Situation - d. h. in einer Situation, die uns schon von den Schülern des Pythagoras her bekannt ist, deren Meister hinter einem Vorhang versteckt zu ihnen sprach, so daß sie ihn nur hören, aber nicht sehen konnten. Die meisten Hörer sind sich dessen nicht bewußt, daß heute, im Zeitalter der Massenmedien, die meiste Musik in akusmatischen Situation, nämlich über Lautsprecher gehört wird - losgelöst von Aufführungssituationen, in denen man die Hervorbringung der Klänge nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen live verfolgen könnte. Merkwürdig ist allerdings, daß, vor allem im Bereich der sogenannten "Ernsten Musik", die meisten Hörer am Lautsprecher Musik bevorzugen, die eigentlich gar nicht für den Lautsprecher bestimmt ist, nämlich vokale oder instrumentale Musik älteren oder auch neueren Datums. Nur wenige ziehen die Konsequenz daraus, daß für das Hören am Lautsprecher sich eigentlich diejenige Musik am besten eignet, die ausdrücklich für die Lautsprecherwiedergabe bestimmt und deren Wiedergabe unter traditionellen Konzertbedingungen unmöglich ist. Die CD "concert imaginaire" enthält eines der ältesten Beispiele einer solchen akusmatischen, d. h. im Studio für die Lautsprecherwiedergabe bestimmten Musik.
Z: Erotica 1´18
Es beginnt mit einem seltsamen Dialog im Dunkeln: Leises, verschmitztes Frauenlachen - dann merkwürdig plappernde, automatenähnlich geleierte Laute einer anderen Frauenstimme. Ein Dialog der unsichtbaren Stimmen beginnt. Die "lebendige" Frauenstimme scheint zu reagieren: Erstaunt, kokett, spöttisch. Die "Automatenstimme" stoppt, setzt danach ihr Geleier wieder fort, wechselt über zu anderen, wiederum mechanisch wiederholten Klangmustern, verwandelt sich in "Musik mit Stimmen." Plötzlich entdeckt man, daß auch die "lebendig" wirkende Stimme in Wirklichkeit nur ein Automat ist: Ihr Gelächter kommt ins Stocken, wiederholt sie wie eine defekte alte Schallplatte. Die Klänge wandern durch den Raum, aus dem Hintergrund in Richtung Bühne.
Das kurze Stück heißt "Erotica". Es ist ein Satz aus der ersten Lautsprecher-Sinfonie der Musikgeschichte: Aus der 1950 uraufgeführten "Symphonie für einen einsamen Menschen" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Wenn diese Musik im Konzertsaal erklingt, ergibt sich eine paradoxe Situation: Alle Klänge sind im Studio vorproduziert; es gibt also keine "live" auftretenden Interpreten mehr, nur den Klangregisseur am Mischpult und seine Techniker. Statt Instrumenten sind im ganzen Raum Lautsprechergruppen verteilt - in zahllosen Varianten der Größe, der Form und der technischen Eigenschaften, so daß dasselbe Klangmaterial farblich und räumlich vielfältig variiert werden kann. Deswegen erschließt sich der volle klangliche Reichtum dieser Musik eigentlich erst in der Konzertaufführung mit einem reicht bestückten Lautsprecherorchester, wie es in Paris regelmäßig in Lautsprecherkonzerten des Rundfunks zu hören gibt. Wer diese Musik zu Hause, in Rundfunksendungen, auf Schallplatte oder compact disc hört, muß sich mit einem stereophonen Abbild des vollen Raumeindruckes begnügen, ebenso wie bei Aufnahmen anderer Konzertmusik auch. Allerdings hört er - anders als bei über Lautsprecher übertragener traditioneller Konzertmusik - Musik, die ausdrücklich für seine Hörsituation bestimmt ist: Unsichtbare Musik.
Z: Parmegiani, La roue Ferris
Das "Concert imaginaire" ist keine historisch geordnete Anthologie. Die frühe Musik von Schaeffer und Henry steht nicht am Anfang, sondern sie folgt als knappes Kontrastmodell einem breiter angelegten Musikstück aus neuerer Zeit: La roue Ferris von Bernard Parmegiani - eine Produktion aus dem Jahre 1971, deren kreisende Figuren, die modernen Äquivalente zu den Schallplatten-Ostinati von Schaeffer und Henry, der Komponist mit den Bildern der glitzernden, sich drehenden mexikanischen Sonne und des perpetuum mobile beschreibt. Die Klänge dieser und anderer akusmatischer Musik kann der Hörer nur dann erfassen, wenn er sich völlig von den Erwartungsmustern der traditionellen Konzertmusik und ihrer musiksprachlichen Konventionen löst.
