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3.3.3.3 SCHAEFF3.DOC

Rudolf Frisius

In memoriam Pierre Schaeffer

Zuspielung: Sinfonie pour un homme seul, Strette Anfang (evtl.1.S.Anf.)

Am 19. August 1995, nur wenige Tage nach der Vollendung seines 85. Lebensjahres, ist Pierre Schaeffer gestorben: Der wichtigste Pionier einer neuen Hörkunst im Zeitalter der technisch produzierten Klänge - als Aufnahmeleiter und Hörspielregisseur seit den dreißiger und vierziger Jahren; als langjähriger Leiter eines weltberühmten Experimentalstudios am französischen Rundfunk, der in Theorie und Praxis neue Konzeptionen des Hörspiels, der Musik, des Hörens und des Umgangs mit Technik im Zeitalter der Massenmedien entwickelt hat. 1948 erfand er die "musique concrète", die sich von instrumentaler und vokaler Musik ebenso grundlegend unterscheidet wie der Film vom Theater: Als "Musik, die man nur am Lautsprecher hören kann" (wie Karlheinz Stockhausen später formulierte) - als Musik der unsichtbaren, im Studio vorproduzierten Klänge, in denen sich die verwirrende, allen Versuchen der kompositorischen Vorausbestimmung spottende Vielfalt der modernen Hörwelt artikuliert. Schon vor John Cage entdeckte er, in mehrjähriger intensiver Zusammenarbeit mit Pierre Henry, die ästhetisch revolutionierende Kraft des Zufalls. Er war der erste, der sich intensiv um Theorie und Praxis einer universellen Klangkunst bemühte und an seinem Studio eine Forschungsgruppe installierte, die die radikalen Veränderungen der Wahrnehmung im Zeitalter der Massenmedien untersuchte. In seinem Studio arbeiteten Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, Olivier Messiaen und Edgard Varèse, Iannis Xenakis und Luc Ferrari, Francois Bayle, Bernard Parmegiani und viele andere. Ihm ist es zu danken, daß nicht nur die Musik, sondern auch das Hörspiel in ihrer Entwicklung sich von tradierten Vermittlungsformen lösten, ihre Grenzen erweiterten und den Weg freigaben zu neuen Wegen der Akustischen Kunst, die hineinwirken bis in die neuesten Tendenzen der Medienpraxis (auch über Musik und Hörspiel hinaus, zum Beispiel in experimentellen Film- und Fernsehproduktionen).

Zuspielung: Masquerage Anfang (oder evtl. Schluß)

Pierre Schaeffer, der wichtigste Exponent der Akustischen Kunst in unserem Jahrhundert, erforschte die Sprache der niegehörten Klänge: die Sprache einer neuen Medienkunst, einer aus der Radiopraxis entwickelten Kunst der im elektroakustischen Studio produzierten Klänge. Er wußte, daß er sich damit zwischen alle Stühle setzte: 1948 erfand er eine neue Klangkunst, die er als Kontrastmodell aller bis dahin komponierten Musik definierte - als Musik neuer Art, als "Musique concrète". Die bis dahin entstandenen Kompositionen könnte man charakterisieren als "abstrakte Musik", die zunächst nur in der Vorstellung eines Komponisten entsteht und die dann in einer Partitur notiert werden muß, damit sie, den Angaben der Partitur entsprechend, von Musikern aufgeführt, d. h. in ein konkretes, tatsächlich hörbares Klangereignis verwandelt werden kann. Schaeffer ging genau den umgekehrten Weg: Im Tonstudio versuchte er Klänge zu finden, aus denen sich ein Stück "kom-ponieren", d. h. zusammensetzen ließ. Seine Kompositionen gehen vom konkreten Klangeindruck aus. Charakteristische Klangfragmente findet er teils in vorhandenen Archivaufnahmen, teils bei der Auswahl aus neu aufgenommenen Materialien. Konkrete Klänge regen an zur technischen und kompositorischen Verarbeitung - zur Fragmentierung, zur Verfremdung und zur Mischung; zur Verwandlung des konkret Wahrnehmbaren, zu seiner Einschmelzung in abstraktere musikalische Zusammenhänge. In diesen Ansätzen einer universellen Klangkunst können rätselhafte neuartige Klänge entstehen, die sich sperren gegen traditionelle Abgrenzungen etwa zwischen Musik, Sprache und Geräusch. Schon in einem seiner frühesten Klangstücke verbinden sich diese Bereiche in Klängen aus aller Welt. In den Rhythmen seiner Klangmischungen verbinden sich das Tuckern eines Kanalschleppers aus Frankreich, amerikanische Harmonikamusik, Priestergesang aus Bali und Fragmente eines im Studio aufgenommenen lyrischen Textes.

