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1.4.3.1 MUSOB.DOC

Rudolf Frisius

Wolfgang Rihm: Musik für Oboe und Orchester (1993/94)

Z: Rihm, Musik für Oboe und Orchester vollständig

Wenn man versucht, ein Musikstück genauer zu beschreiben, kann man in unterschiedliche Situationen geraten - je nachdem, wovon man ausgeht: Es gibt Kompositionen, die von Anfang an mehr oder weniger deutlich erkennen lassen, worauf sie hinauswollen; bei der genaueren Beschreibung solcher Stücke, kann man sich darauf konzentrieren, den Formprozeß zu benennen, dessen Einzelheiten und die für seine Realisierung verwendeten Gestaltungsmittel genauer zu beschreiben. - Bei anderen Musikstücken kann es vorkommen, daß sie in ihrem Ablauf zunächst bestimmte Erwartungen wecken, die sie dann später nicht erfüllen (wobei sich für den Hörer Überraschungen ergeben können - als Konsequenzen der Abweichung vom Voraussehbaren). - Noch anders ist es in Musikstücken, die so verlaufen, daß präzise Hörerwartungen sich kaum oder gar nicht bilden können, weil die Musik ständig abweicht vom Normierten, Erwarteten, Voraussagbaren.

Wer die "Musik für Oboe und Orchester" von Wolfgang Rihm studiert, wird es wahrscheinlich schwierig finden, das Stück auf einen der soeben beschriebenen Typen festzulegen. Denn einerseits ist es möglich, daß der Hörer oder der Analysierende viele Zusammenhänge entdeckt, die ihm den Ablauf des Stückes verständlich machen - die ihm bestimmte Formprozesse enthüllen, die er mitverfolgen, vielleicht sogar unter bestimmten Aspekten voraussehen kann. - Andererseits stößt man beim Hören und Lesen des Stückes immer wieder auf Details, die überraschen, weil sie aus dem Vorausgegangenen nicht ohne weiteres ableitbar sind. - Schließlich kann man auch feststellen, daß im größeren Zusammenhang des formalen Ablaufes dieser Komposition auch Entwicklungen zu finden sind, die zunächst bestimmte Hörerwartungen wecken können, die dann aber vom tatsächlich Folgenden nicht selten bündig widerlegt werden.

Wer das vollständige Stück gehört hat, könnte sich fragen, ob in dessen gesamter Formentwicklung sich Weg und Ziel bestimmen lassen: Wie beginnt das Stück, und wie endet es - und welche Entwicklung führt vom Anfang zum Ende? - Wer so fragt, denkt dabei vielleicht schon an einen bestimmten Aspekt der Formentwicklung, der für dieses Stück offensichtlich wichtig ist: An die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Soloinstrument und Orchester. Es ist ziemlich leicht zu erkennen, daß dieses Verhältnis anders ist als etwa in einem traditionellen Oboenkonzert. Es hat sein eigenes Gepräge, und es erweist sich überdies als wandelbar im Kontext eines übergreifenden Formprozesses.

Am Schluß des Stückes sind Soloinstrument und Orchesterinstrumente kaum voneinander zu unterscheiden: Ihre Töne verschmelzen in einem dichten Akkord.

Z: Schlußakkord (Ob und Orchester mit EH eng miteinander verschmolzen)

Am Anfang des Stückes ist es anders: Auch hier hört man die Oboe gleichzeitig mit Orchesterinstrumenten - jetzt aber nicht verschmolzen in einem kompakten Akkord, sondern so zusammengestellt, daß einzelne Instrumente noch deutlich heraushörbar sind - in einem zugleich transparenten und plastischen Klangbild aus einzelnen Tönen, die sich bald überlagern, bald ineinanderschieben.

Z: Anfangstöne b und a T. 1-2

Welche Entwicklung führt nun von diesem Anfang zum Schluß des Stückes? Lassen sich Tendenzen und Formprozesse finden, die - mehr oder weniger geradlinig - vom einem Stadium zum anderen führen?

Auffällig ist, daß weder am Anfang noch am Schluß des Stückes die Oboe eine herausgehobene Sonderrolle spielt. Sie steuert die gesamte musikalische Entwicklung nur insofern, als die gesamte Tonordnung vom tiefsten Ton des Soloinstrumentes ausgeht. Dies bedeutet, daß, von hier ausgehend, eine Tonhöhenentwicklung nur in der Aufwärtsbewegung möglich ist.