Wer die Entwicklung der elektroakustischen Musik in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, kann feststellen, daß die Diskussion über die akusmatische Musik sich neuerdings, vor allem in den achtziger und neunziger Jahren, intensiviert hat. Der Umstand, daß Pierre Schaeffer diesen Begriff in die Terminologie der Neuen Musik eingeführt hat, könnte allerdings die Vermutung nahelegen, daß vor allem im Bereich der von Schaeffer begründeten "musique concrète" von akusmatischer Musik die Rede ist. Tatsächlich haben er und sein Nachfolger Francois Bayle in der Pariser Forschungsgruppe GRM sich intensiv für den Begriff und die Sache eingesetzt - bis hinein in scheinbare Äußerlichkeiten, die den Außenstehenden in Erstaunen versetzen könnten (wenn etwa der Abhörraum des Pariser Studios den Namen "Acousmatèque" führt oder wenn der Katalog des Studios "Repertoire acousmatique" heißt). Dennoch macht man es sich zu einfach, wenn man das Problem der akusmatischen Musik ausschließlich auf eine spezielle Musiktradition bezieht. Richtig ist nur, daß dieses Problem, das sich eigentlich auf jede mit technischen Mitteln produzierte Musik bezieht, von Komponisten, die mit der musique concrète vertraut sind, schärfer gesehen und intensiver diskutiert wird als von vielen anderen.
Die belgische Komponisten Annette Vande Gorne hat verschiedene Komponisten zur Problematik der akusmatischen Musik befragt und als Ergebnis ihrer Umfrage Beiträge von 18 Komponisten veröffentlicht. Aus den Beiträgen geht hervor, daß fast alle befragten Komponisten sich darüber im Klaren sind, daß der Begriff "Akusmatische Musik" in der Musikentwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Schlüsselrolle spielt wie der Begriff "Atonale Musik" in der ersten Jahrhunderthälfte: Die Lösung der Musik aus live-Aufführungssituationen bedeutet einen wohl noch radikaleren Wandel als die Infragestellung der überlieferten Tonalität. Dies hat mehrere Komponisten zu der Frage veranlaßt, ob nicht dem radikalen Wandel ein radikal eingeschränkter Begriff entsprechen müsse - ein Begriff der akusmatischen Musik beispielsweise, der jegliche Konzession an die traditionelle Konzertpraxis ausschließt, z. B. auch die Verbindung von vorproduzierten und über Lautsprecher wiedergegebenen Klängen mit dem live-Spiel von Interpreten, die sogenannte musique mixte.
Z: Schwarz, And around. Ina/Grm; Adda, Celia records CL 8902-2. Accord, take 8 Anf.mind. 2´
Der französische Komponist Jean Schwarz beginnt seine 1981 entstandene Komposition "And around" mit einer Pseudo-Konzertsituation. Erst nach einiger Zeit bemerkt der Hörer die Fiktion: Zunächst gehört man Geräusche eines Jazzclub-Publikums und Musiker, die mit zwanglosem Einspielen zu beginnen scheinen. Bald aber kommen Geräusche hinzu, die nicht von den auf dem cover verzeichneten mitwirkenden Solisten (Charles Austin, Saxophone und Flöte; Joe Gallivan) stammen können - elektroakustische Klänge. Die Konzertsituation wird also gleichzeitig suggeriert und als technisch hergestellte Fiktion entlarvt. Mit anderen Worten: Hier ist die Situation des "Concert imaginaire" auskomponiert. So erklärt es sich, daß die Musik von Jean Schwarz auch in der CD "Concert imaginaire" vorkommt - und zwar nicht nur im kurzen, einen Konzertbeginn pseudo-simulierenden Eröffnungsstück, sondern auch in der Mitte des imaginären Konzertes unter dem Titel "entr´acte", d. h. in einer auskomponierten Pause.
Z: concert imaginaire 7 entr´acte 2´26
Aus einer Musik, die ursprünglich einen Konzertbeginn simulieren sollte, wird im Zusammenhang des "Concert imaginaire" eine surrealistische Konzertpause - ein Interludium, daß mit seinen aufgenommenen Instrumentalpassagen den Begriff der akusmatischen Musik viel weiter auslegt als die meisten anderen Nummern dieser compact disc - enger sogar als ein unmittelbar daran anschließendes Stück von Jean Schwarz selbst: "Suite N" aus dem Jahre 1981.
