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3.27 Tonbandmusik


Rudolf Frisius

Tonbandmusik

TONBANDMUSIK ist die zusammenfassende Bezeichnung für Musik, die nur mit Hilfe der Tonbandtechnik klanglich realisiert werden kann (d. h. nicht allein mit live musizierenden Sängern oder Instrumentalisten) und deren Werke als bespielte Tonbänder fixiert sind (exakte Partituren zu T. gibt es nur in Ausnahmefällen). Die klangliche Realisierung dieser Musik erfolgt nicht im Moment der Aufführung, sondern vorher, während der Produktion im Studio. Die Wiedergabe der Klänge erfolgt über Lautsprecher. - Mögliche Materialien der Tonbandmusik sind aufgenommene (konkrete) oder synthetisch im Studio erzeugte (elektronische) Klänge einschließlich ihrer elektronischen Transformationen. Die aufgenommenen und technisch verarbeiteten Klänge können unterschiedlicher Herkunft sein: Alle Klangmaterialien, die sich auf akustischem Wege produzieren und mit Mikrophonen aufnehmen lassen, bezeichnet man als konkrete Klänge. Außerdem gibt es synthetische Klänge, die sich im Studio mit Hilfe von Generatoren (elektronische Klänge) oder von Computern (Computerklänge) realisieren lassen. Dementsprechend ergibt sich folgende Einteilung der T.: 1. konkrete Musik (ausgehend von Mikrophonaufnahmen - z. B. von Umweltschall, von Klängen bestimmter Klangerzeuger oder Musikinstrumente, von Sprache, von vorgefundener Musik); 2. elektronische Musik (ausgehend von synthetischen, mit Generatoren bzw. Synthesizern erzeugten Klängen); 3. synthetische Computermusik (d. h. Musik, deren Klangmaterial mit Hilfe vom Computern produziert wird); 4. elektroakustische Musik (Musik, die technisch produzierte Klänge verschiedener Kategorien verwendet). - Die grundlegenden Verfahren der Studioproduktion sind: Aufnahme, Schnitt und Montage, klangliche Verarbeitung und räumliche Positionierung (Festlegung von Raumpositionen und -bewegungen). Die Techniken der klanglichen Verarbeitung lassen sich, unabhängig vom Ausgangsmaterial, in Verfahren einteilen, die entweder den Klangverlauf oder einzelne Klangeigenschaften oder beides verändern, z. B.:

- Transposition von Tonlage und Ablaufgeschwindigkeit (in paralleler Veränderung beider Bereiche - entweder als Zeitlupe oder als Zeitraffer - durch Veränderung der Wiedergabegeschwindigkeit oder in separaten Veränderungen z. B. mit Hilfe einer sogenannten Springermaschine);

- Rückwärtswiedergabe;

- Bandschnitt;

- Filterung (Unterdrückung bestimmter Frequenzbereiche oberhalb oder unterhalb einer Grenzfrequezn oder zwischen zwei Grenzfrequenzen: Hochpaß, Tiefpaß, Bandpaß);

- Verhallung;

- Ringmodulation (Modulation zweier Ereignisse durch Unterdrückung der Ausgangsfrequenzen und Bildung ihrer Summations- und Differenzfrequenzen);

- Verlaufsänderung (z. B. Aufprägung der Hüllkurve eines Klanges auf einen anderen).