Z: Aufwärtsbewegung b bis cis2 (cis2 1mal oder evtl. 7mal: 39´´ bzw. 1´03)

(bis 1´03 ggf. 2x kopieren)

Wenn Wolfgang Rihm seine "Musik für Oboe und Orchester" auf dem tiefsten Ton des Soloinstrumentes beginnt, dann konzentriert er sich damit zugleich auf einen Ton, der ungefähr in der Mitte des dem Orchester erreichbaren Tonraumes liegt. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, die Tonbewegung, von der Mittellage ausgehend, allmählich auszuweiten bis zu extrem hohen und tiefen Lagen hin. Von dieser Möglichkeit hat Rihm bereits im Anfangsteil seines Stückes Gebrauch gemacht: Die Oboe führt er bis zu einem hohen Akzentton - und mit ihr die Es-Klarinette und die Harfe. (Ein drittes Holzblasinstrument hingegen, nämlich das Fagott, kann der Aufwärts-Bewegung der Oboe nur so lange folgen, wie diese in der Mittellage verbleibt; sobald diese in die hohe Lage springt, setzt das Fagott aus). Die tiefen Streicher beginnen ebenfalls in der tiefen Lage; sobald aber die Oboe zu Akzenttönen in hoher Lage übergeht, wandern die Streichertöne in die extrem tiefe Lage - mit extrem leisen langen Tönen oder Tremoli. So wird das Klangbild der Musik zugleich reduziert und radikalisiert: Man hört hohe und starke Tonakzente über einer sehr tiefen und fast unhörbar leisen Klangfläche.

Z: Rihm 7x cis 2, 39´´ bis 1´03´´

Immer wieder kehrt die Oboe zurück zu den tiefen Tönen, von denen ihre Partie zu Beginn des Stückes ausgegangen war. Auch der zweite Teil des Stückes beginnt in dieser tiefen Lage. Er ist umfangreicher als der erste und bringt weiter ausgreifende Tonbewegungen; an einer wichtigen Zäsurstelle kommt eine Schlagzeug-Solopassage hinzu, ein Element rhythmischer Bewegung. Am Schluß dieses Teiles reduziert der Tonumfang sich wieder, und die Oboe kehrt in ihre tiefste Lage zurück.

Z: 2. Expansion-Reduktion 1´03-2´29

Im weiteren Verlauf des Stückes kommt es dazu, daß die Oboe Schritt für Schritt in höhere Lagen aufsteigt und sich dabei mehr und mehr solistisch profiliert. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung ergibt sich eine markante Steigerung, der sich auch die tiefen Streicher anschließen mit dichten, im Crescendo aufsteigenden Akkordballungen. Oboe und Es-Klarinette steigern sich bis zu extrem hohen Tönen. Anschließend springen sie wieder in die tiefe Lage zurück und verbinden sich mit markanten Tonakzenten der tiefen Blechbläser.

Z: Höchste Lage - Absturz in tiefe Oboenlage 9´00 bis vor 10´53 (tiefes b mit Akzent)

Am Schluß des Stückes befreit sich die Musik aus den zuvor gehörten Gestalttypen und Formprozessen. In der Solo-Oboe beginnt eine leicht beschwingte, serenadenähnliche Musik, der sich bald auch die verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters anschließen. In der Mischung dieser Gruppen hört man schließlich, mehrfach wiederholt und zunehmend beschleunigt. Die Entwicklung wird hineingetrieben bis in extreme Lagen und Geschwindigkeiten. Eine weitere kurze Schlagzeug-Solopassage (diesmal Wirbel und ritardierende Schläüge der kleinen Trommel) stoppt die Entwicklung und bereitet dem leisen, dichten Schlußakkord den Weg.