Z: Schwarz, Suite N Anf. Concim 8
Was Jean Schwarz in seinem "Pausenbeitrag" in eher populärer Form dargestellt hat, wird in seiner anschließenden "Konzertnummer" noch deutlicher: Diese Musik distanziert sich von traditionellen Instrumentalkompositionen selbst dann, wenn sie mit aufgenommenen Instrumentalpassagen arbeitet. Schwarz interessiert sich für den lebendigen Klang jenseits der fixierten Notation. Deswegen arbeitet er mit Jazzmusikern zusammen, und deswegen erinnern auch viele seiner im Studio produzierten Klänge an free jazz. In diesem Geiste hat Schwarz schon 1972 gearbeitet, als er für die Olympischen Spiele in München ein Stück für Schlagzeug und Tonband verwendet, in dem ein rechhaltiges Arsenal außereuropäischer Musikinstrumente verwendet wird: Anticyle.
Z: Anticycle, Xylorimba. CD take 8, 3´27 oder take 12 Djimbé (gleichz. Europ. Schlagzeug und aufgenommene afrikanische Musik)
Im "Concert imaginaire", vor allem in den Beiträgen von Jean Schwarz, wird deutlich, daß unter den Produktionsbedingungen der elektroakustischen Musik zwischen Musik und Nicht-Musik, zwischen musikalischen und außermusikalischen Hörereignissen fragwürdig geworden sind. Darüber hinaus hat sich auch der Begriff der Musik verändert: Als Material der Musik dienen nicht abstrakte Materialordnungen, sondern alle auf technischem Wege speicherbaren und im Studio verarbeitbaren Klangmaterialien einschließlich der Klänge vorgefundener Instrumente und vorgefundener Musik.
Akusmatische Musik, die Instrumentales einerseits einbezieht, andererseits aber auch in modernere, im Studio produzierte Klangwelten einbezieht, findet sich auch in neueren Werken von Jean Schwarz. In den sieben Sätzen seiner 1988 entstandenen "Suite symphonique" verarbeitet er drei instrumentale Sequenzen auf einem computergesteuerten Sampler und gibt ihnen ein neues Klangbild, indem er sie in Verbindung mit 16 anderen Klängen weiter verarbeitet.
Z: Schwarz, Suite Symphonique, Celia Records CL 8908-2. Ostinato Anfang
Der 1939 geborene Jean Schwarz steht in einer Musiktradition, die seit den Anfängen der musique concrète sich auf lebendige, von der traditionellen Notation nicht erfaßbare Klangstrukturen konzentriert und deswegen auch bei der Verwendung von Fragmenten vorgefundener Musik sich weniger für Komponiertes interessiert als für Improvisiertes. Diese Auffassung spielt auch in der Arbeit jüngerer Komponisten eine wichtige Rolle - beispielsweise in der 1993 entstandenen Komposition "Kilim" des 1962 geborenen britischen Komponisten Alistair MacDonald. Der Komponist beschreibt sein Stück als kompositorische Verarbeitung improvisierter Ausgangsmaterialien. In seinem Kommentar heißt es:
"´Kilim´ betrachtet die Improvisation als Antwort auf sein Ausgangsmaterial, das viele improvisierte Instrumentalklänge enthält. Die Komposition umrahmt eine Reihe von Klangspuren, die wie Entspannungsfelder und Kadenzen gebildet sind, die längere Passagen umspannen und den Materialen, die sie hervorbringen, einen Rhythmus aufprägen. Reine Klänge werden in komplexen Kombinationen verwendet, um Gesten, Objekte oder Teile von Texten zu erzeugen, und oft ist ihre Rolle ambivalent. Das Interesse dieser Komposition richtet sich darauf, das Dilemma aufzulösen, das darin besteht, daß man den Klängen erlaubt, instrumental wiedererkennbar zu sein, all ihre Energie zu bewahren - und daß man die Klänge trotzdem benutzt, um Gesten ´unsichtbarer Musik´ zu erzeugen."
