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3.3.1 Radiopionier, Klangforscher: Entdecker der m.c.


Rudolf Frisius

Pierre Schaeffer: Radiopionier, Klangforscher, Entdecker der musique concrète

Z: Générique Musique et Modernité Schluß Faber et Sapiens mit Ansage ... Pierre Schaeffer, CD 4, 3 Schluß

Pierre Schaeffer: Der Radiopionier - der Klangforscher - der Entdecker der musique concrète; ein Mann, im Spannungsfeld nicht nur zwischen Wissenschaft und Kunst, sondern auch zwischen Tradition und Moderne

Z: Musique et Modernité - 14. 8. 52 Dialog Schaeffer - Jean Toscane. CD 4, 1 (Le cygne - Antiphonie)

Vous aimes la musique très moderne... ... J´adore Bach

Pierre Schaeffer rebelliert gegen voreilige Klassifizierungen. Es fällt schwer, seine Arbeit richtig einzuordnen zwischen den Polen des easy listening traditioneller Musik einerseits, der kompromißlosen musikalischen Avantgarde andererseits. Die Musik, die er durch seine Arbeit radikal in Frage gestellt hat, ist für ihn zugleich Gegenstand höchster Verehrung: Er, der als erster Musik ohne Noten komponierte, ist ein großerer Bewunderer der Musik von Johann Sebastian Bach.

Z: Schaeffer, Bilude. CD 3, 21. 2´17

Es gibt eine Aufnahme, in der die Welten Bachs und Schaeffers in direkter Konfrontation erscheinen.

Anfangs klingt es so, als würde ein Bach-Präludium auf dem Klavier gespielt: Das Präludium in c-moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers.

(Z: Bilude Anfang - normaler Klavierklang)

Erst nach einigen Takten merkt man, daß es sich nicht um die Aufnahme einer Aufführung handelt, sondern um eine technisch manipulierte Aufnahme: Man hört Schnitte, nach denen sich das Klangbild der Musik verändert. Trotzdem geht die Musik des Bach-Präludiums weiter.

(Z: Bilude normaler Klavierklang - "Cembalo")

Man könnte beim Hören des Stückes zunächst vermuten, nach einigen Takten würde das Klavier von einem Cembalo abgelöst. Im weiteren Verlauf aber zeigt sich, daß es auch darum gar nicht geht: Die Schnitte, die eine Veränderung des Klangbildes anzeigen, folgen in immer rascheren Abständen aufeinander.

(Z: Bilude Fortsetzung nach Cembalo: Rasche Schnitte mit Akustik-Wechseln:

incl. unsauberes Zusammenspiel, dumpfes Klangbild, bis zu erstem Montagestück mit Geräuschen)

Immer mehr entfernen sich die zusammengeschnittenen Fragmente vom Klangbild einer Bach-Aufführung: Sie werden rhythmisch unscharf, ihr Klangbild wird dumpf und fremdartig, und schließlich sind statt Tönen Geräusche zu hören: Das Klavier verwandelt sich in ein präpariertes Klavier.

(Z: Wiederholung der vor. Zuspielung, evtl. später aufhören - "präpariertes Klavier")

Es kommt so weit, daß man im Rhythmus des Bach-Präludiums nur noch Geräusche hört oder daß sie sich mit fremdartigen Geräuschen mischen. So ist neben der Musik der Töne eine Musik der Geräusche entstanden, und am Schluß des Stückes hört man gleichsam verschiedene Musiken gleichzeitig: Musik von Bach gleichzeitig mit einer anderen Musik.

(Bilude: Einblendung von Schaeffer-Zitaten gegen Ende)

(Schluß mit nur präparierten Klaviertönen ohne Schaeffer-Zitate evtl. weglassen)

Das Stück heißt "Bilude". Es ist ein bipolares Prélude - ein Präludium zu zwei verschiedenen Klangwelten. Die Klangwelt der traditionellen Tonkunst, wie sie das Musikleben bis ins 20. Jahrhundert hinein geprägt hat, wird repräsentiert durch die Klavier-Wiedergabe des c-moll-Präludiums von Johann Sebastian Bach. In den zahlreichen, die traditionelle Musik verfremdenden oder zu ihr hinzugefügten Geräuschen zeigt sich die Handschrift eines anderen Autors: Pierre Schaeffer. Schaeffer macht deutlich, daß sich die klaren Tonstrukturen der Klaviermusik (und der hier gespielten Komposition von Bach) auf verschiedenen Wegen verwandeln oder sogar zerstören lassen: Wenn die Saiten des Klaviers in geeigneter Weise präpariert werden, können sich ihre Töne in Geräusche verwandeln, und es können neue, über die Grenzen der traditionellen Tonleitern und Intervalle hinausführende Klänge und Klangstrukturen entstehen. Noch stärker ändert sich das Bild, wenn die Musik sich nicht nur von den Tönen, sondern auch von den Rhythmen Bachs löst - mit vollkommen selbständig hinzugefügten Klängen:

Metallisch scheppernd -

klappernd -

im Wechsel der Töne einer exotischen Flöte -

mit stampfenden Geräuschen einer Dampflok.

Z (anschließend oder in ob. Text einfügen, zeilenweise am Schluß): Schaeffer-Zitate aus Bilude:

Etude pathétique - Flute mexicaine - Etude aux chemins de fer

(evtl. jeweils Zusammenschnitte: kurzes Zitat Bidule - längerer Ausschnitt aus dem betr. Stück)

Die Klänge, Klangstrukturen und Musiken, die Pierre Schaeffer der Musik Johann Sebastian Bachs entgegenstellt, sind radikale Antithesen zu einer in vielen Jahrhunderten entwickelten kompositorischen Tradition, die ausgeht von der (zunächst abstrakten) Tonvorstellung des Komponisten und von ihrer Notation mit abstrakten Zeichen, nach deren Maßgabe dann später das konkrete Klangbild der Musik in einer Aufführung entstehen kann. Pierre Schaeffer geht genau den umgekehrten Weg: Er geht nicht von der abstrakten Vorstellung aus, sondern vom konkreten Klang, den er im Studio vorfindet oder selbst produziert.

Erst aus dem praktischen Umgang mit den Klängen entwickeln sich in seiner Musik die kompositorischen Strukturen. Diese Musik entsteht nicht aus dem Primat einer vorgegebenen Idee, sondern aus der Auseinandersetzung mit einer zunächst unübersehbaren Vielfalt von Klängen, wie sie uns in der alltäglichen H Hörwelt begegnen können oder wie sie sich aus verschiedenartigen Techniken der Verarbeitung im Studio ergeben. So entsteht "konkrete Musik" - Musik der Vielfalt des scheinbar Unvereinbaren, der paradoxen und überraschenden Konstellationen und Verbindungen von aufgenommenen Klängen aus verschiedenen Erfahrungsbereichen. Schon in einer der ersten Etüden konkreter Musik, die Pierre Schaeffer im Jahre 1948 realisierte, ergeben sich so vielfältige surrealistische Konstellationen von Stimmlauten, Geräuschen und Musikfetzen. Eine große Vielfalt unterschiedlicher Klänge läßt sich erkennen:

Das Tuckern eines französischen Schleppkahns,

Z: Etude pathétique Schleppkahn

der Singsang balinesischer Priester,

Z: Etude pathétique balinesische Priester

amerikanische Akkordeonmusik,

Z: Etude pathétique Akkordeonmusik

Wortfetzen verschiedener Stimmen,

Z: Etude pathétique Stimmschleifen

Hustengeräusche

Z: Etude pathétique Hustengeräusche (möglichst verschiedene Stimmen und verschiedenartig. evtl. Zus.schn.)

verschiedenartige Geräusche in prägnanten, zu präzisen Klangmustern collagierten Rhythmen

Z: Etude pathétique größerer Zusammenhang (Montagerhythmen mit unterschiedlichen Klängen)

So entsteht, in subtilen Mischungen mit Klangflächen aus ruhig auf- und absteigenden Tönen, eine Abfolge von Hörbildern - eingeleitet, gegliedert und abgeschlossen durch scheppernde Blechgeräusche, die gleichsam die Szenenwechsel markieren, den unsichtbaren Vorhang öffnen oder schließen. Der Wechsel zwischen den Blechgeräuschen und den Hörszenen spiegelt sich in zwei verschiedenen Titeln des Stückes: "Etude aux casseroles" oder "Etude pathétique". Man hört eine pathetische Etude mit Blechgeräuschen. (Folgt Z Et path)

Z: Etude pathétique vollständig oder Ausschnitt Klett

Das Klangmaterial, das Pierre Schaeffer verwendet, sperrt sich gegen Versuche der voreiligen Systematisierung. Es besteht aus unzähligen kleinen Fragmenten aus Aufnahmen von Geräuschen, Stimmlauten oder vorgefundener Musik, von selbstproduzierten oder in Aufnahmen vorgefundenen Klängen. Um ein mehrfaches sorgfältiges Abhören zu ermöglichen, sind diese Klänge häufig in sogenannten Bandschleifen zusammengeklebt, was die ständige Wiederholung der Wiedergabe zuläßt. In den späten vierziger Jahren, als Pierre noch keine Tonbandmaschinen und Tonbänder in seinem Studio zur Verfügung hatte, hat er solche Klangmuster auf andere Weise hergestellt: Er nutzte einen technischen Defekt aus, der beim Abspielen von Schallplatten entstehen kann - den Effekt der geschlossenen Rille, der zur automatischen Wiederholung eines Klangfragmentes führt.

Z: Sillon fermé. PS Band 3, take 20. (insges. 1´)

Wenn Klangmuster aus geschlossenen Schallplattenrillen isoliert, wiederholt und mit anderen Klängen verbunden werden, dann können Montagestrukturen und Keimzellen größerer musikalischer Zusammenhänge entstehen. Solche Zusammenhänge hat Pierre Schaeffer erstmals 1948 hergestellt - und zwar in einem Stück, das aus der Verarbeitung aufgenommener Eisenbahngeräusche entstanden ist. Es heißt "Etude aux chemins de fer", "Etüde über Eisenbahnen". In diesem Stück erscheinen die aufgenommenen Geräusche bald realistisch-hörspielartig, bald in musikalisch strukturierten Montagestrukturen verschiedener Klangmuster.

Z: Etude aux chemins de fer, Ausschnitt Klett (Anfang)

Die kleinsten Elemente dieser Musik sind keine statischen Töne, sondern lebendige, auch im kleinsten Detail sich ständig bewegende und verändernde Klänge. Wenn solche Klangmuster als geschlossene Rillen oder als Bandschleifen sich ständig wiederholen, ergibt sich ein merkwürdiges Spannungsverhältnis zwischen den freien Klangfluß im Inneren des kleinen Klangflusses und seiner ständigen mechanischen Wiederholung.

Z: Etude aux chemins de fer Schleife 1. PS Bd. 3 take 19 Anfang

Die Techniken der mechanischen Wiederholung lassen sich auf unterschiedliche Klangmaterialien anwenden, auch auf verschiedene Varianten desselben Geräusch. Beispielsweise läßt sich das Ostinato eines mehrfach wiederholten Eisenbahnwaggon-Geräusches dadurch abwandeln, daß man in demselben Rhythmus ein anderes Waggongeräusch als Klangmuster abspielt.