Z: Schluß ab "Serenade", 10´53 - 11´55

"Musik für Oboe und Orchester": Dieser Werktitel klingt eindeutig, klar verständlich und unprätentiös. Der Komponist Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, hat diesen Titel einem Werk gegeben, das in den Jahren 1993 und 1994 entstanden ist. Als Schlußdatum der Partitur ist der 1. November 1994 eingetragen. Nur wenige Wochen später, am 22. November 1994, fand die Uraufführung in Stuttgart statt. Die Solopartie spielte Thomas Indermühle, dem das Werk auch gewidmet ist; er wurde begleitet von den Stuttgarter Philharmonikern unter der Leitung von Eberhard Kloke.

Der Titel dieses Stückes verrät wenig mehr als die Besetzung. Wer die Musik hört, kann versuchen, diese vorsichtige Zurückhaltung zu verstehen. Beim Hören kann deutlich werden, warum Rihm sein Werk als Musik für ein Soloinstrument und Orchester bezeichnet, aber nicht als Solokonzert: Der Titel "Konzert für Oboe und Orchester" könnte ja die Erwartung wecken, daß hier ein einzelnes Instrument mit dem komplexen, aber insgesamt einheitlichen Klangvolumen eines Orchesters konfrontiert werden soll - und dies womöglich in einer Weise, die sich ohne größere Schwierigkeiten in die Musiktradition der letzten Jahrhunderte einordnen ließe. Wer solche Erwartungen teilt, wird aber schon in den ersten Takten des Stückes eines Besseren belehrt:

Z: Anfang bis Takt 12 (cis2-Akzent in Oboe)

Schon in den ersten Tönen dieser "Musik für Oboe und Orchester" wird deutlich, daß es hier um etwas anderes geht als um die Gegenüberstellung von solistischem Melodieinstrument und kompakt begleitendem Orchesterklang: Solopart und Orchester sind nicht gegenübergestellt, sondern nahtlos ineinander verwoben:

Z: Anfang T. 1-2 ausblenden auf leisem a der tiefen Str (vor Einsatz h in Ob, Es-Kl) (2x kopieren)

Die Oboe beginnt auf ihrem tiefsten Ton, dem kleinen Ton b: Einsetzend mit einem scharfen Akzent - anschließend einige Zeit markant ausgehalten - dann abbrechend mit einem markanten Schlußakzent. Schon dieser Beginn macht deutlich, wie stark sich die Musik von einer traditionellen Komposition unterscheidet: Schon der einzelne Ton wird plastisch und vielfältig ausgestaltet, rhythmisch und dynamisch ausgeformt. Das geschieht nicht nur in der Solopartie, sondern auch Zusammenwirken der Oboe mit Orchesterinstrumenten:

Z: wie zuvor T. 1-2: b - ausblenden auf a (vor Einsatz von h in Ob, Es-Kl) ca. 6´´

Der Anfangsakzent des Stückes, das kleine b, wird nicht nur von der Solo-Oboe gespielt, sondern auch von einem Orchesterinstrument verstärkt: Von der Harfe. Durch diesen Harfen-Akzent wird der Toneinsatz der Oboe gleichsam eingefärbt. Ähnliches geschieht, wenn anschließend der Oboenton ausgehalten wird: Er wird umgefärbt dadurch, daß das Fagott auf demselben Ton eingeblendet wird - mit einem kurzen, aber heftigen Schwellklang. So hört man einen einzigen Ton gleichsam als Klangfarbenmelodie - mit wechselnden, sich überlagernden Akzenten und dynamischen Prozessen in Oboe, Harfe und Fagott: Musik im Inneren eines Tones; sie beginnt auf einem einzigen, reich ausmodellierten Ton, und sie findet so später auch den Weg zu anderen Tönen.

Z: T. 1-5 (Bartok-Pizzicato Vc 1-6: C) (evtl. bis T. 7 ausblenden auf Flag.-Tritonus h-f)

(2x kopieren, falls bis Tritonus h-f) T. 1-5 17´´ (T. 1-7 22´´)

Auffällig ist, wie stark das Stück sich in den ersten Takten auf die tiefste Lage des Soloinstrumentes konzentriert. Auch die Orchesterinstrumente passen sich dieser Lage an, indem sie die Töne der Oboe bald einfärben, bald ergänzen: Die Töne der Oboe werden übernommen von anderen Blasinstrumenten - zunächst vom Fagott, später auch von der Es-Klarinette; die Streicher fügen andere, eng benachbarte Töne hinzu. Erst allmählich kommt es dazu, daß auch weiter entferntere Töne ins spiel kommen: Höhere Nachbartöne der Bläser - später schärfer kontrastierend Tonlagen in den Saiteninstrumenten: zunächst ein scharfer, sehr tiefer Pizzikatoakzent der Celli; später hohe Flageolett-Töne der tiefen Streicher mit Schlußakzent der Harfe.