Z: MacDonald, Kilim. CD Noroit 3, take 1 von Anfang oder evtl. ab 4´ (Länge nach Sendezeit)
In vielen Produktionen akusmatischer Musik haben die Komponisten bei der Studioarbeit technische Prozeduren entdeckt, die weniger mit traditionellen Kompositionstechniken gemein haben als mit bestimmten Verfahren der Improvisation. Daraus ergaben sich nicht nur neue Gestaltungsideen, sondern auch vielfältige Anknüpfungspunkte an musikalische Erfahrungen in Bereichen jenseits der etablierten abendländischen Kunstmusik. Mit anderen Worten: In der akusmatischen Musik wurde es möglich, die Grenzen einer in sich abgeschlossenen Avantgardemusik zu überwinden. Dies wird deutlich, wenn Alistair MacDonald Fragmente aufgenommener free-jazz-Musik verarbeitet. Seine Musik stellt sich damit in eine Tradition, die sich mehr als vier Jahrzehnte zurückverfolgen läßt - bis zu einem Stück, das schon im Titel seine Absicht verrät - die Absicht einer technisch produzierten "Musik über Musik". Es ist die 1951 entstandene Komposition "Jazz et Jazz" von André Hodeir. In einer historischen Programmnotiz zu diesem Stück heißt es:
" Nichts steht der musique concrèt so nahe wie der Jazz - aber andererseits gibt es auch nichts, was zu ihr stärker kontrastiert. Nahe stehen sich beide Musikarten insoweit, als der Jazz den Geschmack für den Eigenwert des Klanglichen fortentwickelt; fern stehen sie sich insofern, als die Aufführung von Jazzmusik eine Aufführung von Menschen ist, in der der Mensch und das Instrument miteinander verschmelzen.
Musique concrète und Jazz stimmen sich aufeinander ein und treffen sich auf demselben Ton, aber hier sind es die lebendigen Lippen von Louis Armstrong, dort die kalten Scheren und die Montage.
Wenn man den Jazz mit den Entdeckungen der musique concrète bereichern will, dann bedeutet dies, daß man den Künstler und die Maschine zusammenbringt, die Maschine und die Kunstfertigkeit. Darauf hat sich André Hodeir eingelassen...
´Jazz et Jazz´ ist eine konzertante Etüde: Bernard Pfeiffer spielt ein Klaviersolo, das André Hodeir in einer ´abstrakten´ Partitur fixiert hat. Ein ´konkretes´ Tutti hat der Autor zuvor aufgenommen mit Trompetenpassagen von Roger Guérin, Kontrabaßklängen von Emmanuel Soudieux und einem Schlagzeugpart von Ritschie Frost."
Z:Hodeir, Jazz et Jazz. 3´02. INA/GRM
Die Verarbeitung von Musikaufnahmen, die aus Bereichen jenseits der abendländischen Kunstmusik stammen, spielt in der Lautsprechermusik eine wichtige Rolle. Sie öffnet sich für verschiedene Musikkulturen und trägt so das Ihrige zur Bildung einer ästhetisch offenen und stilistisch vielfältigen Weltmusik bei. Beispiele hierfür findet man in Verarbeitungen von Musik höchst unterschiedlicher Kulturkreise und Regionen.
Z: Javier Alvarez: Mambo à la Braque. Empreintes digitales, IMED-9004-CD, take 24
Der in Mexiko geborene Komponist Javier Alvarez, Jahrgang 1956, hat 1990 ein kurzes Stück mit dem Titel "Mambo à la Braque" realisiert. Der Komponist teilt mit, daß er den Mambo "Caballo negro" von Dámaso Perez Prado verarbeitet hat.
Z: Mambo Caballo negro 2´21 EPM 995202, ADE 650
Der Komponist beschreibt, daß er diesen Mambo ähnlich verarbeitet hat wie aus einer Zeitung herausgeschnittene Buchstaben, die zu neuen Wörtern zusammencollagiert werden. Er hat Ausschnitte aus dieser Musik herausgelöst und sie, in Verbindung mit anderen Klängen, zu einem neuen Musikstück zusammengefügt. So wollte er eine kubistische Musik, einen Mambo eigener Erfindung schaffen.
Z: Alvarez wie oben (Anfang)
Auch der französische Komponist Michel Chion, Jahrgang 1947, hat sich von Mambo-Musik inspirieren lassen, und zwar in durchaus überraschenden Zusammenhängen: 1992 realisierte er eine konkrete Musik mit dem Titel "Credo Mambo".
Chion: Credo Mambo. Metamkine MKCD004 bis vor 3´10 Credo in unum Deum
oder evtl. Ab 5´25 Akzent... spiritum sanctum - 6´55 nach prophetas (vor... filium)
Der kanadische Komponist John Oliver, Jahrgang 1959, hat 1990 ein Stück realisiert, das er selbst als politisch engagierte Weltmusik interpretiert. In "Marimba Dismembered" verarbeitet er verfremdete Klänge der Marimba, eines für die Musik in Guatemala wichtigen Instrumentes. Mit diesem Verfahren will er einen musikalischen Protest gegen den Völkermord an den Maya artikulieren.