Z: Etude aux chemins de fer Schleife 2. PS Bd. 3 take 19 Fortsetzung

In bestimmten Strukturen der Wechselmontage lassen sich sinnfällige Beziehungen zwischen beiden Geräuschen herstellten - zum Beispiel so, daß das eine Geräusch und daß andere Geräusch gleich häufig wiederholt werden und daß die Länge der Wiederholungsmuster Schritt für Schritt abnimmt (mit ständig abnehmender Anzahl der Wiederholungen)

Z: Etude aux chemins de fer Waggonrhythmen: 4-4, 3-3, 2-2, 1-1 (möglichst ständiger Wechsel l-r).

Soirée 3,22 Anfang. 32´´

Eine solche Montagestruktur hat Pierre Schaeffer für sein Eisenbahnstück entworfen. In der Endproduktion hat er sie allerdings durch Schnitt verkürzt und auf diese Weise rascher zum Abschluß gebracht.

Z. Etude aux chemins de fer Waggonrhythmen Endfassung 4-4, 3-3, 1(-1).

Soirée 3, 22 Fortsetzung 25´´

Solche Waggonrhythmen sind in Pierre Schaeffers Stück zu hören, nachdem man zuvor den Abpfiff und die Abfahrt der Lokomotive und das Anrollen der Waggons gehört hat. So verwandeln sich Alltagsgeräusche in eine musikalische Struktur.

Z: Etude aux chemins de fer, Ausschnitt Klett (oder evtl.vollständiges Stück, Fassung 1948 ohne Honegger)

(In musikalischer Ausgestaltung hört man ein Anfangssignal, den Prozeß der Beschleunigung des anfahrenden Zuges und schließend den Zug in voller Fahrt. Mit modernen Studiotechniken gestaltet Pierre Schaeffer hier einen Formverlauf, wie ihn vor ihm schon ein anderer Komponist mit dem Mitteln des großen Orchesters zu erreichen versucht hatte: Artur Honegger in seinem 1923 entstandenen Lokomotivstück "Pacific 231".

Z: Honegger, Pacific 231, Ausschnitt Klett Sequenzen 5-6)

Das Pfeifsignal - die Abfahrt - das Rumpeln der Waggons - die regelmäßigen Waggonrhythmen:

Diese verschiedenen Stadien verbindet Schaeffer miteinander wie verschiedene Abschnitte einer Filmsequenz. Die Fortsetzung findet er in ähnlicher Weise wie bei seiner Arbeit mit den Klangmustern: Durch rhythmische Wiederaufnahme mit ähnlichen, aber nicht genau identischen Klängen. So folgt der ersten Abfahrsszene eine zweite - und damit wird deutlich, daß es nicht um das Hörbild einer einzigen Eisenbahnfahrt geht, sondern um Szenen mit verschiedenen Eisenbahnen, die filmisch geschnitten werden.

Z: Etude aux chemins de fer, 2. Abschnitt (ab 2. Pfiff, aufhören vor Glissando)

Nachdem man zweimal gehört hat, wie der Zug abfährt und in Fahrt kommt, ändert sich im weiteren Verlauf das Erscheinungsbild des Stückes: Die Klangfragmente werden kürzer, wie wechseln in rascheren Montagerhythmen und sind schwieriger zu identifiziern als die ihnen vorausgegangenen Klänge. Mehr und mehr löst sich das Stück aus dem pseudorealistischen Kontext eines Hörfilms und verwandelt sich in eine Struktur aus eigenständigen, von anekdotischen Alltagsbezügen unabhängig gewordenen Klängen: In technisch produzierte Musik.

Z: Etude aux chemins de fer ab Glissando Version 1948 (bis Ende)

Aus dem Klangbild der abfahrenden Eisenbahn ist Musik entstanden. So sinnfällig dieses Musik beginnt, so schwierig ist es, eine eindeutig überzeugende Lösung zu finden, die sie zum Abschluß bringt. Schaeffer selbst hat deutlich gemacht, daß hier mehrere Lösungen möglich sind. In einer späteren, 1970 entstandenen Fassung hat er einen anderen Schluß dieses Stückes gefunden: Ein letztes, besonders markantes Anfahren der Lokomotive - ein letztes, besonders prägnantes Pfeifsignal.

Z: Etude aux chemins de fer ab Glissando (oder später) Version 1970 Ende

Die "Etude aux chemins de fer" ist die erste Produktion einer neuen, technisch produzierten Musik, für die Pierre Schaeffer wenig später einen prägnanten Namen "musique concrète" fand: Musique concrète..

Z: O-Ton Schaeffer (musique concrète, CD 4, Präsentationstext 1948)

"Konkrete Musik" ist die Eisenbahn-Etüde in dem Sinne, daß sie von aufgenommenen Klängen ausgeht, wie sie sich in der Realität der technisch geprägten Umwelt finden. Interpreten im traditionellen Sinne gibt es in dieser Musik nicht mehr, da alle Klänge aus vorgefundenen Aufnahmen und deren Verarbeitung im Studio hervorgehen. Die Radikalität dieses neuen Ansatzes hat Schaeffer offensichtlich stark beschäftigt und ihn auf die Idee gebracht, in der folgenden Produktion nach einer weniger radikalen Lösung zu suchen: Um sich wichtige Qualitäten einer live gespielten Musik wenigstens teilweise zu erhalten, beschloß er, aufgenommene und live gespielte Klänge miteinander zu verbinden und das Ergebnis ihrer Überlagerung wiederum aufzunehmen. So entstand eine "konzertante Etüde", in der der Aufnahme eines sich einstimmenden Orchesters sich einfach präludierende Arpeggien eines Komponisten überlagern.

Z: Diapason Concertino (Version 48 von Concertino Diapason)

Die mit dem Kammerton beginnende "Konzertante Etüde" (die später in umgearbeiteten Versionen auch unter den Titeln "Diapason Concertino" und "Concertino Diapason" bekannt wurde) ist der erste Ansatz zur Entwicklung einer "musique mixte", in der sich aufgenommene und live interpretierte Klangstrukturen miteinander verbinden. Schaeffer selbst war mit diesem ersten Versuch nicht sonderlich zufrieden, weil die einfachen und konventionellen Improvisationen des Pianisten Jean Jaques Grunenwald das Klangbild allzu stark prägten. Immerhin aber bereitete dieses Stück den für spätere erfolgreichere Versuche mit weiter entwickelten Improvisationstechniken - beispielsweise für die originelle Produktion "Jazz et Jazz", die André Hodeir, der französische Jazzexperte, 1951 in Schaeffers Studio realisierte.

Z: Hodeir: Jazz et Jazz

Der Versuche, aufgenommene und live gespielte Klänge miteinander zu verbinden, hat Pierre Schaeffer in seiner eigenen Produktion nur selten interessiert. Schon 1948 entdeckte er bestimmte Schwierigkeiten, die Produkte langwieriger Studioarbeit mit einfachen Improvisationen zu verbinden. Aussichtsreicher erschien ihm der Versuch, verschiedene instrumentale Fragmente aufzunehmen, im Studio zu verfremden und schließlich in verschiedenen Varianten der technischen Verfremdung im fertigen Stück aneinander zu reihen. Von dieser Technik hat Schaeffer bereits 1948 in einer Studie Gebrauch gemacht: in der "Etude aux tourniquets".

Z: Etude aux tourniquets. 1´54

Die "Etude aux tourniquets" ist ein Stück, dessen Klangmaterialien Schaeffer von verschiedenen Instrumenten und Klangerzeugern erhielt. Auf seine Bitte hatte der Organist Gaston Litaize eine Partitur komponiert, um das Zusammenspiel dieser verschiedenen Klangquellen bei der Studioaufnahme sicherzustellen. Die so entstandene Aufnahme hat Schaeffer später durch Schnitt und Montage so weitgehend verändert, daß das Resultat seiner Ummontierung sich weitgehend von der Partiturvorlage entfernt. Überdies hat Schaeffer die aufgenommenen Klangfragmente durch technische Verfremdungen weitgehend verändert - z. B. am Schluß des Stückes durch dramatisch wirksame Beschleunigungen und Verhallungen. So entstand ein wirkungsvoll geformtes Stück - allerdings mit durchaus unterschiedlichen Klangquellen.

In zwei späteren Studien versuchte Schaeffer, sich auf ein einziges Instrument als Klangquelle zu beschränken - nämlich auf das Klavier. Er beauftragte den damals noch sehr jungen Pierre Boulez damit, unterschiedliche Klaviersequenzen mit gegebenen Charakteristiken einzuspielen, und anschließend machte er sich an die technische Verarbeitung der aufgenommenen Sequenzen. In diesem Stück, dem er später den Titel "Etude violette" (d. h. "Violette Etüde") gab, wandte Schaeffer erstmals eine Technik der technischen Verfremdung an, die danach äußerst bedeutsam auch für spätere Produktionen werden sollte: Die Rückwärts-Wiedergabe. Bei mehreren markanten, klanglich fremdartigen Akkorden ist diese Verfremdung deutlich zu erkennen.

Z: Etude violette rückwärts wiedergegebene Akkord ab ca. 1´25

Die Herkunft dieser eigentümlich g efärbten und gestalteten Akkorde wird deutlich, wenn man sie in rückläufiger Folge anhört, d. h. im originalen Klangbild.

Z: voriger Ausschnitt in umgekehrter Ablaufsrichtung (d. .h. im Klangbild der originalen Vorwärtswiedergabe)

Von den Rückwärts-Wiedergaben der aus Klavierklängen gemachten "Etude violette" führt die Entwicklung weiter zu der 1949 entstandenen "Suite pour 14 instruments" (der "Suite für 14 Instrumente", die in späterer verkürzter Umarbeitung auch unter dem Titel "Suite quatorze", "Suite vierzehn", bekannt geworden ist). In diesem Stück hat Schaeffer die Technik der Rückwärtswiedergabe nicht nur auf einzelne Tonkomplexe, sondern auch auf in sich zusammenhängende musikalische Abschnitte angewandt. Dieses technische Verfahren war ihm so wichtig, daß er es später in einer Radiosendung den französischen Hörern an einem Beispiel ausführlich erläuterte.

Z: Suite 14 Demonstration Vorwärts-Rückwärts (mit Trommel beginnende Instrumentalpassage,

Ankündigung und Durchführung der Rückwärts-Wiedergabe)

Ein Satz der "Suite 14" ist aus einer Phrase gebildet, die zunächst aufgestellt und dann gleich anschließend rückwärts wiedergegeben wird.

Z: Suite 14 - Vagotte Anfangsphrase vorwärts - rückwärts

Mit technischen Mitteln schafft Schaeffer zu Beginn dieses Stückes ähnliche Zusammenhänge, wie sie einst Webern für den ersten Satz seiner Klaviervariationen opus 27 ausnotierte: Eine kurze, aus zwei Zellen bestehende Phrase wird aufgestellt und anschließend in rückläufiger Abfolge wiederholt. Man kann die Entsprechung dadurch deutlich machen, daß man die rückläufige Wiederholung auch bei Webern durch eine technische Rückwärtswiedergabe verdeutlicht.