Zuspielung: Etude pathétique (kurzer Ausschnitt von Anfang)

Die 1948 entstandene "Etude pathétique" ist die schillerndste und farbigste Produktion aus dem Geburtsjahr der "musique concrète". Realisiert wurde sie zunächst mit denkbar einfachen technischen Mitteln. Damals gab es in Schaeffers Studio noch nicht einmal Tonbänder, die man in bestimmten Montagerhythmen hätte schneiden können; alle Klangmischungen mußten mit mit Plattenspielern realisiert werden, mit vier Reglern und acht Schaltern. Die abenteuerlich primitiven Bedingungen, unter denen damals gearbeitet werden mußte, kennen wir aus Erinnerungen nicht nur von Pierre Schaeffer selbst, sondern auch von Pierre Henry, dem kompositorischen Partner seiner ersten Jahre.

Zuspielung (evtl., aus Sendung Frisius, Sinfonie):

Henry, Journal (Studioarbeit)

Karlheinz Stockhausen, der 1952 in Schaeffers Studio seine erste elektroakustische Komposition realisierte, hat 12 Jahre später versucht, die rätselhaften Klangstrukturen in Schaeffers "pathetischer Etüde" deutschen Radiohörern zu beschreiben:

Zuspielung: O-Ton Stockhausen aus 1. Sendung WDR: Kennen Sie Musik, die man nur an Lautsprecher hören kann - Text vor 1. Zuspielung (Etude pathétique)

Text der Zuspielung:

"Aufgenommene Geräusche von rollenden Blechdosen, fahrender Eisenbahn, dazu undefinierbare elektrisch erzeugte Töne, regelmäßig wiederholte Sprachfetzen und manch andere Klangereignisse, die Sie selbst mehr oder weniger gut erkennen können, sind in einer Collage-Technik zusammengefügt, nachdem sie mit elektroakustischen Apparaturen mehr oder weniger stark deformiert oder transformiert wurden. Was im Leben nichts miteinander zu tun zu haben scheint, wird hier durch einfache musikalische Mittel - zum Beispiel das eines monotonen Rhythmus - miteinander in Beziehung gebracht."

Zuspielung: Etude pathétique Schluß

In Stockhausens Beschreibung wird deutlich, daß Schaeffer hier janusköpfige Klangbilder geschaffen hat: An mehreren Stellen hört man musikalische Zusammenhänge von fast schon provozierender Einfachheit - zum Beispiel ostinatoartig wiederkehrende Rhythmen, in denen gleiche oder verschiedenartige Klänge aneinandergereiht werden. Andererseits ist unverkennbar, daß viele der Klänge selbst vollkommen rätselhaft bleiben. Sie prägen sich der Wahrnehmung unauslöschlich ein; aber sie sind so neuartig, daß sie sich der exakten Analyse entziehen - ähnlich wie prägnante Bilder eines Films, deren Faszination man niemandem hinreichend erklären kann, der sie nicht selbst gesehen hat. Das macht eine genaue Analyse aller klanglichen Details fast unmöglich. Selbst in Stockhausens plastischer Beschreibung bleiben einige Einzelheiten rätselhaft: Sind in diesem Stück wirklich Geräusche einer "fahrenden Eisenbahn" zu finden, wie Stockhausen meint? Sind die "undefinierbaren Töne", von denen Stockhausen spricht, tatsächlich "elektrisch erzeugt" - was ja so verstanden werden könnte, als hätte Schaeffer tatsächlich schon damals, 5 Jahre vor Stockhausens erster elektronischer Studie, mit elektronischen Klängen gearbeitet? Wahrscheinlich muß man beide Fragen verneinen - oder zumindest offen lassen. Schaeffer selbst können wir nicht mehr fragen - und die vielen Äußerungen, die er uns in Büchern oder auf Tondokumenten hinterlassen hat, geben oft nur neue Rätsel auf.

Schaeffer hat schon in den späten vierziger Jahren realisiert, was in den frühen sechziger Jahren Theodor W. Adorno forderte: Eine "musique informelle" - eine Musik aus Klängen, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Die zahllosen Rätsel, die die komplexe Klangwelt uns aufgibt, erschienen ihm so komplex, daß er es für unmöglich hielt, Klänge und Klangstrukturen gleichsam im voraus zu konstruieren. Deswegen hat er von Anfang an gegen die serielle Musik rebelliert - eine moderne Weiterentwicklung der traditionellen, von der Partitur ausgehenden Partitionsweise, die vor allem in den frühen fünfziger Jahren viele jüngere Komponisten fasziniert hat. Die Einführung des Tonbandgerätes machte es damals möglich, auch winzige Tonbandstücke in genau abgemessenen Längen zu montieren, so daß sich auch hochkomplizierte serielle Rhythmen mit im Studio aufgenommenen Klängen nunmehr viel leichter realisieren ließen als mit Stimmen oder Instrumenten. Was Schaeffer davon hielt, ist deutlich zu hören in einem witzigen Klangbeispiel, das 1953 veröffentlicht wurde: Reine Avantgardemusik war ihm ebenso verdächtig wie jede andere leicht zu klassifizierende Musik - mag sie der klassischen Tradition entstammen oder der modernen Massenkultur. Die "musique concrète" placiert Schaeffer im Unbekannten - im Niemandsland zwischen erstarrten Fronten.