Z: John Oliver, Marimba Dismembered, Electro Clips Nr. 8
Die elektroakustische Musik, von ihren Anfängen bis in ihre neuesten Produktionen hinein, ist eine Musik der Grenzüberschreitungen. Sie öffnet sich anderen Musiktraditionen, und sie stellt sich der außermusikalischen, nicht zuletzt auch der politischen Realität.
Z: Katzer, Aide-memoire, Sequenz über die Geschichte des 2. Weltkriegs -
Sequenz mit Goebbels-Fragen Sportpalast
1983 hat der in Ostberlin lebende Komponist Georg Katzer, Jahrgang 1933, für den Rundfunk der DDR ein Tonbandstück produziert, das der Erinnerung an die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und an die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur dienen soll. Die Komposition heißt "Aide-Mémoire". Dieses Stück ist der erste Teil einer Trilogie von Tonbandkompositionen über geschichtliche bzw. zeitgeschichtliche Themen. 1989 folgte ein Stück zum Gedenken an die französische Revolution - eine sehr skeptische und kritische Musik über deren Idealbegriffe, damit zugleich eine musikalische Kritik an den langfristigen Konsequenzen dieser Revolution, also auch an der russischen Oktoberrevolution (und dies einige Monate bevor die politischen Ereignisse in Osteuropa das Scheitern dieser Revolution besiegelten). Georg Katzer gab dieser Komposition den Titel: "Mein 1789".
Z: Katzer, Mein 1789
1990, ein Jahr nach der Wende in Ostdeutschland, realisierte Georg Katzer eine Tonbandmusik über die ostdeutsche Revolution. Aufschlußreich ist, daß in diesem Stück nicht nur Honecker und die Volksmassen von 1989 zu hören sind, sondern auch Erinnerungen an Goebbels und die Volksmassen von 1943. Die Komposition wird hier zum skeptisch-zeitkritischen Medienstück.
Z: Katzer, Mein 1989. Zitat Goebbels mit Volk - Zitat Honecker mit Volk (Zusammenschnitt)
Vor allem die politischen Ereignisse des Jahres 1989 haben dazu geführt, daß Komponisten akusmatischer Musik Werke realisierten, in denen nicht nur Zeitgeschichte dokumentiert wurde, sondern auch die Veränderung politischen Denkens. In der Musik des französischen Komponisten Christian Clozier beispielsweise führten die revolutionären Ereignisse, die 1989 in den kommunistisch beherrschten Ländern Europas stattfanden, zu einer radikalen Veränderung seiner Tonsprache. Sie zeigt sich im Vergleich seiner Werke aus den Jahren 1989 und 1990. 1989, im Gedenkjahr der französischen Revolution, hatte Clozier noch eine dezidiert optimistische, klanglich reiche und formal abgerundete Musik komponiert, die sich mit zentralen Ideen Robbespierres zu identifizieren versuchte: Das Stück heißt "Le bonheur - une idée neuve en Europe" - "Das Glück - eine neue Idee in Europa".
Clozier: Le bonheur - une idée neue en Europe
Einen schroffen Kontrast zur Revolutionsmusik des Jahres 1989 bildet ein Stück, das Clozier ein Jahr später realisierte unter dem Titel "118 et 21 ans après", "118 und 21 Jahre danach". Im Titel dieses Stückes erinnert Clozier an zwei gescheiterte Revolutionen: An den Pariser Kommuneaufstand 1871 und an den Prager Frühling 1968. Die kargen, schroffen Klänge dieser Musik, die zurückfinden zur ästhetischen und politischen Radikalität des jungen Clozier, sind eine deutliche Absage an die festliche Revolutionsmusik des Jahres 1989. Im Rückblick auf dieses Revolutionsjahr artikuliert Clozier eine schonungslose Skepsis und Hoffnungslosigkeit, als hätte er die verheerenden wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der kommmenden Jahre damals schon vorausgesehen. Diese politisch engagierte Musik gewinnt ihre Stärke aus der Identifikation mit den politisch Schwachen, mit den Verratenen, Besiegten, Vernichteten.