Webern op. 27 1. Satz oder evtl. 3. Satz Mitte (Rückwärtswiedergabe technisch ausgeführt)

Schaeffer folgt - freilich ausgehend von einfacheren, stärker tonalen Satzmustern - dem Vorbild Weberns, wenn er Vorwärts- und Rückwärtswiedergabe in kurzen musikalischen Zusammenhängen vorführt - nicht in größeren Zusammenhängen, wie wir sie aus älterer Musik kennen (beispielsweise aus dem retrograden Menuett in Haydns Klaviesonate A-Dur oder in seiner Symphonie G-Dur, aus dem Krebskanon im Musikalischen Opfer von Johann Sebastian Bach oder aus einer Vokalkomposition von Guillaume de Machault, die ihre Krebssymmetrien schon im Titel deutlich macht: Ma fin est mon commencement).

Pierre Schaeffer entwickelt die Formidee eines ganzen Satzes der Suite daraus, daß Klangzellen vorwärts und gleich anschließend rückwärts eingeführt werden. Eine längere Formentwicklung ergibt sich daraus, daß wiederkehrende Klangzellen in der Regel in transponierter Form erscheinen - d. h . verfremdet entweder durch Zeitraffer oder durch Zeitlupe.

Z: Suite 14 Vagotte vollständig oder nur Anfang (1. Version)

Die vollständige Transposition von Klängen oder musikalischen Zellen führt dazu, daß die Klänge entweder höher und schneller oder tiefer und langsamer werden. Als Vorbild für solche Prozesse hat Pierre Schaeffer ein historisches Beispiel genannt: Eine Passage aus dem Schlußsatz der Sinfonie fantastique von Hector Berlioz, in der die gregorianische Melodie der Sequenz Dies Irae nacheinander in drei verschiedenen Oktavlagen und Geschwindigkeiten erscheint. In dieser Kompositionsweise ist ein zweitmaliger Zeitraffer-Aspekt bereits vorweggenommen.

Z: Sinfonie fantastique Finale Dies Irae Demo: Ausgangs-Oktavlage - 1 bzw. 2 Oktaven höher u. entspr. schneller

Effekte der totalen Transposition, wie man sie als mögliche Vorahnungen bereits in der Fantastischen Sinfonie von Berlioz erkennen kann, spielen in der frühen musique concrète eine wichtige Rolle. In einem zentralen Satz der "Suite 14" von Pierre Schaeffer werden sie zum bestimmenden Prinzip - einem Prinzip allerdings, das, wie eine spätere Neubearbeitung zeigt, auch in unterschiedlichen Versionen realisiert werden kann.

Z: Suite 14 Vagotte vollständig

Die Techniken der totalen Transposition und der Rückwärts-Wiedergabe gehören zu den wichtigsten Verfahren der frühen musique concrète. Pierre Schaeffer hat sie, teilweise in Zusammenarbeit mit Pierre Henry, mit unterschiedlichen Klangmaterialien praktiziert - vor allem mit Klängen von Instrumenten sowie von Tier- und Menschenstimmen. Die Möglichkeiten im letztgenannten Bereich, im Bereich der Fragmentierung und Verfremdung menschlicher Stimmlaute, stehen im Vordergrund in dem vielleicht berühmtesten Werk der musique concrete, einer Gemeinschaftsproduktion von Pierre Schaeffer und Pierre Henry: In der Symponie für einen einsamen Menschen. In diesem Werk finden sich vielfältige Beispiele für die elementaren Techniken der Verfremdung menschlicher Stimmlaute, wobei sich je nach Ausgangsmaterial vollkommen unterschiedliche Wirkungen ergeben können.

Pierre Schaeffer gehörte zu den ersten europäischen Musikern, die sich praktisch und theoretisch mit Musiken anderer Kulturkreise auseinandersetzten. Seine Arbeit im Radio, die er von 1944 bis 1974 ausübte, führte ihn bei verschiedenen Gelegenheiten auch in andere Länder und Kontinente. Das brachte ihn auch auf Ideen für verschiedene Produktionen. Das erste Beispiel hierfür ist ein 1949 entstandenes Stück, dessen Klangmaterial aus kurzen, improvisierten Floskeln entwickelt ist, die Schaeffer auf einer aus Mexiko mitgebrachten mexikanischen Flöte spielt, indem er bald mit kurze Motive aus ihren vier Tönen bildet, bald mit einem Metallring auf das Korpus klopft und so Geräusche erzeugt.

Z: Improvisationsfloskeln Schaeffer zu Variations sur une flute mexicaine. Aus MBT

Die Komposition, die Pierre Schaeffer aus diesen wenigen kurzen Motiven entwickelt hat, entwickelt sich aus der Idee vielfältiger Variation, wobei sich das Ausgangsmaterial fortwährend verändert oder gleichsam in ständig wechselnden Beleuchtungen erscheint. Die wichtigsten Veränderungen sind aus der Filmtechnik bekannt: Zeitraffer und Zeitlupe. Dies bedeutet: Die Ausgangsmotive erscheinen entweder höher und zugleich schneller - oder tiefer und zugleich langsamer.

Z: Zusammenschnitt Zeitlupe und Zeitraffer des Anfangsmotivs aus Flute mexicaine

Das Stück beginnt in originalgetreuer Tonlage und im originalgetreuen Tempo. Erst im weiteren Verlauf ändern sich die Spielfiguren und Geräusche durch Zeitraffer- und Zeitlupen-Effekte, sodaß einerseits raschere und langsamere Ablaufgeschwindigkeiten ins Spiel kommen und andererseits die melodischen Gestalten sich im Tonraum ausbreiten - ähnlich wie in einer Fuge. So entsteht ein merkwürdiges Zwitterbild einer technisch verfremdeten Musik mit Pseudo-Anklängen an traditionelle homophone und polyphone Gestaltungsprinzipien, an Variation und Fuge. Das eigentliche Thema, das hier variiert wird, besteht aber nicht aus melodischen oder harmonischen Gestalten, sondern es ist der Klangcharakter des hier verwendeten Instrumentes - der mexikanischen Flöte.

Z: Variations sur une flute mexicaine vollständig (oder evtl. längerer Ausschnitt)

Die Idee, aufgenommenes, mit einem einzigen Instrument gespieltes Material zur Grundlage eines ganzen Stückes zu machen, hat in der Frühzeit der technisch produzierten Musik eine wichtige Rolle gespielt. Das wohl bekannteste frühe Beispiel ist eine Produktion aus dem Jahre 1950, die Pierre Schaeffer damals gemeinsam mit Pierre Henry realisierte - einem jungen Musiker, der Klavier und Schlagzeug und überdies bei Olivier Messiaen Komposition studiert hatte. Henry konzentrierte sich in diesem Stück auf das Spiel auf dem präparierten Klavier, während Schaeffer die aufgenommenen Klänge technisch veränderte. Auch dieses Stück geht von Spielfiguren aus, die in originaler Tonlage und in originaler Ablaufgeschwindigkeit wiedergegeben werden - gleichsam als Thema, das sich dann im weiteren Verlauf durch Zeitraffer- und Zeitlupeneffekte verändert und gleichzeitig im Tonraum ausbreitet, ähnlich wie das Thema einer Fuge. Auffällig ist allerdings, daß im Thema selbst sich keine traditionell notierbaren Tonhöhen mehr erkennen lassen, weil durch die Klavierpräparationen starke Geräuscheffekte entstehen, die eine eindeutige Tonhöhenwahrnehmung unmöglich machen. - Das Stück heißt "Bidule en ut" - d. h. "Dingsda in C." Schaeffer erklärt diesen Titel damit, daß auf dem Klavier anfangs eine C-Dur-Tonleiter gespielt wird - eine Tonleiter allerdings, die durch die radikale Präparation des Klaviers vollständig unkenntlich gemacht, ins Geräuschhafte verzerrt wird. So entsteht ein verfremdetes Thema, das dann anschließend weiter verfremdet wird in wechselnden Tonlagen und Ablaufgeschwindigkeiten, in Stauchungen und Spreizungen.

Z: Bidule en ut vollständig. CD

Stauchungen und Spreizungen, wie sie Pierre Schaeffer und Pierre Henry in "Bidule en ut" verwenden, eignen sich besonders gut zur Abwandlung instrumentaler Spielfiguren. Schaeffer hat allerdings auch deutlich gemacht, daß auch andersartige Klangmaterialien mit diesen Techniken verarbeitet werden können - z. B. Fragmente eines Vogelgesanges.

Z: Indikativ RAI aus MBT

Schaeffer hat 1950 ein Stück produziert, in dem aufgenommener Vogelgesang in zweideutiger Funktion erscheint: Einerseits als Naturlaut, andererseits als Sendezeichen einer Rundfunkanstalt, des italienischen Rundfunks RAI. Es handelt sich um ein kurzes Fragment aus dem aufgenommenen Gesang einer Nachtigall. Dieses Motiv hat Pierre Schaeffer weiter verarbeitet - und zwar zunächst dadurch, daß er einzelne Abschnitte auch in der Rückwärtswiedergabe einmontierte.

Z: Rückwärts abgespieltes Fragment aus L´Oiseau RAI

Aus vorwärts und rückwärts abgespielten Fragmenten ergibt sich der größere Zusammenhang eines Themas, das dann anschließend variiert und verarbeitet wird in wechselnden Tonlagen und Ablaufgeschwindigkeiten. So wird der Naturlaut des Vogelgesanges zum Ausgangsmaterial technisch produzierter Musik.

Z: L´Oiseau RAI vollständig (evtl. vorher Ansage und/oder Erläuterungen aus MBT)

Die konkrete Musik entsteht aus der Konzentration auf den einzelnen, als Fragment aus einer Aufnahme herausgelösten Klang. Bei ihrer Realisation im Studio sind Klangforschung und Komposition stets unlösbar miteinander verbunden. Diese Musik, die in ihren ersten Produktionen aus kleinsten Schallplattenfragmenten zusammengesetzt wurde, hat Pierre Schaeffer in jehrelanger Forschungs- und Produktionsarbeit weiter entwickelt, bis er 1959 in einer mehrsätzigen Komposition ein Fazit seiner neuenen musikalischen Praxis und seines neuen musikalischen Denkens ziehen konnte: In seiner "Etude aux objets" (d. h. "Studie über Klangobjekte") - einem Werk, das Schaeffer aus kleinsten Klangobjekten aufbaut, wobei sich vollkommen neuartige Zusammenhänge ergeben.

Z: Etude aux objets 1. Satz Zusammenschnitt:

a) Zerlegung mit Ansagen - b) Ausschnitt Stück Soirée PS 5

Pierre Schaeffer hat es in seiner musikalischen Arbeit immer wieder verstanden, seine Hörer zu überraschen. Die streng musikalisch strukturierten Klangstudien, die in den späten fünfziger Jahren entstanden, markieren einen radikalen Positionswandel gegenüber den hochexpressiven Stücken, die Schaeffer in den frühen fünfziger Jahren realisierte. Die mehrsätzige "Etude aux objets" markiert eine strikte Gegenposition zu einer vielsätzigen Produktion, die Schaeffer in den Jahren 1949 und 1950 gemeinsam mit Pierre Henry realisiert hatte: Zur "Sinfonie für einen einsamen Menschen" - "Symphonie pour un homme seul".