Zuspielung: Pochette surprise

(Der dritte Mann - Henry, Antiphonie: beides abgelehnt von einem Zuhörer;

Ah, vous dirais-je mit Variation: akzeptiert vom Zuhörer;

Übergang zu konkreter Musik: Frage nach der Reaktion des Zuhörers:

qu´est-ce que vous pensez de ca? Hohe leise Impulse - ausblenden)

Schaeffer hat überkommene ästhetische Vorstellungen radikal in Frage gestellt - vor allem in den Bereichen des Hörspiels und der Musik. Schon in den frühen vierziger Jahren gründete er ein Versuchsstudio, in dem neue Formen der radiophonen Vermittlung von Literatur und der Hörspiel-Produktion entwickelt werden sollten - in politisch finsteren Zeiten, zur Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs. Die praktische Radioarbeit war für ihn damals unlösbar verbunden mit dem aktiven Engagement im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht - z. B. mit heimlich aufgenommenen Gedichten, in denen prominente Dichter wie (Louis Aragon oder) Paul Eluard aufriefen (zur Resistance oder) zum Kampf für die Freiheit: Liberté

Zuspielung: (La rose et le réséda und, im Zusammenschnitt) Eluard, Liberté

Auch die frühe Hörspielarbeit in Schaeffers Studio d´Essai war ausgerichtet auf die erhoffte Befreiung. Produktionen wurden vorbereitet, die so rasch wie möglich im wieder befreiten Frankreich ausgestrahlt werden sollten - zum Beispiel "Vol de nuit" ("Nachtflug") von Antoine de Saint-Exupéry.

Zuspielung: Vol de nuit (mit Indikativ)

Neue Wege einer modernen Radiokunst, die sich der politischen Realität stellt, hat Pierre Schaeffer auch in seiner eigenen Hörspielarbeit gesucht. In den Jahren 1943 und 1944 entstand sein Hörspiel "La Coquille à Planètes" ("Die Planetenmuschel") - eine Produktion, die an einer Stelle unmißverständlich anspielt auf traumatische Kriegserfahrungen jener Jahre.

Zuspielung: La Coquille à Planètes, Sirenen (Ausschnitt - von Anfang)

Im August 1944 sorgte Schaeffers Team dafür, daß die Pariser, 5 Tage vor dem Eintreffen der republikanischen Truppen, zum Aufstand aufgerufen wurden, und in den folgenden Tagen hat seine Mannschaft dafür gesorgt, daß wichtige Ereignisse während der Befreiung von Paris in eindrucksvollen Tondokumenten festgehalten worden sind.

Zuspielung: Befreiung von Paris

Die Schlüsselrolle, die der Radiopionier Pierre Schaeffer bei der Befreiung von Paris gespielt hat, sicherte ihm auch in der Folgezeit wichtige Positionen im Radio der vierten Republik - Positionen, die ihm Spielraum gaben zur Entfaltung unkonventioneller, ästhetisch revolutionärer Aktivitäten. So wurde es möglich, daß Schaeffer das erste Versuchsstudio der technisch produzierten Musik gründen konnte - ein Studio, das bis heute existiert und eine zentrale Rolle in Produktion, Verbreitung und wissenschaftlicher Erforschung dieser Musik spielt; ein Studio, das sich inzwischen fast fünfzig Jahre lang behauptet hat als Zentrum der experimentellen Musik und der Akustischen Kunst. In der Arbeit dieses Studios kulminierte die langjährige Arbeit Pierre Schaeffers als Radiopionier, in der er von seinen ersten Berufsjahren bis in das hohe Alter hinein immer wieder neue Impulse gegeben hat in stets wechselnden Rollen: Gearbeitet hat er als Aufnahmeleiter und Hörspielregisseur, als Schriftsteller und als Komponist, als Musiktheoretiker und als Klangforscher, als Studioleiter und als Medientheoretiker. Schaeffer wußte, daß nur auf diesen vielen verschiedenen Wegen die Revolutionierung der Hörerfahrung in unserem Jahrhundert erfahren werden konnte. Die nie nachlassende Neugier für scheinbar triviale und selbstverständliche, in Wirklichkeit rätselhafte und faszinierende Phänomene unserer sinnlichen Erfahrung hat ihn nie losgelassen. Er hat für Revolutionierung der Hörerfahrung nicht weniger Wichtiges geleistet als, fast ein Jahrhundert vor seinem Tode, die Erfinder des Stummfilms für die Veränderung des Sehens leisteten. Akustische Kunst und Musik hat er in Dimensionen verändert, die weit hinausreichen über die Grenzen der Musik.

Zuspielung: Etude pathétique

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