Clozier: 118 et 21 ans après
Aus den politischen Ereignissen des Jahres 1989 ergab sich auch für die Komponisten elektroakustischer Musik eine besondere Situation - eine Ausnahmesituation ähnlich derjenigen um 1968. Die damaligen Ereignisse ließen sich - z. B. mit Aufnahmen von Politikerreden oder von Volksmassen - in eindrucksvollen Tondokumenten festhalten, und solche Tondokumente boten sich den elektroakustischen Komponisten zum Zitat und zur klanglichen Verarbeitung im Studio an. Wichtige politische Ereignisse jenes Jahres ließen sich kompositorisch verarbeiten, weil es dank der Massenmedien Tondokumente gab (oder weil die Komponisten selbst bestimmte Erlebnisse in Tondokumenten festhielten). Schon im folgenden Jahr aber, beim Ausbruch der Golfkrise, hatte sich diese Situation geändert: Zum Golfkrieg gab es nur eine straff gelenkte Berichterstattung der Massenmedien. Dementsprechend schwierig ist es, dokumentarische Kompositionen zu finden, die auf diesen Krieg Bezug nehmen. Als eine vereinzelte, wenngleich instruktive Ausnahmelösung könnte man die Tonbandkomposition "Gloire à" von Jerome Noetinger nennen - ein Stück, das den Golfkrieg aus der Perspektive des Radiohörers darstellt.
Z: Noetinger: Gloire à 0´- 1´05, oder evtl. 4´35 Meldung "Desert storm" -6´35 thank you
very much. (6´55 weitere Nachrichten, dazu zerhackte Geräusche in Steigerung, bis 7´49 Zäsur)
(13´35 Militärmusik, mitlitärisches Gebrüll, ausblenden nach 15´ober bis 15´54 Pause)
(Schluß 20´35 - 21´ gloire a nos héros)
Politisch engagierte Musik, die nicht den ästhetischen Spuren der traditionellen Programmusik folgen will, sieht sich der Frage ausgesetzt, ob und in welcher Weise sie aus der Alltagserfahrung bekanntes dokumentarisches Klangmaterial einbeziehen will. So läßt sich erklären, daß Konzeptionen politisch engagierter Geräuschmusik entstehen konnte - etwa in der Komposition "Les oiseaux de Bullion", die der kanadische Komponist Claude Schryer, Jahrgang 1959, im Jahre 1990 realisiert hat. Die Konzeption dieses Stückes ähnelt der Grundidee eines älteren Hörstückes von Gerhard Rühm, in dem - unter dem Titel "Kleine Weltgeschichte der Zivilisation" - Klaviermusik mehr und mehr von Verkehrslärm erdrückt wird. Eine ähnliche Aussage artikuliert Claude Schryer, wenn er Laute von im Käfig gefangenen Vögeln mit Lastwagengeräuschen und später hektische Atemgeräusche mit dem verhallten Geräusch eines Eisenbahnzuges in Verbindung bringt.
Z: Claude Schryer, Les oiseaux de Bullion, Electro Clips 6
Wenn Claude Schryer im Schlußteil seines Hörstückes die Atemgeräusche mit einem langen Akkord, mit Musik im engeren (aus der Tradition bekannten) Sinne überlagert, dann wirkt diese wie Tonfilmmusik in einem Film ohne äußerlich sichtbare Bilder - in einem Film allerdings, dessen Bilder sich in der Vorstellung des Hörers bilden können. Hier realisiert sich elektroakustische Musik als Akustische Kunst, als Hörfilm. Sie steht damit in einer Tradition, die sich bis 1930 zurückverfolgen läßt - bis zu Walter Ruttmanns Hörstück "Weekend".
Z: Ruttmann, Weekend Anfang. Metamkine MKCD 010, bis 1´57 (nach Gesang Frauenstimme):
Aber Frollein!
Walter Ruttmann hat in seinem Hörstück "Weekend" Prinzipien der Montage, die er zuvor - z. B. in "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" - im Stummfilm angewendet hat, auf Klänge übertragen. So fand er Gestaltungsprinzipien, die später - da sein Stück jahrzehntelang verschollen war - von führenden Exponenten des Neuen Hörspiels wie Ferdinand Kriwet wieder entdeckt werden mußten. Heute ist Ruttmanns Stück in den Hörspielprogrammen westdeutscher Rundfunkanstalten zu finden, und Jérome Noetinger hat eine Mini-CD des Werkes veröffentlicht in seiner Reihe "Collection Cinéma pour l´oreille" ("Sammlung Kino für das Ohr").
Evtl. Z: Weekend Fortsetzung (Länge je nach Sendezeit)
Ruttmanns Stück steht ganz im Zeichen der Montageästhetik. Entscheidend sind nicht die einzelnen Klänge selbst, sondern deren beziehungsreiche Verknüpfungen mit anderen Klängen. So läßt sich auch erklären, daß Ruttmann vorwiegend mit äußerst kurzen Klängen arbeitete. So machte er deutlich, daß es ihm nicht um die akustische Simulation realer Vorgänge ging, sondern um Strukturen von Klangbildern und deren Konstellationen. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von einfacheren, der konventionellen Geräuschdramaturgie näher stehenden Geräuschgeschichten späterer Zeiten.
