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3.13 Ferrari - Biographische Notiz


Luc Ferrari

Biographische Notiz

Luc Ferrari, geboren 1929 in Paris, trat 1958 in Schaeffers Arbeitsgruppe ein und arbeitete einige Jahre lang intensiv mit diesem zusammen. In den sechziger Jahren entwickelte er Konzepte anekdotischer Musik, die sich von stärker abstrahierenden und typisierenden der damaligen musiqe concrète abgrenzten. Nach der Trennung vom GRM produziert Ferrari in seinem eigenen Studio "La Muse en Circuit". In den sechziger Jahren realisierte er Musikfilme im französischen Fernsehen. Neben Tonbandkompositionen (u. a. ETUDE AUS SONS TENDUS, VISAGE V, HETEROZYGOTE) hat er zahlreiche Werke für Tonband und Instrumente (z. B. CELLULE 75 für Klavier, Schlagzeug und Tonband; CELLECTION DE PETITES PIECES für Klavier und Tonband), hörfilm- bzw. hörspielartige Stücke (z. B. MUSIC PROMENADE, PETITE SYMPHONIE INTUITIVE POUR UN PAYSAGE DE PRINTEMPS, PRESQUE RIEN AVEC FILLES) realisiert.

Luc Ferrari: Autobiographie Nr. 13

Viele Jahre brauchte ich, um festzustellen, daß das, was mir am meisten liegt, das Reiben ist; daß auch die Musik sich als große Reibungszone beschreiben läßt.

Die Musik oder das Klangphänomen? (Vielleicht sollte ich das näher erläutern, wozu sonst die Autobiographie!)

Reiben im abstraktesten Sinne: Die Luft, die Akustik, die Zeit;

und im konkreten Sinne: Der Klang, seine Eigenschaften, seine Zusammensetzung, der Rhythmus.

Reibungen einerseits der Ideen, andererseits der Geschlechter, und dann ein Ort der Komplizenschaft.

So reibe ich also.

...

Einige Reibungen kann isch versuchen aufzuzählen.

Z. B. Reibung zwischen Ernst und Spott, zwischen Emotionen aus der Vitalität und aus der Depression,

zwischen Spontanem und Überlegten.

Im Begriff der Reibung liegt auch der herkömmliche Sinn von Spannung-Entspannung, von Dissonanz-Konsonanz, sowie eine aktuellere Formulierung:

akustisch - elektrisch, Phase und Kontraphase, gestimmte und verstimmte Obertöne,

vereint - getrennt, Thema und Nicht-Thema, usw.

All das reibt.

Es gibt natürlich auch andere Reibungen wie die, die Jacques Brissot in Bewegung setzt, wenn er eine Epoche auf eine andere klebt, wenn er einen Tizia aus Klischees unserer Aktualität zusammenstellt, woraus sich dann ein komischer philosophischer Zusammenstoß ergibt.

Auch beobachte ich neugierig, wie die Welten sich aneinander reiben und die Epochen sich miteinander verflechten, wie wir uns nie in einer ganz bestimmten Zeit befinden, wie wir mehrere übereinandergeschichtete Abläufe erleben und man somit Ästile, Zeichen miteinander vermischen, viele Dinge zu gleicher Zeit erzählen kann.

Und aus solchen Reibungen prallen Gedanken manchmals sehr heftig aneinander, ergeben sich Kriege, bedauerlicherweise, weil wir zu stupide sind, zu barbarisch, um diese Reibungen als Erwachsene der Zivilisation zu überwinden, weil wir zu merkantil sind, um mit unserer Sinsibilität friedlich zu leben.

Schließlich ist Reiben wohl das Schwierigste im Leben.

Darum reibe ich...

Luc Ferrari: Autobiographie Nr. 15 (1994)

Luc Ferrari wurde in Paris 1929 geboren. Er befragt sich selbst über diesen Satz; zunächst 1929.

Er hat zahlreiche Autobiographien geschrieben, in denen er die Daten fälschte. Das Schreiben macht ihn verrückt, man sollte ihn nicht darum bitten. Und da er es nicht wagte, sich jünger zu machen, hat er sich älter gemacht. Es sind also viele falsche Daten im Umlauf, das machte damals Spaß. Heute macht es viel weniger Spaß. Nun, er ist in Paris. Er fragt sich: was bedeutet es, in Paris geborgen zu sein?

Er fragt sich, was er geworden wäre, wenn er in dem kleinen Dorf seines Vaters in Korsika geboren wäre.

Er fragt sich, was geworden wäre, wenn er in Marseille geboren wäre, der Stadt seiner Mutter. Er fragt sich, was er geworden wäre, wenn er in Italien geboren wäre, dam Land seiner Vorfahren.
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