Z: T. 1-7 (Tritonus h-f, ausblenden vor as1 in Ob und Fg) (2x kopieren)

Schon zu Beginn des Stückes wird deutlich, daß diese Musik kein Oboenkonzert im traditionellen Sinne ist: Die Oboe spielt nicht virtuose Tonkaskaden, sondern einzelne, subtil ausgeformte Töne. Die Oboenpartie verbindet sich nicht mit einem kompakten Orchestersatz, sondern mit Tönen einzelner Instrumente und Instrumentengruppen in vielfältigen, stets wechselnden Konstellationen.

Am Anfang des Stückes hört man die Oboe kaum als hervorgehobenes Soloinstrument, sondern eher im kammerensemble-artigen Zusammenspiel mit anderen Instrumenten: Oboe, Es-Klarinette und Fagott artikulieren sich als Holzbläser-Trio. Sie spielen sich einzelne Töne zu, in allmählicher Fortbewegung von der tiefen Lage in etwas höhere Tonlagen - in feinsten Detailbewegungen und Detailveränderungen der Dynamik und der Klangfarben, wie unter das Mikroskop gelegte Melodietöne, wie eine Melodie in Vergrößerung und Zeitlupe. Diese Melodie neuer Art spielen die drei Holzbläser in der Begleitung durch drei Gruppen tiefer Streichinstrumente, die andere ergänzende Töne hinzufügen, gleichsam als erste Andeutung von Harmonie. Diese harmonische Begleitung neuer Art übernehmen 6 Bratschen, 6 Celli und 3 Kontrabässe - anfangs gemeinsam einsetzend, etwas tiefer als der vorher eingeführte tiefste Ton der Oboe; später weitergeführt mit eher solistisch und individuell gesetzten Tönen. - So überlagern sich eine Melodie in 3 Holzbläsern und eine harmonische Begleitung in 3 Streichergruppen; Anfang und Ende dieser Überlagerung werden deutlich markiert durch Akzente der Harfe.

Z: T. 1-7 bis Tritonus h-f mit Harfenakzent (ausblenden vor as1 in Ob und Fg) ca 22´´

Typisch für den Anfang des Stückes ist die Konzentration auf nur wenige, aber im Detail sehr reichhaltig ausgeformte Töne. Die Musik entsteht nicht erst aus der Verbindung verschiedener Töne, sondern schon vorher - aus der Belebung des einzelnen Tones. Wenn verschiedene Instrumentalisten denselben Ton spielen, dann wird dabei deutlich, daß jeder dabei seine eigene Perspektive, seine eigenen Möglichkeiten der Ausgestaltung und Ausformung findet. Dabei erscheinen die Solopartie und die Partien der Orchesterinstrumente zunächst in fast vollständiger Gleichberechtigung. Der Hörer wird zunächst kaum eine herausgehobene Funktion der Oboenpartie bemerken. Trotzdem kann man sagen, daß die Oboenpartie das gesamte musikalische Geschehen steuert - gleichsam in heimlicher Regie: Die Tonbewegung geht aus vom tiefsten Ton der Oboe -und auch im Folgenden wird sie entscheidend geprägt von den Möglichkeiten dieses Soloinstrumentes. So erklärt es sich, daß im Folgenden Schritt für Schritt auch höhere Töne eingeführt werden - zunächst Schritt für Schritt, aufsteigend in kleinen Intervallen; später auch in größeren Tonabständen, ab- oder aufwärtsspringend zu weiter entfernten Tönen: Zu Beginn des Stückes sind alle Töne gleichsam zusammengesperrt auf engstem Raum - nicht nur die Melodietöne der Holzbläser, sondern auch die Akzenttöne der Harfe, und die Harmonietöne der Streicher. Es dauert einige Zeit, bis Töne zu hören sind, die aus dieser engen Mittellage weit herausspringen: Zunächst geschieht dies im Bereich der Harmonie - mit scharfem, tiefem Akzent der 6 Celli.

