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Rudolf Frisius: Francois Bayle, "La fleur future"
Z: La fleur future vollständig
Francois Bayle komponiert eine Musik der Klangbilder. Die Klänge, mit denen er arbeitet, stehen in janusköpfigen Beziehungen zur Hörwelt, die uns umgibt: Einerseits erinnern sie oft an die verwirrende Vielfalt realer Umweltgeräusche; andererseits lassen sie sich von realistischen Hörbildern deutlich unterscheiden durch ihre hochartifizielle technische Verarbeitung und durch ihre behutsame Einschmelzung in organische Formprozesse. So werden verschiedene Möglichkeiten der technisch produzierten Musik deutlich, die nur scheinbar im polaren Gegensatz zueinander stehen, die sich vielmehr in Wirklichkeit auf mannigfache Weisen gegenseitig ergänzen und bereichern können: Die elektroakustische Technik ermöglicht es, Klänge zu konservieren - sie über den Moment ihres erstmaligen Erklingens hinaus zu erhalten und später beliebig oft zu reprocuzieren. Dieser Aspekt allein aber reicht nicht aus, wenn man an die künstlerisch wesentlichen Aspekte einer Musik der Klangbilder denkt. Im Gegensatz zu realistisch ambitionierten Techniken der Photographie und des Stummfilms bemüht eine Musik der Klangbilder sich nicht in erster Linie darum, reale Vorgänge in der technischen Reproduktion vorzutäuschen. Dies wäre in den meisten Fällen schon deswegen wenig sinnvoll, weil die meisten Menschen realeVorgänge viel leichter mit dem Ohr als mit dem Auge identizieren. Dies mag in der täglichen Erfahrung oft erschwerend wirken. Für die künstlerische Erfahrung aber kann es sich durchaus inspirierend auswirken: Wenn wir Geräusche hören, ohne etwas zu sehen, dann fragen wir nicht nur, was hier tatsächlich vorgeht, sondern wir interessieren uns auch dafür, wie es klingt: Wir hören Geräusche nicht als pseudo-realistisches Dekor eines Hörspiels, sondern als Musik.
Z: Anfangsgeräusch 11´´ - vor 42´´ (Einsatz tieferer, kohärenter und glissandierender Klangfläche)
Aufgeblendetes Geräusch: dicht akkumulierte, ziemlich dichte hohe Geräuschimpulse und Rauschen
(une moule qui tourne: Maschine - klapperndes Rotationsgeräusch) (kurzer Ausschnitt)
Die Komposition "la fleur future" (Die künftige Blume), ein Werk des 1932 in Madagaskar geborenen französischen Komponisten Francois Bayle, entstand im Jahre 1994. Dieses Stück ist einerseits als selbständige Komposition aufführbar, andererseits deklariert Francois Bayle es auch als zweites Stück eines 1993 begonnenen Zyklus, der den Titel "La Main Vide" ("Die leere Hand") führt. Dieser Doppelgesichtigkeit entspricht auch die Formgestaltung des Stückes - einerseits als in sich geschlossener Verlauf, als subtil ausgeformter organischer Prozeß; andererseits als offene Entwicklung, die ziemlich plötzlich und und unvermittelt einsetzt - und in entsprechender Weise auch wieder schließt. Diese formale Ambivalenz wird schon dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welchen Klängen das Stück beginnt - und wie es sich anschließend, von diesen Klängen ausgehend, weiter entwickelt.
Z: Anfang (längerer Ausschnitt): Aufgeblendetes Geräusch - Verdichtung
11´´ - Ausblenden nach 1´09 Einsatz glissandierende Klangfläche (evtl. nur -47´´, Klangf. abw.)
Der Anfang des Stückes ist kurz und prägnant: Eine Aufblende; ein aufwärts gleitendes Geräuschband, das rasch eine etwas höhere Lage erreicht und dann dort stehen bleibt.
Z: Anfang (sehr kurz): Geräuschband: aufgeblendet und aufgleitend - stehen bleibend
Im Geräuschband vereinigen sich zwei Klangcharaktere: Einerseits ein leises, dichtes Rauschen - andererseits massierte, aber klanglich fein ziselierte Impulse in hoher Lage, die die feste Geräuschgrundierung vorsichtig aufrauhen. So entsteht ein subtiles, vielschichtiges Klangbild. Später kommen andersartige, stärker elektronisch geprägte Klänge und Klangschichten hinzu.