Z: Symphonie pour un homme seul Anfang Ausschnitt Klett oder 1. Satz vollständig

Pierre Schaeffer geht auf die Suche nach neuen Klängen und Klangstrukturen, weil er hofft, daß sie so zu sprechen beginnen, den Hörern etwas zu sagen haben. Das, was sie zu sagen haben, ist allerdings schwer zu beschreiben. Sowohl die neuen Klangstrukturen als auch die neuen expressiven Möglichkeiten dieser Klänge entziehen sich bisher bekannten Möglichkeiten der Beschreibung. Dies könnte Schaeffers zahlreiche Versuche erklären, seine rätselhaften Klänge mit poetischen oder analytischen Texten zu verbinden. Damit verläßt er eine Extremposition, die er zuvor in der "Symphonie für einen einsamen Menschen" bezogen hatte: Obwohl Schaeffer und Henry in diesem Werk ausgiebig Gebrauch von Stimmlauten machen, gibt es hier keinen in Musik gesetzten Text, sondern nur ein einziges Wort, das nur an einer Stelle vorkommt - und selbst dort nur in äußerster Zersplitterung erscheint: Das Wort "absolument".

Z: Symphonie pour un homme seul, Apostrophe ab langem a (absolument)

Der Versuch des Durchbruchs zum sprachlich verständlichen Wort bleibt in der "Symphonie für einen einsamen Menschen" nur vereinzelt und letztlich vergeblich. Diese "Symphonie" ist in wesentlichen Teilen Musik der stimmlichen, aber wortlosen Expression.

Z: Symphonie Collectif (Wortlose Stimmen)

Ganz anders konzipiert als die "Symphonie für einen einsamen Menschen" ist "Orphée". Dieses Projekt, das Schaeffer als "konkrete Oper" plante und gemeinsam mit Pierre Henry realisierte, verbindet konkrete Klänge nicht nur mit live gesungenen und gespielten Partien, sondern auch mit einem Text. Das Stück existiert in vielen verschiedenen Fassungen. Die erste Fassung wurde 1951 unter dem Titel "Toute la lyre" in Paris uraufgeführt. Unter den zahlreichen später entstandenen Fassungen gibt es auch eine gemischte deutsch-französische Version, die für die Uraufführung auf den Donaueschinger Musiktagen 1953 produziert worden ist. Vor allem in der Donaueschinger Fassung wird deutlich, wie stark gegenüber der "Symphonie pour un homme seul" die dramaturgischen Vorstellungen verändert haben: Der gesprochene Text steht offensichtlich im Vordergrund - wie im traditionellen Melodram, das wir auch aus Opernszenen kennen.

Die Arbeit, die Pierre Schaeffer in der Radiopraxis, in der Klangforschung und in der Musik geleistet hat, stellt scheinbar selbstverständliche Abgrenzungen in Frage. Das zeigt sich auch im engeren Zusammenhang der Musik: Seine eigenen Arbeiten versteht er nicht als Beiträge zu einer speziellen musikalischen Tradition, sondern als Bestandteile eines breiten Spektrums, das vom Vogelgesang über Musiken verschiedener Epochen und Kulturkreise führt bis zur modernen, technisch produzierten Musik.

(Die Fragen, auf die Pierre Schaeffer Antworten sucht, führen zurück bis zu den Anfängen der Musik.

Gleichzeitig fragt er nach einem bis heute gültigen Verständnis von Musik: Wenn beginnen wir von Musik zu sprechen - dann, wenn jemand sie macht, oder dann, wenn jemand sie hört?

Von unserer Antwort kann es abhängen, in welcher Weise wir den Gesang eines Vogels hören - vielleicht als gemachte oder gehörte Musik.

Z: Vogelgesang aus CD PS 4, take 5

Wenn wir den Gesang der Vögel als Musik wahrnehmen, könnten wir ihn insofern als erste Stufe menschlicher Musik bezeichnen, als er von Menschen mit Interesse gehört werden kann. Eine zweite Stufe ergibt sich in dieser Perspektive dann, wenn der Mensch sich dafür interessiert, mit Gegenständen seiner Umgebung Klänge zu erzeugen - zum Beispiel mit Steinen, wie sie sich der Mensch schon in einem frühen Stadium seiner Geschichte als Geräte nutzbar gemacht hat.

Z: Musik der Litophone aus CD PS 4, take 5

Auf einer weiteren Stufe, die in vielen verschiedenen Kulturkreisen zu finden ist, findet der Mensch besondere, der alltäglichen Nutzung entzogene Klangerzeuger: Musikinstrumente.

Z: Musik aus Kamerun aus CD PS 4, take 5

Die von Pierre Schaeffer eingeführte musique concrète schließlich geht noch einen Schritt weiter: Sie verwendet technische Apparaturen, die die Speicherung und technische Verarbeitung beliebiger vorgefundener Klänge erlauben - zugleich als Zusammenfassung und als Weiterführung aller bisher bekannten musikalischen Möglichkeiten.

Z: Anfang SHS aus CD PS 4, take 5)

Z: Retour aux sources. 26. 5. 60. 2´58. CD 4, take 5 (evtl. die 3 Beispiele in den Text eingefügt)

Fängt die Musik an, wenn man sie macht oder wenn man sie hört? - Nachtigall

Steinzeit: Litophone, Unterschied der Musik der Naturvölker von den mus. Hochkulturen - exotische Musik

Ägypten (Hierogl.), Griechenland (Skalen) - Kamerun Mensch u. Maschine (SHS, evtl. Geräusch, Messiaen)

Pierre Schaeffer, der von 1912 bis 1995 lebte, hat die Musik und die gesamte Hörerfahrung seines Jahrhunderts verändert wie kaum ein anderer. Seine Arbeit ist unlöslich verbunden nicht nur mit der kulturellen und technischen, sondern auch mit der politischen Entwicklung seines Jahrhunderts.

Z: Telefonat Eluard - Schaeffer, August 44: Soiree 2, take 14 (65) (2mal kopieren) 20´´

Es gibt ein historisches Tondokument, das gleichsam als Momentaufnahme deutlich macht, wie Pierre Schaeffer mit seiner Arbeit Geschichte gemacht hat. Die Klangereignisse, die zu hören sind, dokumentieren Zeitgeschichte:

Ein ferner Kanonenschuß - ein Telefon klingelt - man hört, wie draußen Männer die Marseillaise singen.

Zwei Männer beginnen, miteinander zu telefonieren. Zunächst erkennen sie sich nicht: Der eine will Monsieur Pierre Schaeffer sprechen. Schaeffer, der Radiomacher, gibt sich zu erkennen. Erst jetzt erkennt ihn der andere, erkennt ihn als guten Freund und gibt sich selbst zu erkennen: Der Dichter Paul Eluard.

Z: Telefonat Eluard - Schaeffer 20´´

Paris, 20. August 1944: Die Befreiung der Stadt von deutscher Besetzung beginnt. Man hört Schüsse von den Straßenkämpfen, Gesang und ein Telefonat: Geräusche, Musik und Sprache. Mitten im Trubel der Ereignisse telefonieren zwei Menschen miteinander, die sich schon seit längerem auf diesen Tag vorbereitet haben: Paul Eluard und Pierre Schaeffer. Schaeffer hat in diesen Tagen das Radio des freien Frankreich begründet, und aus seinem Studio stammen die wichtigsten Tondokumente jener Tage.

Z (evtl.): Paris 1944 Kirchenglocken Soiree 2, take 17 (68) (evtl. kürzen F - M bis votre quartier est calme)

In den Tagen der Befreiung von Paris etablierte Pierre Schaeffer den Rundfunk der französischen Nation, als Stimme der provisorischen Regierung der neuen Republik. Aus Schaeffers Studio kam der Aufruf, die einziehenden Truppen zu begrüßen mit dem Läuten der Kirchenglocken. (Noch ist es nötig, die Bürger zur Vorsicht zu mahnen: Sie sollen nur dann auf die Straße gehen, wenn es dort ruhig ist.) Deutlich zu hören ist, daß der Aufruf befolgt wird. Es erklingt das Symbol des Wiederstandes: Die Glocken - Les cloches

Z: Schluß der vorigen Zuspielung (beginnen nach M votre quartier est calme)

Pierre Schaeffer ist der wichtigste Pionier des Rundfunks im wieder befreiten Frankreich, in der Geburtsstunde der vierten Republik. Die Tonaufnahmen aus den Tagen der Befreiung von Paris, die in seinem Studio entstanden, sind Dokumente der Zeitgeschichte - und zugleich Dokumente einer modernen Medienpraxis, die Aktualität nicht im schriftlichen Dokument fixiert, sondern in der konkreten sinnlichen Erfahrung, so weit sie sich durch den Lautsprecher übermitteln läßt (sei es live in der Radio-Übertragung, sei es in technischer Konservierung auf Tonträgern, die später die akustische Vergegenwärtigung des inzwischen Vergangenen erlauben): Musik - die auf der Straße gesungene Hymne oder die Fanfare des neuen Rundfunksenders; Geräusche - Kanonenschüsse oder Glocken; klingende Sprache - die Stimmen der Akteure.

Wenn diese Hörereignisse in einer Lautsprecherübertragung zu hören sind, gewinnen sie eine andere Realität: Nicht als Bestandteile einer direkt und mit verschiedenen Sinnen gleichzeitig erfaßten Realität, sondern als unsichtbare Klangbilder der Musiken, der Geräusche, selbst der sprechenden Stimmen. Dabei wird deutlich, daß auch im Hören sich verschiedene Wahrnehmung unterscheiden lassen - etwa dann, wenn über den Straßenkampf gesprochen wird und gleichzeitig Kanonenschüsse zu hören sind.

Z: Georges Bidault, Ansprache Paris August 1944 (Kanonenschüsse als Interpunkt). Soiree 2 15 (66). 25´´

1944, in den Tagen der Befreiung von Paris, wurde eine Ansprache Georges Bidault aufgenommen, in der "le combat", der Kampf, nicht nur angesprochen, sondern auch akustisch illustriert wird: Man hört Kanonenschüsse - gleichsam als Bilder von Satzzeichen, die die Realität gesetzt hat. Um so deutlicher wird, daß die gesprochene Sprache hier, vor allem durch die Verbindung mit Geräuschen, ganz andere Realitäts-Dimensionen erhält als etwa ein gedruckter Text.

Pierre Schaeffer erinnert uns immer wieder daran, wie wichtig gerade im 20. Jahrhunderts, im Zeitalter der auditiven und audiovisuellen Massenmedien, die unmittelbare sinnliche Erfahrung und die Bewußtmachung ihrer bisherigen und neueren Funktionen sind. Er, der selbst jahrzehntelang als Schriftsteller gearbeitet hat, wollte in seiner Radioarbeit bewußt machen, daß für die Sprache der Literatur sich im Zeitalter des Lautsprechers neue Möglichkeiten ergeben haben: Ein Gedicht wird im Radio gesprochen - vielleicht sogar vom Dichter selbst, der so mit eigener Stimme sprechen kann zu einem anonymen, womöglich breit verstreuten Publikum. Schon in den schwierigen Monaten und Jahren der Resistance-Zeit, die der Befreiung von Paris vorausgingen, sorgte Schaeffer dafür, daß zum Widerstand aufrufende Texte heimlich aufgenommen wurden - zum Beispiel ein Gedicht seines Freundes Paul Eluard - eine Beschwörung der Freiheit, liberté.

