Dokument: Inhalt\ Musique Concrète\ Unsichtbare Musik - Akustische Kunst
Rudolf Frisius
UNSICHTBARE MUSIK - AKUSTISCHE KUNST
- Veränderungen des Hörens - Unsichtbare Musik
- Es gibt Fragen, die gerade deswegen besonders dringlich sind, weil sie viel zu selten gestellt werden. Wenn heute, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die Frage nach Veränderungen und aktueller Bedeutung des Hörens in diesem Jahrhundert gestellt wird, dann spricht manches dafür, daß damit eine solche latent-dringliche Frage aufgekommen ist: Heute gbit es eine kaum noch verarbeitbare Vielfalt von Hörereignissen und Hörsituationen - eine Vielfalt, wie sie in früheren Zeiten undenkbar gewesen wäre. Verfahren der Konservierung, der Reproduktion und Vervielfältigung, der Übertragung und weltweiten Verbreitung, der möglichst originalgetreuen oder der weitgehend verfremdeten technischen Wiedergabe von Hörereignissen haben die Hörerfahrung - zumindest potentiell - in kaum zu überschätzendem Ausmaße erweitert. Inwieweit allerdings die hiermit eröffneten Möglichkeiten tatsächlich genutzt werden, ist eine andere, übrigens schwer zu beantwortende Frage.
- Die Vielfalt dessen, was es heute in aller Welt zu hören gibt, könnte so verwirrend erscheinen, daß manches dafür spricht, sie für vollkommen unübersichtlich, wenn nicht gar unübersehbar zu halten. Eine soclhe Aussage wäre wohl plausibel, aber andererseits in ihrer Diktion auch verräterisch: "Unübersichtlich" oder "unübersehbar" kann man Hörereignisse eigentlich nur dann nennen, wenn man sie mit dem falschen Maßstab mißt - wenn man Hörbares nach Kriterien des Sichtbaren beurteilt: Was wir hören, können wir in vielen Fällen nicht angemessen bewältigen, so daß wir unsere rätselhaften Sinneswahrnehmungen nur inkommensurabel beschreiben können - mit Begriffen und Darstellungsweisen, die dem Bereich der Sehwahrnehmung entstammen. Wir sind es gewöhnt, viele Ereignisse leichter mit dem Auge zu identifizieren als mit dem Ohr - und vieles, was wir hören, glauben wir nur insoweit uns bewußt machen zu können, als es mit Sichtbarem verbunden ist oder sich in Sichtbares übertragen läßt. An beides haben wir uns nicht zuletzt unter dem Einfluß einer viele Jahrhunderte umfassenden abendländischen Literatur- und Musiktradition gewöhnt: Als das Wesentliche einer sprachlichen oder musikalischen Äußerung galt im traditionellen Verständnis das, was sich in Schrift oder Notation fixieren ließ. Dies war verständlich in früheren Zeiten, als sprachliche Mitteilungen und Musik nur auf schriftlichem Wege die engen Grenzen der live-Übermittlung überwinden und sich über diese hinaus verbreiten konnten. Im 20. Jahrhundert aber, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und Produzierbarkeit von Klängen, die sich weltweit verbreiten lassen - in dieser Zeit sind die alten Maßstäbe fragwürdig geworden. Wer mit geeigneten technischen Geräten und Tonträgern umgeht, bekommt vieles zu hören, was er nicht gleichzeitig sehen kann; vieles, was er hört, läßt sich nicht ohne weiteres schriftlich so fixieren, daß es ein Hörer oder gar ein am ursprünglichen Geschehen unbeteiligter Leser später nach dem Leseeindruck wieder angemessen rekonstruieren könnte. Der Musiker oder Musikfreund erfährt diese, wenn er über Lautsprecher Musik hört, die unabhängig davon erklingt, daß zum Zeitpunkt der Wiedergabe irgendwelche Musiker singen oder spielen müßten: "Unsichtbare Musik" - Musik die beim Erklingen sich losgelöst hat von realen Aufführungssituationen. (In einfachen Fällen kann dies die Wiedergabe einer zeitverschobenen Übertragung oder einer Studioproduktion von live g espielter Musik sein; in komplizierteren Fällen, bei technisch produzierter Musik, kann es sich aber auch um Klangwirkungen handeln, deren Erreichung in einer live-Aufführung unmöglich ist.)
- "Unsichtbare Musik" kann dann entstehen, wenn man etwas hört, aber dabei keine Interpreten sieht, die das Gehörte in live-Aktionen hervorbringen. (Diese Musik wird dann ihrem Begriff um so besser gerecht, je weiter ihre Klänge sich von den Möglichkeiten der live-Darbietung entfernen). "Unsichtbare Musikk" in einem spezielleren Sinne kann aber auch dann entstehen, wenn Klänge zu hören sind, die sich nicht in einer musikalisch ohne weiteres "lesbaren" Weise visualisieren lassen. ("Unsichtbare Musik" in diesem Sinne wird ihrem Begriff um so besser gerecht, je weiter sie sich von bereits bekannten Möglichkeiten der musikalischen Notation entfernt.