Die meisten Verfahren der Aufnahme, Speicherung, Verarbeitung und räumlichen Positionierung von Klängen lassen sich (in der Regel in größerer Präzision) auch dann anwenden, wenn die seit den vierziger und fünfziger Jahren entwickelten analogen Produktionstechniken durch digitale Techniken ergänzt oder ersetzt werden. - T. gibt es nicht nur in selbständig aufführbaren reinen Studioproduktionen (die nicht nur auf Tonband, sondern auch auf anderen analogen oder digitalen Speichermedien fixiert werden können), sondern auch in Verbindung mit live produzierten (vokalen und/oder instrumentalen) Klängen (musique mixte). Beispiele der Verwendung der T. gibt es auch im Bereich des Musiktheaters (partiell: B. A. Zimmermann: Die Soldaten dominant oder exklusiv: P. Henry: Kyldex, Les noces chimiques K. Stockhausen: DIENSTAG aus LICHT, 2. Akt; FREITAG aus LICHT). Neben autonomen Produktionen der T. für Konzert, Rundfunk oder Tonträger gibt es auch Produktionen angewandter Musik für Hörspiel, Theater oder Film im Kontext technisch produzierter Akustischer oder Audiovisueller Kunst (z. B. Filmmusik und Multimediaprojekte von Iannis Xenakis, Bernard Parmegiani und Josef Anton Riedl). - Vorformen der T. finden sich einerseits in der Entwicklungsgeschichte des Tonfilms (insbesondere der 1930 produzierte Hörfilm Weekend von Walther Ruttmann), andererseits in experimenteller Radiokunst: Pierre Schaeffer und Pierre Henry haben seit 1948/49 in einem Experimentalstudio des ORTF die ersten Produktionen der musique concrète geschaffen, die mit aufgenommenen, montierten und technisch manipulierten Klängen arbeitet, wobei als Speichermemmdium für einzelne Klänge sowie für komplexe Montagestrukturen und vollständige Produktionen zunächst Schallplatten verwendet wurden. Seit 1951 wurde in Paris das Tonband zunächst zur Speicherung abgeschlossener Produktionen, dann auch zur Produktion einzelner Klänge und Klangstrukturen verwendet (in Kompositionen von Schaeffer und Henry, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Jean Barraqué; später auch Iannis Xenakis, Luc Ferrari, Francois Bayle und Bernard Parmegiani). Fast gleichzeitig entstanden die ersten Produktionen der amerikanischen tape music (John Cage; unabhängig davon auch O. Luening und V. Ussachevsky) und der am Kölner Rundfunk neu etablierten elektronischen Musik (Herbert Eimert, Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig; später auch György Ligeti und Mauricio Kagel). Schon in den frühen fünfziger Jahren entstanden Werke, in denen die Tonbandwiedergabe mit live-Partien gekoppelt wird (Bruno Maderna: Musica su due dimensioni, 1952, 2. Fassung 1958 - das erste Beispiel der Synthese elektronischer und instrumentaler Musik; Pierre Schaeffer und Pierre Henry: Orphée 53 für Tonband, Sänger und Instrumentalisten, 1953; Edgard Varèse: Déserts, 1954, für Orchester mit 3 gemeinsam mit Pierre Henry realisierten Tonband-Interludien mit konkreten Klängen; Pierre Boulez: Poésie pour pouvoir für aufgenommene Rezitation, elektronische Klänge und Orchester, 1958; Henri Pousseur: Rimes pour differents sources sonores, für Orchester und elektronische Klänge, 1958/59; K. Stockhausen: Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug, 1959-60). Die ersten Mischformen zwischen konkreter und elektronischer Musik entstanden, als mit zunehmender Differenzierung der Klangverarbeitungstechniken die Herkunft der Ausgangsklänge sekundär wurde (erstmals in Produktionen von Pierre Henry (Haut Voltage, 1956) und Karlheinz Stockhausen (Gesang der Jünglinge, 1955-56)). Musik mit computergenerierten Klängen wird seit den 60er Jahren produziert (Lejaren A. Hiller, Iannis Xenakis, John Chowning, Jean Claude Risset). Mischformen zwischen konkreter Musik und Computermusik ergeben sich in computergesteuerten Verarbeitungen konkreter Klänge (z. B. in Erosphère, 1979, von Francois Bayle oder in der 1985 entstandenen Kollektiv-Komposition Germinal, zu der u. a. Daniel Teruggi, Christian Zanesi und Alain Savouret Beiträge geliefert haben, die sich auf differenzierte Bearbeitungen eines einzigen kurzen Ausgangsklanges beschränken). Sowohl die analogen als auch die digitalen Produktionstechniken der T. ermöglichen vielfältige Kombinationen zwischen vorproduzierten und live erzeugten Klängen (auch unter Einbeziehung der Live-Elektronik) sowie unterschiedliche Aufführungsformen (mit den Extremen einerseits der reinen Lautsprecherwiedergabe als "akusmatische Musik", andererseits audiovisueller Präsentation unter Einbeziehung z. B. von Dias, Filmen, Live-Umweltereignissen oder -Umgebungen in Installationen oder happenings, szenischen Aktionen, Laser-shows u. a. m.).
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