Z. Paul Eluard: Liberté. Soiree 2, 7. 17´´

Pierre Schaeffer wurde zum Radiopionier des befreiten Frankreich, weil er sich auf die Befreiung rechtzeitig vorbereitet hatte. In den Jahren der deutschen Besetzung und der Resistance hatte er in Beaune ein radiophones Versuchsstudio gegründet. Zusammen mit dem Schauspieler und Regisseur Jacques Copeau konzentrierte er sich zunächst auf neue Möglichkeiten der Literatur-Vermittlung über das Radio. Diese Versuche standen am Anfang einer Entwicklung, die später weit über Literatur und Radiopraxis hinaus wirken sollte. Sie begannen mit neuen Möglichkeiten radiophon übermittelter Sprache - z. B. mit Text-Rezitationen im sorgfältig inszenierten Wechsel zwischen verschiedenen, einzelnen und in Gruppen zusammengefaßten Stimmen.

Z Charles Peguy: Prières dans la cathédrale Soiree 2, 25 (77). Ce qui part... testament. 47´´.CD D, take 13

Première prière: Prière de la résidence (mit Ansage)

M FF F M F M MM FF MM FF MM FF MM

Radiophon inszenierte Literatur konnte sich ergeben aus der mit dem Mikrophon aufgenommenen Rezitation mit einer einzigen Sprechstimme oder aus der Aufteilung eines Textes auf verschiedene Sprechstimmen. In dramaturgisch weiter entwickelten Modellen konnten auch andere Klangdimensionen einbezogen werden, z. B. die Dimension der für die Hörspielregie so bedeutsamen Geräusche. Ein charakteristisches Beispiel hierfür findet sich am Anfang einer der ersten Produktionen des Versuchsstudios: Vol de Nuit (Nachtflug) von Antoine de Saint-Exupéry.

Z: Vol de Nuit; Soiree 2, 39 (89), 80´´

Flugzeuggeräusch: Les collines... bien heureuse. CD 1, take 12

Die Radio-Adaption des "Vol de Nuit" von Antoine de Saint-Exupéry wurde in Schaeffers Studio im Geheimen produziert - mit dem Ziel einer Ausstrahlung nach der Befreiung. Schon der Vorspann des Stückes war unmißverständlich in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft formuliert: Angesagt wurde eine Produktion des Rundfunks der französischen Nation.

Z: Vorspann Vol de Nuit; Soirée 2, 38 (88), 15´´. CD 1, take 12

La Radiodiffusion... ... Albert Ollivier

In der Arbeit seines Versuchsstudios engagierte Schaeffer sich nicht nur als Produzent, sondern auch als Schriftsteller. Den Text zu einer großen achtteiligen Produktion hat er selbst geschrieben: La Coquille à Planètes (Die Planetenmuschel). In einer szenischen Episode dieses Stückes findet sich gleichsam ein akustisches Panorama seiner Entstehungszeit, der Schreckenszeit des Krieges: Ein spannungsreicher Text verbindet sich mit einem Sirenengeräusch und mit katastrophischer Musik von Instrumenten und Stimmen.

Z: La Coquille à Planètes. Ausschnitt mit Sirene. Soirée 2, 9 (56). 3´30. CD 3, take 8 ab 12´38. Text S. 133 f. (Musik, Sirenen; Geräuschinszenierung aus großer Ferne)

(Sirenen. Gesang Frauenstimmen: Oktaven)

C´était le hurlement.

(Oktaven höher, Forts. der Gesangsmelodie - absteigend)

C´était gémir pour commencer,

puis la rumeur pivotait sur elle-m`me autour d´un noeud sordide,

puis débordait en de longs cris artificiels parfois semblables aux saccades du rire:

(Musik: Aufsteigende Phrasen - Lach-Repetitionen im Wechsel; Tutti mit Akkordwechseln)

J´ai compris la stupeur de la foule. On hurlait à sa place.

Le cri humain, soulagement des grandes peurs, c´était à l´intérieur de nous,

les dents serrées, les lèvres blèmes, quíl nous fallait le savourer.

Rien n´en transparaissait: foule folle et muette, mortelle. Bel exemple de discipline.

Dans ses yeux seuls on pouvait voir danser, jumelles, la peur de vivre et de mourir.

Dans ces yeux vers le ciel. (kurzes Sopransolo) Le ciel pourquoi?

(Chor mit Instrumenten)

C´était les aigles.

(Chor mit Instrumenten)

C´était sur nous l´ubiquité des aigles.

D´abord points noirs sans apparence, ils survenaient spontanément

et pivotaient, comme un amas spirale puis, déployant à angle droit leur branches contrefaites,

ils tourniquaient jusqu´à emplir la calotte des cieux, jusqu´au noircissement du soleil.

Ce n´était pas an Ganymède, c´en étaient cent, mille, des milliers, des millions.

Ils arrivaient en vagues énormes.

PLUS PAR PLUS DONNE PLUS PLUS PAR MOINS DONNE MOINS

MOINS PAR MOINS DONNE PLUS MOINS PAR PLUS DONNE MOINS BOUM! ZERO! (Ende Z)

"La Coquille à Planètes" ist eine der ersten Radioproduktionen, in der, zumindest an bestimmten Stellen, die Dimensionen des gesprochenen Textes, der Geräusche und der Musik vollständig gleichberechtigt sind. Bestimmte Textstellen Schaeffers verweisen so nachdrücklich auf Geräusche und Musik, daß die radiophone Inszenierung dem Rechnung tragen muß. Es kann sogar so weit kommen, daß Abgrenzungen zwischen diesen Bereichen durchbrochen werden - z. B. Abgrenzungen zwischen den Dimensionen des Geräusches und der Musik, wenn die Chorstimmen statt Gesangstönen hohe Schreckenslaute singen oder wenn Chorgruppen in stilisierten Rhythmen lachen. So finden sich in diesem Stück Spuren nicht nur der Zeitgeschichte, sondern auch einer modernen Ästhetik der Akustischen Kunst, die Sprache, Geräusche und Musik gleichberechtigt miteinander verbindet und in übergeordnete Zusammenhänge einbezieht - bis hin zu vielschichtigen Kontrasten und Überlagerungen, bei denen verschiedene Sprech- und Singstimmen sich verbinden in verschiedenen Graden der akustischen Präsenz und sogar in verschiedenen Sprachen.

Z: La Coquille à Planètes, CD 3, 6´12 - 11´04 (Comment est-ce qu´on s´y prend?... chambre des merveilles)

Text S. 146-149

Text und Realisation des experimentellen Hörstückes "La Coquille à Planètes" entstanden in den Jahren 1943 und 1944. Das vollständige, ursprünglich zur Aufführung in 8 Sendungen bestimmte Werk dauert 8 Stunden, eine kürzere Version 5 Stunden. Die Inszenierung des von Pierre Schaeffer geschriebenen Textes übernahm Maurice Cazeneuve, die Musik schrieb Claude Arrieu. Zu einer ersten Sendung kam es erst im Jahre 1946. Das Stück ist eines der Hauptwerke im Repertoire des von Pierre Schaeffer gegründeten modernen Hörspielstudios, des Studio d´Essai.

Z: La Coquille à Planètes, CD 1, 0´- 1´50 (... ame égarée).

Die experimentelle Radioarbeit, die Pierre Schaeffer in den Kriegsjahren begann und die sich in den Nachkriegsjahren mit bemerkenswerten Erfolgen fortsetzte, ist dokumentiert nicht nur in wichtigen Produktionen, sondern auch in einer von Schaeffer realisierten Anthologie mit ausführlich kommentierten, analysierten und theoretisch reflektierten Hörbeispielen. Diese Anthologie beschreibt die erste Dekade der Studioarbeit unter verschiedenen Aspekten der Radiodramaturgie: Radiostimmen - Die Klangbühne - Text und Mikrophon - Radiophone Inszenierung - Das Radio als Medium der Zeitgeschichte.

Schon im ersten Teil der Dokumentation wird deutlich, daß selbst das scheinbar Altvertraute unter neuen Aspekten erschlossen werden soll: Als erster Aspekt der über das Radio vermittelten Sprache erscheint nicht der Text (der ja auch unabhängig von der Radioübertragung, in schriftlicher Form existieren kann), sondern die Vielfalt der im Radio zu hörenden Stimmen.

Z: 10 ans - Zusammenschnitt: Das Radio und seine Sprecher. Soirée 5, take 4

Schaeffer hat nachdrücklich hervorgehoben, daß die über das Radio gehörte Sprache ihre eigenen Besonderheiten und Kriterien hat. Der Radiohörer erfaßt sie über den konkreten Höreindruck, als klingende Sprache - also nicht vorrangig als Substrat eines geschriebenen Textes. Ebenso wichtig wie der begrifflich fixierte Inhalt des Gesagten ist der Klang der Stimmen - die Charakteristik verschiedener Sprechstimmen und die Differenzierung der Sprechweisen in Äußerungen einer einzigen Stimme (oder in der Partie einer einzigen Sprechrolle). Von großer Bedeutung ist überdies, daß Radiostimmen sich allein an das Ohr wenden - im Unterschied zu den Stimmen im Theater, bei dem der Klang der Stimmen im engen Zusammenhang mit der szenischen Aktion wahrgenommen wird. Dies wird deutlich, wenn man aufgenommene Bühnenstimmen hört, die über Lautsprecher wiedergegeben werden.

Z: Mit Bühnenstimmen gesprochener Text (Athalie). Soirée Band 2, take 30. 25´´

Pierre Schaeffer demonstriert in seiner Anthologie, daß die Radiosprache anderen Regeln zu folgen hat als die Bühnensprache: Mikrophon und Lautsprecher stellen andere Anforderungen als die Bühne, von der der Schauspieler mit großer Geste in einen großen Raum hineinspricht. Der extensiven Bühnensprache konfrontiert er die intensive Radiosprache.

Z (Zusammenschnitt): Schaeffer über Bühnen- und Radiorezitation Athalie. Soirée Bd.2, take 32. 10´´ -

anschließend Athalie Radiorezitation: Soirée Band 2, take 30, 25´´ (oder evtl. 33: 8´´)

Die besonderen Möglichkeiten der Radiostimmen zeigen sich nicht nur in Besonderheiten der Rezitation literarisch fixierter, geschriebener Texte; wichtiger für den Höreindruck sind Details der Klanggebung und der Aussprache, die sich womöglich schriftlich im voraus gar nicht präzise fixieren lassen. Gerade dann, wenn eine Stimmäußerung sich von kodifizierter Sprache entfernt, kann deutlich werden, wie die Radiostimme zum Medium nonverbaler Kommunikation werden kann. Hörbar wird, was sich konventionellen sprachlichen Regeln und einer standardisierten Schrift entzieht.

(Beispiele hierfür lassen sich sogar in normalen Sprachaufnahmen finden - und zwar vor allem dann, wenn die Sprecher sich spontan äußern; wenn sie womöglich nicht mehr daran denken, daß sie vor einem Mikrophon sprechen.)

(Z: Spontanes Sprechen mit nonverbalen Komponenten: 10 ans Pl. 2B letzter take Léautaud)

Je mehr ein Sprecher sich von der konventionellen sprachlichen Äußerung entfernt, desto wichtiger wird das Klangbild seiner Stimme und die Differenzierung ihres Ausdrucks - als wortlose Sprache, als Musik der Stimme.