Z: T. 1-5 (bis tiefer Harmonieakzent 6 Vc: C) (1. Melodie-Abschnitt)

Erst einige Zeit später kommt es dazu, daß auch ein Melodieton aus der engen Mittellage herausspringt - und zwar jetzt in genau die entgegengesetzte Richtung, d. h. in die hohe Lage hinein: Nach mehreren Ansätzen eines langsamen, gleichsam zögernden und mühsamen melodischen Aufstiegs hört man plötzlich den Sprung in einen viel höheren Melodieton: Mit deutlichem Akzent - zunächst einsetzend in der Solo-Oboe, später (mehrfach wiederholt in wechselnden Zeitabständen) übernommen auch von anderen Instrumenten: Der Sprung in den Spitzenton ist ein erstes Ziel des melodischen Aufstiegs.

Z: ab Auft. zu 8 (23´´) as1 in Ob, Fg - bis 7x cis2 (Ob - später mit Hf und z. T. Es-Kl)

(23´´ bis rasch ausblenden nach 1´03, ca. 40´´)

2. Melodie-Abschnitt mit Aufstieg bis cis2 (hoher Melodie-Akzent) (2x kopieren)

Sobald die Melodie in die hohe Tonlage springt, ändern sich die instrumentalen Konstellationen: Die tiefen Streicher, die zuvor einzelne Melodietöne übernommen hatten, lösen sich von der Melodie, und im Folgenden, als Begleitung der hohen Melodie-Akzente, reduziert sich der Streichersatz auf extrem tiefe, fast unhörbar leise Haltetöne und Tremoli der Kontrabässe.

Z (evtl., falls hörbar): T. 13 Kb-Cluster bis 16 Kb-Tremolo, 39´´-vor 56´´; 17´´

Die Harfenpartie ist anders behandelt. Der große Tonumfang dieses Instrumentes macht es möglich, daß nicht nur einzelne tiefere Melodietöne mitgespielt werden, sondern auch, deutlich markiert, alle hohen Akzenttöne der Melodie. So überlagern sich am Ende dieses Abschnittes scharf akzentuierte hohe Töne mit schattenhaft leisen tiefen Tönen.

Z: wie vorvorige Zuspielung: T. 8 mit Auftakt bis T. 19

2. Melodieabschnitt as1 bis 7x cis2

Wolfgang Rihms "Musik für Oboe und Orchester" beginnt mit einem Formprozeß, der sich beschreiben läßt als Ausweitung im Tonraum: Zuerst erklingt ein Ton in mittlerer Lage, der zugleich der tiefste Ton des Soloinstrumentes, der Oboe, ist: Das kleine b.

Z: Anfangston b, Takt 1 (evtl. weiter bis 2, T. 1-2) 7´´

Aus diesem Anfang ergeben sich Prozesse der Tonbewegung, bei denen die Möglichkeiten der beteiligten Instrumente überaus sinnfällig ausgenutzt sind: Die Oboe kann sich, wenn sie von ihrem tiefsten Ton ausgeht, nur aufwärts bewegen, während für die Gruppe der tiefen Streicher auch die entgegengesetzte Bewegung möglich ist. So erklärt es sich, daß Oboe und Streicher sich auseinander bewegen: Die Oboe steigt auf - von ihrem tiefsten Ton bis zu einem mehr als zwei Oktaven höheren Ton. Die Streicher beginnen etwas tiefer als die Oboe. Im weiteren Verlauf folgen sie zunächst der aufsteigenden Oboen-Melodie, so lange diese noch in der mittleren Lage verbleibt; sobald aber die Oboe in die hohe Lage springt, springen die tiefen Streicher in die entgegengesetzte Richtung, in die extrem tiefe Tonlage. Damit hat der Prozeß der Ausweitung ein erstes Ziel erreicht: Die Oboe hat einen Zielton erreicht, der mehrmals nachdrücklich wiederholt wird; dieser hohe Akzentton erklingt in weitem Abstand über sehr tiefen Haltetönen und Tremoli der Streicher. Man hört, wie die Musik mit wenigen Tönen beginnt und sich dann später mehr und mehr von ihnen entfernt.