Z: Christian Calon, Claude Schryer: Prochaine station
1990 realisierten die beiden kanadischen Komponisten Christian Calon und Claude Schryer zusammen ein kurzes Hörstück mit dem Titel "Prochaine Station" ("Nächste Station"). Das Stück ist konzipiert als Klangreise durch Montréal (meistens mit der Metro, in der man mehrfach den Aufruf der nächsten Station hört). Das Stück folgt der sinnfälligen Disposition eines kurzen Hörfilms. Die Geräusche sollen hier die Vorstellung einer realistisch erzählenden, einer anekdotischen Musik wachrufen, wie sie Luc Ferrari seit den sechziger Jahren entwickelt hat: Geräusche erscheinen nicht in abstrahierenden Montagestrukturen, sondern als Abbilder der Realität.
Z: Ferrari, Hétérozygote Anfang (Länge je nach Sendezeit) oder ab 5´19 Frauenst.-Geräusche
bis 6´58 Klangfläche nach Glissandi (ausblenden) oder ab 7´20 (Stimmen, dazwischen Geräusche)
bis 9´40 Zäsur nach Ende Glissandi (vor dt. Szene im Theater - Bühnenarbeiter) (bis 12´22)
Das Konzept einer realistisch (oder pseudo-realistisch) erzählenden Tonbandmusik hat sich in Ferraris elektroakustischer Musik, die anfangs der strukturellen musique concrète Schaeffers sehr nahe stand, seit den sechziger Jahren allmählich herausgebildet - zunächst, noch in stark artifizieller formaler Disposition, in der 1964 entstandenen Komposition "Hétérozygote". In späteren Produktionen traten einfache erzählende oder darstellende Momente noch stärker in den Vordergrund - z. B. als akustische Landschaftsmalerei in der 1969 entstandenen "Music Promenade".
Z: Ferrari, Music Promenade Anfang. Wergo 60 46
In der anekdotischen Musik Ferraris finden sich schon frühzeitig Ansätze einer über weite Strecken kontinuierlichen, von der klassischen Montageästhetik sich abwendenen Formgestaltung. Seit den siebziger Jahren setzten sich in den elektronischen Studios Apparaturen durch, die kontinuierliche Klangentwicklungen auch mit rein elektronischen Klängen bedeutend erleichterten. Dies mag mit dazu beigetragen haben, daß die kontinuierlichen Geräuschmusiken Ferraris kaum nachgeahmt wurden. Erst 1984 entstand ein Stück, in dem realistische Geräusche kontinuierlich, aber zugleich auch losgelöst von einer durchweg realistisch gemeinten erzählenden Dramaturgie zu hören waren: "La Ville - Die Stadt" von Pierre Henry.
Z: Henry: La Ville - Die Stadt. Eveil Anfang oder Höhepunkt und realist. Fortsetzung. Wergo
"La Ville - Die Stadt" von Pierre Henry ist ein Hörfilm in mehrfacher Hinsicht - nicht nur deswegen, weil die verschiedenen Sequenzen des Stückes im Hörer Klangbilder oder Klangszenen evozieren können, sondern auch deswegen, weil die Klangmontagen dieses Stückes nach Henrys Worten von Bildmontagen eines berühmten Stummfilms inspiriert sind: "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" von Walter Ruttmann. Erst nachträglich hat Henry versucht, die Sequenzen seines Hörstückes - mit einigen Abwandlungen und Umstellungen - Ruttmanns Film zu unterlegen (wobei zum Beispiel aus der Eisenbahnsequenz, die eigentlich im Inneres des Hörspiels steht, die Eröffnungsmusik zu Ruttmanns Film-Einleitung wurde, zur Eisenbanhfahrt nach Berlin). Henry, der seit den fünfziger Jahren eine große Anzahl von Filmmusiken realisiert hat (und der aus seinem umfangreichen filmmusikalischen oeuvre 1995 eine Hörspielproduktion für das Studio Akustische Kunst des WDR entwickelt ist) ist anläßlich der Produktion seines Hörspiels "La Ville - Die Stadt" gewissermaßen nachträglich zum Komponisten eines weiteren Films geworden - wobei seine Seqnzen gegenüber den Details der Bildfolge selbständig bleiben - in ähnlicher Weise, wie es Josef Anton Riel in diversen Filmmusiken seit den frühen sechziger Jahren praktiziert. Eine Sequenz mit dem Titel "Train" ("Zug"), die ursprünglich im Inneren des Hörspiels zu finden war, hat Henry später bei der Film-Synchronisation vorgezogen, so daß sie, nach einer mit Schwarzfilm begleiteten Eingangssequenz, dem Beginn von Ruttmanns Film unterlgt ist, der Zugfahrt nach Berlin. So ergibt sich zwischen Bild und Klang eine Koinzidenz zweiten Grades: Die ursprünglich autonom komponierte Musiksequenz wirkt im Tinfilm, als sie sie von vorneherein für diese Szene bestimmt gewesen.