Z: Les paroles dégelées, live gesprochen (ohne techn. Deformation) jenseits verständlicher Sprache:

10 ans Platte 1 letzter take (Nr. 3) vorletztes Beispiel (vor Télegramme de Dakar, Juliette Greco)

Typisch für die Radiosprache ist, daß der Klang der Stimmen auch durch die radiophone Technik beeinflußt werden kann. Schaeffer hat dies in seiner Anthologie ausführlich erklärt - ausgehend von elementaren Demonstrationen, die Modifikationen des Stimmklanges durch Filterungen und durch Wechsel der verwendeten Mikrophone vorführen. Das Klangbild der Stimme ergibt sich nicht nur aus der Aktion des Sprechers, sondern auch als Resultat technischer Disposition und Verarbeitung.

Z: (evtl. a) Filterungstechniken. 10 ans Pl. 2A take 1)

b)Mikrofontechnik. Zusammenschnitt aus Soirée Bd 5, take 1 (nur frz. Schluß) (evtl.), (evtl. 2 dt.), 3 frz. PS

Die technische Veränderung aufgenommener Stimmlaute kann so weit gehen, daß die Illusion eines tatsächlichen Sprechvorganges definitiv zerstört wird. In diesem Falle hört man Stimmen und möglicherweise auch sprachliche Informationen anders als in der realen Erfahrung: Die Aufnahmen enthüllen sich als Resultate technischer Manipulation - z. B. als Verfremdung des Gesprochenen durch Zeitraffer- oder Zeitlupen-Effekte.

Z: Sprache in Zeitraffer- oder Zeitlupeneffekten (Goethe, Heidegger) Album 2, 3.5 (Platte 2A letzter take)

Wenn Aufnahmen mit Sprechstimmen zu schnell oder zu langsam abgespielt, also in klanglicher Verfremdung gestaucht oder gespreizt werden, dann kann der Hörer erkennen, daß hier keine wirkliche Sprechsituation wiedergegeben wird. So ergibt sich nicht nur eine technische, sondern auch eine dramaturgische Transformation. Sie kann so weit gehen, daß derselbe Text in zwei verschiedenen technischen Varianten überlagert wird. In einem Beispiel aus Schaeffers Anthologie hört man denselben Text gleichzeitig in originaler Ablaufgeschwindigkeit und in Zeitlupe, d. h. gleichzeitig in realistischer und in surrealistisch verfremdeter Sprechweise.

Z: 10 ans, Album 2 L´Ecran sonore, Nr. 3 (Platte 2 A), take 3 John Brown: Sprache normal, Zeitlupe gleichz.

Wenn aufgenommene Sprache verfremdet wird durch Zeitraffer- oder Zeitlupen-Effekte, dann geht die originale Klangcharakteristik der Stimme verloren, während die Verständlichkeit der sprachlichen Mitteilung unter Umständen erhalten bleibt (zumindest in beschränktem Maße, wenn die Verfremdungen nicht allzu stark sind). In einer anderen Grundtechnik der radiophonen Verfremdung ergibt sich genau der umgekehrte Effekt: In der Rückwärts-Wiedergabe. Wenn Stimmlaute rückwärts wiedergegeben werden, können wichtige Charakteristika des Stimmklangs erhalten bleiben; die Sprachverständlichkeit aber geht vollständig verloren.

Z: Sprache rückwärts 2 Männer PS 3, 11. 1´30

In Schaeffers Klangarchiv gibt es eine Aufnahme, in der zwei technisch verfremdete Männerstimmen im Dialog zu hören sind. Es ergibt sich ein spannender, fast dramatischer Höreindruck, obwohl kein einziges Wort zu verstehen ist. Erst dann, wenn man die Aufnahme in anderer Verlaufsrichtung, im originalen Klangbild abspielt, wird die Sprache verständlich: Die beiden Männer sprechen über moderne technische Erfindungen und die Wunder der Technik.

Z: Sprache vorwärts 2 Männer: PS 3, 12.

Radiophon übermittelte Sprache kann sich nicht nur über den Klang der Stimmen mitteilen, sondern auch über seine Verbindung mit Geräuschen und Musikeinspielungen.

(In einfachen Fällen ist es möglich, einem konventionell gesprochenen Text eine untermalende Musik zu unterlegen. Schaeffer hat einmal in einer Radiosendung auf unterhaltsame Weise vorgeführt, wie solche Synchronisationen von Text und Musik im Studio erarbeitet werden können).

(Z: Mise en ondes. MBT 9 bzw. Soirée Bd. 1, take 1 20´´ - evtl. längerer Ausschnitt aus MBT)

Geräusche und Musik können gleichsam als Requisiten und Dekor der unsichtbaren Hörbühne fungieren.

Maßgeblich für den Gesamteindruck ist nicht nur ihre Auswahl, sondern auch ihre zeitliche Disposition mit ihren Abfolgen und Überlagerungen.

Z: Akustische Inszenierung Version 1: Prévert, Bonne nuit capitaine. 10 ans Pl. 2A Anfang

Pierre Schaeffer hat in seiner Dokumentation ein Beispiel dafür gegeben, daß für dieselbe Hörspielszene unterschiedliche Möglichkeiten der akustischen Inszenierung sich ergeben können, wenn die Auswahl der zum Text hinzugefügten Geräusche und der Synchronisationsplan verändert werden.

Z: Akustische Inszenierung Version 2: Bonne nuit capitaine. 10 ans Pl. 2A Fortsetzung

Wenn aufgenommene Sprache durch die Zuspielung eines Geräusches oder einer Musik-Sequenz radiophon inszeniert werden soll, sind verschiedene Möglichkeiten der technischen Aufbereitung des Geräusches und der Musik zu prüfen. Schaeffer erläutert dies an der Inszenierung eines science-fiction-Textes von Jules Verne: Le Capitaine Nemo. Er zeigt erste technische Versuche und ihre Verbesserung im endgültigen Resultat - auf der Suche nach dem fiktiven Geräusch eines Unterseebootes und der fiktiven Musik einer auf tiefem Meeresgrund gespielten Orgel.

Z: Geräusch- und Musikzuspielungen mit Korrekturen - fertiges Resultat

PS Band 1, take 3 1´40 bzw. Album 2 L´Ecran sonore, Teil 3 (Platte 2 A), take 1: Capitaine Nemo

Zus. schnitt a) Präsentation Varianten Geräusch, Musik, b) Szene mit m. c. von Pierre Henry

In Schaeffers Lebensarbeit spiegeln sich die verschiedenen Gesichter der Hörkunst und der Hörerfahrung im technischen Zeitalter: Als Radiopionier, der seit den dreißiger und frühen vierziger Jahren intensiv mit Problemen der Aufnahmepraxis von Musik und Sprache befaßt ist, kennt er die Radiotradition der unsichtbaren Bühne, der über Lautsprecher übermittelten Pseudo-Realität von Hörereignissen. Andererseits ist ihm bewußt, daß die technisch konservierten Klänge sich als Klangbilder deutlich von realen Hörereignissen unterscheiden: Der aufgenommene Klang kann ein Eigenleben gewinnen - vor allem dann, seine vom realen Ereignis abweichenden Eigenschaften in technischer Verfremdung noch verstärkt werden. So erklärt es sich, daß wir in Schaeffers Produktionen nicht nur Beispiele für imaginäre Bühnensprache finden, sondern auch Aufnahmen von Stimmlauten, die sich von realen Stimmäußerungen radikal unterscheiden: Als technisch manipulierte Lautsprecherstimmen - zum Klangbilder zu einem fantastischen Text von Rabelais, in dem die Möglichkeit der technischen Konservierung von Sprache vorausgeahnt wird: "Les paroles dégélees" - die zu Eis erstarrten und dann wieder aufgetauten, in Klang aufgelösten Wörter. Sprache beginnt, sich in Sprachmusik zu verwandeln.

Z: Les paroles dégélées, Soirée 1, take 12 (letzter) 3´50. CD 1, take 8

Pseudo-reale Stimmlaute von unsichtbaren Sprechern - technisch verfremdete Stimmlaute aus dem Studio:

Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich Schaeffers Behandlung der Sprache in der Radiokunst. Eines der prägnantesten Kontrastmodelle zur fiktionalen Hörbühnenästhetik seines ersten, 1944 vollendeten Radiostückes "La Coquille à Planètes" ist Schaeffers 8 Jahre später entstandenes, von Alain Trutat realisiertes Hörstück "Les paroles dégélées". Die Isolierung und technische Deformation einzelner Wörter und Laute läßt erkennen, daß Schaeffer sein Klangmaterial nicht nur als Hörspielregisseur kennt, sondern auch als Klangforscher: Zerlegung, Fragmentierung, Collagierung und technische Verfremdung präsentierten sich hier als Verfahren der experimentellen Klangforschung, die unter den Aspekten eines passenden sujets dann auch wieder dramaturgische Funktionen im Hörspiel übernehmen können - und dies, obwohl die Stimmlaute sich vollständig verselbständigt haben, obwohl sie unabhängig geworden sind vom assoziativen Kontext einer realen Sprech-Situation.

Z: Les paroles dégélées Ausschnitt (mit baobab) (von Anfang bis 50´´)

(Die Welt der aufgenommenen Klänge hat ihre eigenen Lebensgesetzte. Durch Schnitt und Montage lassen sie sich herauslösen, in kürzesten Fragmenten verselbständigen und mit anderen Klängen in ungewohnte Zusammenhänge bringen - zum Beispiel das fiktive Wort "baobab", das einmontiert ist in Schaeffers Rabelais-Adaption, das aber eigentlich einem ganz anderen Zusammenhang entstammt. dem kleinen Gedicht "Telegramm aus Dakar.")

(evtl. Z: Telegramm aus Dakar, aus 10 ans: Platte 1, Schluß - Ende take 3: La radio es ses personnages)

(Schaeffers Radiokunst verwandelt Sprachlaute in rätselhafte, neue Klangobjekte. Aus Fragmenten klingender Sprache entsteht eine neue Klangsprache: Die Klänge selbst beginnen zu sprechen.)

( Z: Paroles vollst. oder längerer Ausschnitt, je nach Sendezeit)

Aufgenommene, fragmentierte und eventuell klanglich verfremdete, aus realen Erfahrungszusammenhängen herausgelöste Klänge spielen in Schaeffers Radioarbeit eine wichtige Rolle. Er entdeckte sie als Radiomacher, er untersuchte sie als Klangforscher, und schließlich ließ er die Ergebnisse seiner Klangforschung auch wieder der praktischen Radioarbeit zu Gute kommen. Vielfältige Erfahrungen sammelte er nicht nur mit aufgenommenen Stimmlauten, sondern auch mit Klangmaterialien anderer Herkunft. 1962 realisierte er, zusammen mit dem traditionell geschulten Hörspielmusiker Claude Arrieu und mit dem konkreten Musiker Bernard Parmegiani, ein Hörspiel, in Unterschiede zwischen einzelnen Klängen dramaturgisch bedeutsam werden: L´aura d´Olga. In einer Szene dieses Hörspiels gibt es einen Klangtest: Der Experimentator führt einer jungen Frau verschiedene Klänge vor. Jeder Klang hat eine eigene Nummer. Die Frau soll die Nummer eines Klanges auswählen, der ihr besonders gut gefällt.