Z: Geräuschband: Aufblenden und Aufgleiten - stehen bleiben
anschließende Verdichtung (Akzente diskontinuierlich, vereinzelt, unregelmäßig - glissandierende, tiefere Klangfläche) 11´´- 1´09
Es entwickelt sich ein sensibel ausgeformter organischer Formprozeß - ein Übergang einererseits zu immer größerer Dichte, andererseits auch zu immer größerer klanglicher Vielfalt, in die auch vereinzelte, plötzlich erscheinende und dann anschließend auch rasch wieder verschwindende Klänge einbezogen sind: Die Klänge vervielfältigen sich - nicht nur in ihrer Anzahl, sondern auch in ihren Erscheinungsformen. - Im größeren Zusammenhang wird dieser Prozeß noch deutlicher - und zwar dadurch, daß Bayle ihn für kurze Zeit bremst, zurückführt, um ihn dann anschließend mit verstärkter Energie wieder voranzutreiben: Die dicht massierten Impulse, die schon am Anfang des Stückes zu hören waren, kehren später wieder. Aber sie bleiben nur für kurze Zeit; wenig später ändern sich die Klänge abrupt - es erscheinen kompakte, platschende, im Wechsel zwischen beiden Lautsprechern sich ablösende Geräusche. So erreicht die Musik in zwei Anläufen ein erstes Ziel: Verdichtung und Aufbrechung der Kontinuität - die Verwandlung von Klangbändern in Klangbrocken.
Z: Anfang (längerer Ausschnitt)
Klangband - Verdichtung und Aufbrechung der Kontinuität (hinzugemischte Klangbrocken)
Wiederkehr des Klangbandes - stärkere Verdichtung und Aufbrechung der Kontinuität
(bis zu den stark platschenden Klangbrocken, ausblenden nach deren Einsatz bei 1´37´´,
z. B. bei den leisen Stimmen 1´55)
Die Formentwicklung führt von zusammenhängenden Klangflächen zu vereinzelten, abgerissenen Geräuschen. Auf dem ersten Höhepunkt, zu dem diese Entwicklung führt, sind dichte Geräuschbrocken zu hörenö. An dieser Stelle zeigen sich auch erste Anzeichen dafür, daß die Entwicklung im Folgenden wieder umschlägt: Diese Geräusche wiederholen sich; mehrmals wogen sie zwischen beiden Lautsprechern hin und her. Die mehrfachen Wiederholungen machen deutlich, daß die bisher gehörten Prozesse der ständigen Verwandlung einen Wendepunkt erreicht haben:Sobald die Entwicklung ihren energiegeladenen Höhepunkt erreicht hat, verfestigen sich die Konturen, und die Musik nimmt Gestalt an.
Z: Höhepunkt: platschende Geräusche (zwischen beiden Lautsprechern hin und her wogend)
1´37 bis vor 3´01 (Einsatz des Drei-Ton-Klangmusters)
Im größeren Formzusammenhang zeigt sich einerseits die Tendenz zur ständigen, manchmal auch hin- und herflutenden Verwandlung, andererseits die Tendenz zur Verwandlung von Texturen und Strukturen in klar umrissene Gestalten. Die Tendenzen der Gestaltbildung führen schließlich so weit, daß sogar die komplexen Geräuschstrukturen mehr und mehr an Bedeutung verlieren und klarer erkennbare Tonhöhen in den Vordergrund treten.
Z: Tonmuster, erster deutlicher Einsatz ab 3´01´´ (kurz)
(mehrfach: 3 Töne, in großen Sekunden aufsteigend)
evtl. kurz zuvor einsetzend, im Übergang zu diesem Einsatz, ab 2´48´´ Wäschegeräusche
Der Übergang von komplexen Geräuschen zu klarer erkennbaren Tonhöhen wird in traditioneller Instrumentalmusik nicht selten dadurch erreicht, daß die Musik vom Rhythmischen zum Melodischen führt. Wenn Francois Bayle in seiner Komposition "La fleur future" einen solchen Übergang gestaltet, verfährt er anders: In dieser elektroakustischen Komposition interessiert der kontinuierliche Klangfluß ihn stärker als traditionelle Unterscheidungen zwischen vorwiegend rhythmischer und vorwiegend melodischer Gestaltung. Wenn in seinem Stück erstmals klare Tonhöhen zu erkennen sind, dann werden auch sie in den Sog eines breiten Klangstromes hereingezogen. Den traditionell geschulten Hörer erinnern diese kreisenden Töne weniger an eine Melodie als an ein Begleitmuster, das unablässig wiederholt und abgewandelt wird.