Z: Henry: La Ville, Train
Einige Jahre nach Vollendung seiner nachträglichen Film-Adaption entschluß sich Henry, Musik zu komponieren, die von vorneherein zur Begleitung eines Stimmfilms bestimmt war - nämlich des 1929 entstandenen Films "Der Kameramann" von Dziga Vertov. In dieser Musik wird vollends deutlich, worum es in der als akustischer Film deklarierten Hörkunst geht: Um die Entwicklung moderner Klangstrukturen, die in ihrer technischen Faktur den filmischen Montagestrukturen gleichwertig sind, also nicht mehr an veralteten musikalischen live-Praktiken festhalten.
Z: Henry, L´homme à la camera, take 10 Artisanat Anfang (insges. 3´39)
Die Klangbilder, die Henrys Musik wachruft, behalten ihre eigene Kraft selbst dann, wenn man sie als Begleitung zu einem Stummfilm hört. So können sich erste Ansätze einer wirklichen Gleichberechtigung von Bild und Musik entwickeln.
Evtl. Z: Henry, L´homme, z. B. 4 - hangar d´avions 2´11
Elektroakustische Musik der Klangbilder muß sich nicht in jedem Falle auf realistische, der realen Hörwelt entnommene Klangmaterialien beschränken. Auch synthetische Klänge können Klangbilder, ja sogar bestimmte Bedeutungen evozieren. Vor allem Jean Claude Risset hat gezeigt, wie solche unbekannten synthetischen Klänge sich gerade in der Konfrontation mit realistischen konkreten Klängen besonders wirkungsvoll einsetzen lassen: In seiner 1985 entstandenen Komposition "Sud".
Z: Risset, Sud: Konkrete Klänge - Einsatz der Computerklänge
Im Mittelsatz seiner 1968 entstandenen "Computer Suite from Little Boy" hat Jean Claude versucht, einen neuartigen synthetischen Klang symbolisch einzusetzen: Ein endloses Glissando als Symbol des Abwurfes der ersten Atombombe und eines nicht enden wollenden psychischen Absturzes.
Z: Risset: Comp. Suite Satz 2 Fall, 2´50. Wergo 2013-50
In manchen Fällen wird es gleichgültig, welcher Herkunft die die bildliche Phantasie des Hörers anregenden Klänge sind. Dies gilt beispielsweise für den Anfang der 1995 uraufgeführten Komposition "La fleur future" von Francois Bayle. Dieses Stück beginnt mit einem realistischen Umweltgeräusch, das anschließend durch Hinzumischung elektronischer Klänge Schritt für Schritt in ein anderes Umweltgeräusch verwandelt wird. Für das Verständnis dieses Verwandlungsprozesses ist es unwesentlich, ob der Hörer den realen Ursprung der beiden Umweltgeräusche erkennt oder nicht.
Z: Bayle, La fleur future, Anfang, Verwandlung Maschinengeräusch in Wäschewaschen
Das Interesse an bildkräftigen neuen Klangwelten ist besonders bei jüngeren Komponisten stark ausgeprägt - beispielsweise bei dem kanadischen Komponisten Stéphane Roy in seiner 1993 entstandenen "Crystal Music". Zu diesem Werk schreibt der Komponist:
"Crystal Music"... ist eine Musik der Formen, der Farben und der Klangstoffe, die durch kinetische Energien und durch Perspektivbildungen im Inneren des Werkes ausgeformt werden. Wie ein kostbares Glas wurde das Material erweitert, in eine Form gegossen, verwandelt in den größten Schmelzofen des Studioexperiments. Wie das Kristall ist es ziseliert durch die Einbildungskraft, die seinen transparenten Strukturen die Kraft der Illusion verleiht."
In dieser Musik wird deutlich, worum es in avancierter elektroakustischer Musik heute gehen kann: Um die differenzierte Ausgestaltung der feinsten Bewegungen im Inneren der Klänge - um eine Musik, die bewegen kann, weil sie selbst in sich bewegt ist.
Z: Roy, Cristal Music, Noroit 3
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