Z: L´aura d´Olga, Klangtest, Soirée 5, take 10. 50´´

Der praktische Umgang mit klingender Sprache und mit aufgenommenen Klängen führt zur Entdeckung einer unübersehbar vielfältigen Welt, die jedem Versuch der systematisierenden Beschreibung zu spotten scheint. Die Klänge, die Schaeffer seiner Versuchsperson vorspielen läßt, unterscheiden sich in so vielen Merkmalen, daß die Auswahl getrost dem Zufall überlassen bleiben kann: Die junge Dame entscheidet allein nach ihrem persönlichen Geschmack. Die leise Ironie, mit der Schaeffer dies mitteilt, wird noch deutlicher, wenn man diese Klangtest-Szene mit einer anderen Episode vergleicht, die einen Musiktext darstellt: Der jungen Dame werden verschiedene Musiken vorgestellt. Jede steht für einen potentiellen Heiratskandidaten. Die Auswahl wird zur Geschmackssache.

Z: L´aura d´Olga, Musiktest, Soirée 1, take 2. 2´

Die Vielfalt unterschiedlicher Musikarten konstatiert Schaeffer - übrigens ohne seine Präferenzen und seine Aversionen zu verhehlen - mit einiger ironischer Gelassenheit. Die Festlegung auf einen einzigen Bereich widerstrebt ihm offensichtlich - und dies im Umgang nicht nur mit einzelnen Klängen, sondern auch mit verschiedenen Musiken. Es konnte so weit kommen, daß in einer Produktion aus Schaeffers Studio verschiedene Musiken eingesetzt wurden, um verschiedene Personen im Vorspann eines Stückes vorzustellen: Die Hauptpersonen werden eingeführt mit musikalischen Porträts - zum Beispiel mit Musiksequenzen von Jean Rivier in "La Surprise de l´amour" von Marivaux.

Z: 10 ans Album 2 L´Ecran sonore, Teil 4: Musiques pour le Micro: Platte 2, take 3

Marivaux, La Surprise de l´amour (Musik: Jean Rivier, Inszenierung Maurice Cazeneuve)

Die Vielseitigkeit um Umgang mit verschiedenen Musiken war in Schaeffers Studio so selbstverständlich, daß sogar einem einzigen Text mehrere verschiedene Musiken unterlegt werden konnten. Beispielsweise wurde der Text "Les Emanglons" von Henri Michaux musikalisch koloriert mit Ausschnitten aus zwei Kompositionen von Debussy, aus der Pastorale von Beethoven und von Benny Goodman.

Z: 10 ans Album 2 L´Ecran sonore, Teil 3 (Platte 2 A): L´homme et les machines. Pl. 2 A, take 2:

Les émanglons (Henri Michaux);

Musik von Debussy (Fetes, La Fille aux cheveux de lin), Beethoven (Pastorale), Benny Goodman

Pierre Schaeffer will sich nicht festlegen - weder auf das Altgewohnte, noch auf das um jeden Preis Neue; weder auf das Populäre, noch auf das Avantgardistisch-Exklusive. Er sucht nach neuen Wegen der Radiokunst jenseits der bereits bekannten Etikettierungen. Ihn interessieren nicht die leicht identifizierbaren Extrempositionen, sondern unbekannte Zwischenbereiche der sinnlichen und ästhetischen Erfahrung.

Z: Pochette surprise, CD B, take 25 (booklet 10 ans S. 44) von Anfang bis 45´´

... alors, qu´est-ce que vous dites de ca?

Pierre Schaeffer ist der Schöpfer einer Hörkunst zwischen den Fronten. Er war der erste, der technisch produzierte Klänge gleichwertig neben technisch produzierte Bilder stellte - der aus technisch produzierten Klängen die Filmmusik zu den technisch produzierten Bildern eines Films komponierte. 1952 komponierte er "Masquerage" - Musik zu einem Film von Max de Haas, der Baseler Karnevalsmasken zeigt. Das Besondere seiner bildbegleitenden Klangkunst wird deutlich auch in der zeitlich gerafften Konzertfassung dieser Musik, die 1970 von Bernard Parmegiani realisiert wurde: Unsichtbare Klänge werden zu rätselhaften Verfremdungen, die sich verbinden mit Bildern maskenhafter Verfremdungen des menschlichen Gesichtes.

Z: Masquerage, Konzertfassung, 3´35 (Parmegiani 1970 nach Schaeffer 1952). Band Paris oder CD Schaeffer

Schaeffers Hörkunst unterscheidet sich von traditionell notierter Musik wie ein Film von einem literarisch fixierten Theaterstück. Entscheidend ist nicht das im voraus Aufgeschriebene, sondern das im Studio tatsächlich Realisierte. Schaeffer realisiert seine Klangstrukturen in ähnlicher Weise, wie ein Maler sein Bild schafft: Im direkten Kontakt mit seinem Material, unter Verzicht auf eine im voraus fixierende abstrakte Notation. Selbst ausgearbeitete Drehbücher, wie wir sie von Filmemachern kennen, gibt es bei Schaeffer nur in wenigen Ausnahmefällen - in Produktionen, die in ihrer Dramaturgie und in ihrer technischen Faktur noch mit dem traditionellen Hörspiel verwandt sind. Schaeffer hat sich seit den späten vierziger Jahren in den meisten seiner Produktionen von den Vorgaben einer im voraus fixierten schriftlichen Vorlage gelöst. Wohl gibt es zu vielen seiner Stücke schriftliche Aufzeichnungen. In der praktischen Studioarbeit hat er sich aber nur selten an zuvor Entworfenes gehalten und statt dessen lieber spontan auf die sich ergebenden Klangresultate reagiert - also ähnlich in ähnlicher Weise improvisatorisch-experimentell gearbeitet wie etwa der Filmemacher Charles Chaplin. Deutlich erkennbar bleibt, daß Schaeffer dabei auch in verschiedenen Funktionen aktiv wird: In einer kurzen Passage, die den Schluß der Konzertfassung bildet, sind verfremdete Stimmlaute zu hören, die in ihrer Fremdartigkeit um so nachdrücklicher wirken - als wirkungsvolle Ergänzung anderer, deutlich akzentuierter Klänge.

Z: Masquerage, Schluß (6´´) mit Stimme Schaeffers rückwärts

Wenn man diesen Schluß des Stückes rückwärts abspielt, kann man erkennen, wie er zustande gekommen ist: Man hört einen gesprochenen Satz.

Z: Masquerage, Schluß (6´´´) rückwärts abgespielt (Schaeffers Stimme ist dann vorwärts zu hören)

Cinquante... ... eglise

An einer Stelle seiner Filmmusik "Masquerage" verwendet Pierre Schaeffer die Aufnahme eines selbst gesprochenen Satzes - allerdings nicht im originalen Klangbild, sondern in der Rückwärts-Wiedergabe, in der die Sprachlaute viel energischer und schärfer akzentuiert klingen als im Original. Die Rückwärtswiedergabe pointiert und verändert den Klangeindruck der natürlichen Stimme - in ähnlicher Weise wie die Masken des Films den natürlichen Gesichtsausdruck verwandeln. So werden die Klangbilder zum gleichberechtigten Partner der Filmbilder.

Pierre Schaeffer geht mit geschnittenen, verarbeiteten und montierten Klängen ähnlich um wie ein Filmemacher mit geschnittenen, verarbeiteten und montierten Bildern. So erhält er unsichtbare Klangbilder und szenische Elemente eines Hörfilms - und dies auch unabhängig davon, ob er die Wiedergabe seiner Klänge mit sichtbaren Vorgängen, z. B. mit Theater oder Film verbindet. Der Vorgang der Klangerzeugung selbst bleibt unsichtbar. Nur selten wird ein unbefangener Hörer herausfinden können, ob Schaeffer bestimmte Klänge eigens für sein Stück produziert oder ob er vorgefundene Aufnahmen verwendet und verarbeitet hat.

Schaeffers Produktionen distanzieren sich deutlich von tradierten Darbietungsformen nicht nur der Literatur und der szenisch-darstellenden Kunst, sondern auch der Musik. Dies läßt sich deutlicher erkennen, wenn man genauer untersucht, wie er mit vorgefundener, in Aufnahmen zugänglicher Musik umgeht. In einem seiner Stücke hat er exemplarisch gezeigt, wie selbst vorgegebene, klanglich unveränderte Musikaufnahmen durch Schnitt und Mischung in neue Zusammenhänge gebracht werden können: In seiner 1959 entstandenen Produktion "Simultané camerounais" fragmentiert, collagiert und mischt er verschiedene Musiken aus Kamerun. Das Material dieser Komposition sind nicht Töne, Klänge und Geräusche von Stimmen und Instrumenten, sondern verschiedene Aufnahmen, die gleichsam in einer "Musik über Musik" zusammengesetzt werden. Aufgenommene Musikstücke werden in filmischen Techniken weiter verarbeitet und eingeschmolzen in einen Hörfilm zweiten Grades.

Z: Simultané Camerounais. 6´47 Tonband Paris (9´?), evtl. nur längerer Ausschnitt von Anfang

je nach Sendezeit

Pierre Schaeffer gehörte zu den ersten europäischen Musikern, die sich praktisch und theoretisch mit Musiken anderer Kulturkreise auseinandersetzten. Seine Arbeit im Radio, die er von 1944 bis 1974 ausübte, führte ihn bei verschiedenen Gelegenheiten auch in andere Länder und Kontinente. Das brachte ihn auch auf Ideen für verschiedene Produktionen. Das erste Beispiel hierfür ist ein 1949 entstandenes Stück, dessen Klangmaterial aus kurzen, improvisierten Floskeln entwickelt ist, die Schaeffer auf einer aus Mexiko mitgebrachten mexikanischen Flöte spielt, indem er bald mit kurze Motive aus ihren vier Tönen bildet, bald mit einem Metallring auf das Korpus klopft und so Geräusche erzeugt.

Z: Improvisationsfloskeln Schaeffer zu Variations sur une flute mexicaine. Aus MBT

Die Komposition, die Pierre Schaeffer aus diesen wenigen kurzen Motiven entwickelt hat, entwickelt sich aus der Idee vielfältiger Variation, wobei sich das Ausgangsmaterial fortwährend verändert oder gleichsam in ständig wechselnden Beleuchtungen erscheint. Die wichtigsten Veränderungen sind aus der Filmtechnik bekannt: Zeitraffer und Zeitlupe. Dies bedeutet: Die Ausgangsmotive erscheinen entweder höher und zugleich schneller - oder tiefer und zugleich langsamer.

Z: Zusammenschnitt Zeitlupe und Zeitraffer des Anfangsmotivs aus Flute mexicaine

Das Stück beginnt in originalgetreuer Tonlage und im originalgetreuen Tempo. Erst im weiteren Verlauf ändern sich die Spielfiguren und Geräusche durch Zeitraffer- und Zeitlupen-Effekte, sodaß einerseits raschere und langsamere Ablaufgeschwindigkeiten ins Spiel kommen und andererseits die melodischen Gestalten sich im Tonraum ausbreiten - ähnlich wie in einer Fuge. So entsteht ein merkwürdiges Zwitterbild einer technisch verfremdeten Musik mit Pseudo-Anklängen an traditionelle homophone und polyphone Gestaltungsprinzipien, an Variation und Fuge. Das eigentliche Thema, das hier variiert wird, besteht aber nicht aus melodischen oder harmonischen Gestalten, sondern es ist der Klangcharakter des hier verwendeten Instrumentes - der mexikanischen Flöte.