Z: ab Einsatz Tonmuster, 3´01´´ (längerer Ausschnitt)
Das Klangmuster aus drei sich ständig wiederholenden Tönen hat Francois Bayle bewußt einfach gehalten, so daß es - auch in vielfältigen Verwandlungen - leicht wiederzuerkennen ist. Immer wieder werden die Töne abgetastet - auch in veränderten Ablaufgeschwindigkeiten, Tonlagen und Schattierungen der Klangfarbe. Die Figuren breiten sich im Tonraum aus, und im Verlauf dieses Prozesses dringen sie Schritt für Schritt auch in höhere Tonlagen vor - sich aufrichtend wie eine wachsende Blume.Dreitonmuster in veränderter Tonlage (höher) (z. B. ab 3´48´´)
(evtl. auch mit Veränderung von Geschwindigkeit und Klangfarbe)
Im Zentrum des Stückes treten die wiederholten und abgewandelten Tonmuster - auch in ihren vielfältigen Mischungen mit anderen Klangmaterialien - so deutlich hervor, daß der Eindruck eines beständigen, kontinuierlichen Klangflusses entsteht. Erst im Schlußteil des Stückes schlägt die Formentwicklung wieder um: Man hört Brücke, Kontraste, Unterbrechungen, den Wechsel unterschiedlicher Gestaltbildungen.
Z: Schlußteil Anfang ab 9´33 platschendes Geräusch (danach leise sirrende Klangkette)
(oder evtl. etwas eher einsetzend: Übergang zum Schlußteil) (Schluß mit austeigd. Klangketten)
(Anfang und Ende je nach Sendezeit)
"La fleur future" ist eine Musik, die sich dem aufmerksamen Ohr unmittelbar erschließt - ohne den Vergleich mit einer Partitur, ohne zusätzliche Informationen des Komponisten. Wer das Stück in diesem Sinne unbefangen hört, dem mag die Herkunft und die technische Machart mancher Klänge geheimnisvoll bleiben; aber er kann dennoch Zugang zu dieser Komposition finden. Gleichwohl ist es möglich, daß ein Hörer sich nicht nur dafür interessiert, wie das Stück klingt, sondern auch dafür, wie es gemacht ist. Ihn könnten einige Mitteilungen interessieren, die Francois Bayle über sein Stück gemacht hat: Das unruhige maschinelle Anfangsgeräusch, mit dem das Stück beginnt, und die einige Zeit später einsetzenden, laut platschenden Geräusche - beide Klangereignisse hat Bayle in sein Stück wie gefundene Objekte eingeführt. Er hat sie von Geräuschaufnahmen übernommen, und die Komposition bestand darin, zwischen beiden Geräuschen vielfältige Übergänge zu erfinden und sie in diesem Zusammenhang auch mit neuartigen elektronischen Klängen zu verbinden. Wer die Herkunft der beiden Geräuschaufnahmen erkennt, der kann vielleicht auch Gründe dafür finden, warum die zweite in der Klangmischung mit Menschenstimmen zu hören ist: Sie kontrastiert zum Maschinengeräusch, mit dem das Stück beginnt; es ist die Aufnahme von Menschen bei der Arbeit, bei der es natürlich ist, daß auch die Stimmen der Arbeitenden zu hören sind. - Die Tonfiguren, die sich im Tonraum ausbreiten und dabei vor allem auch von der tiefen in die hohe Lage vordringen, deutet Francois Bayle so, wie es wohl viele Hörer versuchen werden, die den Titel seines Stückes kennen: Als Symbol der wachsenden Blume. -
"La fleur future" ist eine subtile Musik der sich verwandelnden und wechselnden Klangbilder. Unterschiedliche Bewegungstypen und Bewegungsformen im Inneren der Klänge und in größeren Formzusammenhängen prägen das Stück. Auch dann, wenn diese Komposition an manchen Stellen Erinerungen an Umweltgeräusche oder an Gestaltbildungen traditioneller Musik wachruft, bleibt unverkennbar, daß ihre Klänge ein eigenständiges Leben führen - emanzipiert von Erinnerungen an alltägliche Hörerfahrungen oder an bereits bekannte Musik. Die inneren Bilder, die diese Klänge in der Vorstellung des Hörers evozieren können, sind Wegmarken einer musikalischen Phantasie, die auch im scheinbar Bekannten das noch Unbekannte findet.
Z: La fleur future vollständig
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