Z: Variations sur une flute mexicaine vollständig (oder evtl. längerer Ausschnitt)

Die Idee, aufgenommenes, mit einem einzigen Instrument gespieltes Material zur Grundlage eines ganzen Stückes zu machen, hat in der Frühzeit der technisch produzierten Musik eine wichtige Rolle gespielt. Das wohl bekannteste frühe Beispiel ist eine Produktion aus dem Jahre 1950, die Pierre Schaeffer damals gemeinsam mit Pierre Henry realisierte - einem jungen Musiker, der Klavier und Schlagzeug und überdies bei Olivier Messiaen Komposition studiert hatte. Henry konzentrierte sich in diesem Stück auf das Spiel auf dem präparierten Klavier, während Schaeffer die aufgenommenen Klänge technisch veränderte. Auch dieses Stück geht von Spielfiguren aus, die in originaler Tonlage und in originaler Ablaufgeschwindigkeit wiedergegeben werden - gleichsam als Thema, das sich dann im weiteren Verlauf durch Zeitraffer- und Zeitlupeneffekte verändert und gleichzeitig im Tonraum ausbreitet, ähnlich wie das Thema einer Fuge. Auffällig ist allerdings, daß im Thema selbst sich keine traditionell notierbaren Tonhöhen mehr erkennen lassen, weil durch die Klavierpräparationen starke Geräuscheffekte entstehen, die eine eindeutige Tonhöhenwahrnehmung unmöglich machen. - Das Stück heißt "Bidule en ut" - d. h. "Dingsda in C." Schaeffer erklärt diesen Titel damit, daß auf dem Klavier anfangs eine C-Dur-Tonleiter gespielt wird - eine Tonleiter allerdings, die durch die radikale Präparation des Klaviers vollständig unkenntlich gemacht, ins Geräuschhafte verzerrt wird. So entsteht ein verfremdetes Thema, das dann anschließend weiter verfremdet wird in wechselnden Tonlagen und Ablaufgeschwindigkeiten, in Stauchungen und Spreizungen.

Z: Bidule en ut vollständig. CD

Stauchungen und Spreizungen, wie sie Pierre Schaeffer und Pierre Henry in "Bidule en ut" verwenden, eignen sich besonders gut zur Abwandlung instrumentaler Spielfiguren. Schaeffer hat allerdings auch deutlich gemacht, daß auch andersartige Klangmaterialien mit diesen Techniken verarbeitet werden können - z. B. Fragmente eines Vogelgesanges.

Z: Indikativ RAI aus MBT

Schaeffer hat 1950 ein Stück produziert, in dem aufgenommener Vogelgesang in zweideutiger Funktion erscheint: Einerseits als Naturlaut, andererseits als Sendezeichen einer Rundfunkanstalt, des italienischen Rundfunks RAI. Es handelt sich um ein kurzes Fragment aus dem aufgenommenen Gesang einer Nachtigall. Dieses Motiv hat Pierre Schaeffer weiter verarbeitet - und zwar zunächst dadurch, daß er einzelne Abschnitte auch in der Rückwärtswiedergabe einmontierte.

Z: Rückwärts abgespieltes Fragment aus L´Oiseau RAI

Aus vorwärts und rückwärts abgespielten Fragmenten ergibt sich der größere Zusammenhang eines Themas, das dann anschließend variiert und verarbeitet wird in wechselnden Tonlagen und Ablaufgeschwindigkeiten. So wird der Naturlaut des Vogelgesanges zum Ausgangsmaterial technisch produzierter Musik.

Z: L´Oiseau RAI vollständig (evtl. vorher Ansage und/oder Erläuterungen aus MBT)

(Die Idee, instrumentale Figuren durch Zeitraffer und Zeitlupe zu verändern, erschien Pierre Henry, dem damaligen Mitarbeiter und kompositorischen Partner Schaeffers, so einleuchtend, daß er sie sogleich auch in einer eigenen Komposition anwandte: Bidule en mi.)

(Z: Henry, Bidule en mi. CD Henry Années 50)

(Pierre Henrys kurzes Stück "Bidule en mi" wurde zur Keimzelle eines größeren Zyklus von technisch produzierten Stücken, die meistens von Klängen des präparierten Klaviers ausgehen. Henry benannte diesen Zyklus nach einer Sendereihe, die in den frühen fünfziger Jahren dem französischen Publikum die neuesten Kreationen aus Schaeffers Studio präsentierte: Le Microphone bien tempéré (Das wohltemperierte Mikrophon). Die erste Gemeinschaftskomposition von Pierre Schaeffer und Pierre Henry hat also letztlich den Weg dafür bereitet, daß Henry zur intensiven Weiterarbeit angeregt wurde - und dies nicht nur in der gemeinsamen Arbeit mit Schaeffer, sondern auch in eigenen Kompositionen. "Das wohltemperierte Mikrophon" ist das erste größere von Schaeffer inspirierte Werk eines anderen Komponisten.)

(Z: Ausschnitt aus Le Microphone bien tempéré, z. B. Tam Tam IV vollst. CD Henry Années 50)

Pierre Schaeffer hat mit seinen Produktionen vielen Komponisten wichtige Anregungen gegeben - nicht nur Pierre Henry und vielen anderen jüngeren Komponisten, sondern beispielsweise auch Olivier Messiaen, der Schaeffer stets als einen der wichtigsten Neuerer in der Musik des 20. Jahrhunderts respektiert hat. Schaeffer ist also offensichtlich nicht nur als Erneuerer der Radiokunst und als Klangforscher bekannt geworden, sondern auch als Erneuerer der Musik - wenn nicht gar als Erfinder einer neuen Hörkunst, die sich anschickt, die Musik mit Stimmen und Instrumenten wenn schon nicht zu ersetzen, so doch zumindest gleichwertig zu ergänzen.

Schaeffer war der erste, der in einer musikalischen Komposition vollständig auf Instrumente und Interpreten verzichtet und ausschließlich mit dem Mikrophon aufgenommene, technisch konservierte und verarbeitete Klänge verwendet hat. Er wurde zum Schöpfer der konkreten Musik - einer Klangkunst, die nicht von der zunächst abstrakt fixierten Partitur ausgeht, sondern vom konkreten Klang. Die erste Produktion seiner konkreten Musik entwickelt sich nicht aus aufgenommenen Klängen von Stimmen oder Instrumenten, sondern aus technisch konservierten Klängen der modernen Maschinen- und Arbeitswelt. Es ist eine "Etude aux chemins de fer", eine "Etüde über Eisenbahnen".

Z: Etude aux chemins de fer, Fassung 1948 (=1970 anfangs), Ausschnitt Klett (ausblend. nach Kolbenstöß

Pierre Schaeffers Eisenbahnetüde, die 1948 entstand, ist ein Stück im Grenzbereich zwischen

(Geräusch-)Hörspiel und Musik. Es beginnt wie eine realistische Hörszene: Man hört einen Pfiff, dann das Anfahren der Lokomotive, das Rollen der Waggons. Erst im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, daß es nicht allein um eine möglichst bildkräftige Darstellung realer Vorgänge geht. Im Verlauf des Stückes treten mehr und mehr innerklangliche und innermusikalische Aspekte in den Vordergrund - zum Beispiel dann, wenn sich das Rollen der Waggons in eine rhythmische Struktur verwandelt - in eine Montagestruktur mit mehrfach wiederholten Geräuschmustern, die miteinander abwechseln in zunehmend kürzeren Zeitabständen.

Z: Etude aux chemins de fer, Waggonrhythmen 4-4, 3-3, 1(-1)

Über die Entstehung von Schaeffers Eisenbahnetüde sind wir relativ genau unterrichtet durch seine veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen. Offensichtlich ging es ihm darum, sein Stück unter verschiedenen Aspekten auszuarbeiten - unter Aspekten einerseits der (pseudo-)realistischen Hörspielarbeit, andererseits der Entdeckung des musikalischen Eigenwertes von Klängen und Geräuschen. Der realistische Aspekt steht, möglicherweise aus Rücksicht auf den unvorgebildeten Hörer, vor allem am Anfang des Stückes im Vordergrund.

Z: Etude aux chemins de fer Anfang: Pfeifen, Abfahrt Lok, Waggons (Schnitt vor Beginn der Wagg.rhythmen)

Wer den Verlauf des Stückes über längere Zeit verfolgt, kann feststellen, daß sich im größeren Zusammenhang ein plausibel aufgebauter Formprozeß herausbildet: Die Verwandlung von Klängen, die zunächst realistisch wirken, in zusammenhängende Musik. Dies zeigt sich nicht nur im ersten Abschnitt des Stückes, sondern - in

verwandelter Form - auch in einem weiteren, unmittelbar daran anschließenden Abschnitt, der wiederum mit einem Pfeifsignal beginnt. Wieder hört man zunächst realistische Geräusche rollender Waggons, dann stilisierte Waggonrhythmen. Ein Formprozeß wiederholt sich in abgewandelter Form, mit veränderten Klangmaterialien.

Z: Etude aux chemins de fer, 2. Abschnitt (ab 2. Pfeifsignal, ausblenden auf Waggonrhythmen)

Wer den Verlauf des Stückes über längere Zeit verfolgt, kann feststellen, daß sich im größeren Zusammenhang ein plausibel aufgebauter Formprozeß herausbildet: Die Verwandlung von Klängen, die zunächst realistisch wirken, in zusammenhängende Musik. Dies zeigt sich nicht nur im ersten Abschnitt des Stückes, sondern - in

verwandelter Form - auch in einem weiteren, unmittelbar daran anschließenden Abschnitt, der wiederum mit einem Pfeifsignal beginnt. Wieder hört man zunächst realistische Geräusche rollender Waggons, dann stilisierte Waggonrhythmen. Ein Formprozeß wiederholt sich in abgewandelter Form, mit veränderten Klangmaterialien.

Z: Etude aux chemins de fer, 2. Abschnitt (ab 2. Pfeifsignal, ausblenden auf Waggonrhythmen)

Die "Etude aux chemins de fer" wurde zum ersten wichtigen Repertoirestück der neu erfundenen musique concrète. Wie wichtig dieses Stück auch für die weitere Entwicklung geblieben ist, zeigt sich in Arbeiten verschiedener jüngerer konkreter Komponisten - z. B. in Bernard Parmegianis 1971 entstandenem Hörstück "L´oeil écoute" ("Das Auge hört").

Z: Parmegiani: L´oeil écoute Anfang (Eisenbahngeräusch), Länge je nach Sendezeit

Die "Etude aux chemins de fer" wurde zum ersten wichtigen Repertoirestück der neu erfundenen musique coöncrète. Wie wichtig dieses Stück auch für die weitere Entwicklung geblieben ist, zeigt sich in Arbeiten verschiedener jüngerer konkreter Komponisten - z. B. in Bernard Parmegianis 1971 entstandenem Hörstück "L´oeil écoute" ("Das Auge hört").

Z: Parmegiani: L´oeil écoute Anfang (Eisenbahngeräusch), Länge je nach Sendezeit oder Ausschnitt Klett

Das Fazit der praktischen und theoretischen Arbeit Schaeffers ist eine Systematik der Klänge, die als Grundlage einer neuen Grammatik und Syntax der Musik dienen soll. Schaeffer zerlegt die komplexe Wirklichkeit um neue Wirklichkeiten zusammensetzen zu können. Der Radiopionier, der Klangforscher und der Entdecker der musique concrete verbinden sich in Personalunion, um vorzustoßen ins Unbekannte.

Z: Solfège

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