Z: Auseinanderbewegung - Part. S. 1, T. 1-19 7x cis, 1´03 (danach schnell ausblenden vor Ob h)

Die Komposition beginnt damit, daß die Musik expandiert: Die Töne breiten sich aus; sie streben von einer engen Mittellage in weitere Räume, in denen sie dann verharren. Aufsteigende Töne hört man in der Oboe - aber auch in der Es-Klarinette, die sich eng an die Tonbewegungen der Oboe anlehnt. Auch ein drittes Holzblasinstrument, das Fagott, folgt zunächst den aufsteigenden Tonbewegungen der Oboe; sobald aber die Oboe in die hohe Lage springt, setzt das Fagott aus. Die Harfe hingegen, ein Instrument mit besonders großem Tonumfang, folgt den Tonbewegungen der Solo-Oboe von deren tiefstem Ausgangston bis zum ersten Zielpunkt ihres melodischen Aufstiegs - bis zum sieben Mal wiederholten zweigestrichenen cis. - So ergibt sich, daß die auseinander strebenden Tonbewegungen der Oboe und der tiefen Streicher auch die anderen Orchesterinstrumente mit sich ziehen, die bald der einen, bald der anderen Bewegungsrichtung folgen.

Z: evtl. nochmals Auseinanderbewegung 1´03

Im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, daß die zuvor gehörten Tonbewegungen wieder aufgenommen und anschließend weiter geführt werden: In einem zweiten Formteil beginnt die Oboe wiederum in tiefer Lage. Auch jetzt wird sie begleitet von einigen Orchesterinstrumenten, die einzelne Töne der Solopartie umfärben oder durch begleitende Töne und Tongruppen harmonisch ergänzen. Jetzt treten, deutlicher als zuvor, höhere Tonlagen in den Vordergrund - zunächst in den begleitenden Harmonien der Streicher, später auch in den Melodietönen der Oboe, die aufsteigen bis in extrem hohe Lagen, bevor sie wieder in die tiefe Lage zurückkehren.

Z: 2. Expansion mit melod. Abstieg (nach 7x cis2 - Ob h bis Ob c1) ca. 1´05 - 2´29´´ ,

ca. 1´24´´

Für den zweiten Teil seines Stückes schreibt Rihm "etwas mehr Bewegung" vor. Diese Bemerkung ist als Tempovorschrift gemeint. Mit denselben Worten könnte man aber auch den Formprozeß beschreiben: Die melodischen Tonbewegungen vervielfachen und beschleunigen sich, und die harmonische Begleitung verdichtet sich zu Akkorden; es bilden sich Ketten von einfachen, meistens aufsteigenden Molldreiklängen, in deren Sog nach einiger Zeit auch die Melodietöne geraten. So verschmelzen Melodie und Harmonie; die Tonbewegung kommt auf lang ausgehaltenen Flageolett-Tönen zur Ruhe, und statt dessen setzt rhythmische Bewegung ein: Man hört eine Solopassage der Bongos - gleichsam als Signal, als Ankündigung neuer Tonbewegungen.

Z: evtl. nochmals 2. Expansion mit anschließendem Abstieg. ca. 1´24´´

Immer wieder kehrt die Oboenpartie in die tiefe Lage zurück, von der sie zu Beginn des Stückes ausgegangen war. Die Melodielinien des Soloinstrumentes werden begleitet von verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters - zunächst von den 15 tiefen Streichern, später auch von vier tiefen Blechbläsern (nämlich 3 Posaunen und 1 Tuba).

Z: 3. Expansion mit Begleitung tiefe Str - tiefe Bläser 2´29 - 3´57 (bis vor neuer Eins. Str)

Im größeren Formzusammenhang des Stückes verwandeln sich allmählich Konstellationen einzelner Töne in melodische Linien und harmonische Schichtungen. Wenn die Musik sich harmonischen Konstellationen nähert, ändert sich auch zugleich ihr Ausdruckscharakter: Man hört Reminiszenen an einfache tonale Akkorde, an eine weit zurückliegende musikalische Vergangenheit. Gleichzeitig mit diesen Akkorden sind häufig Melodielinien der Solopartie zu hören, wie man sie aus der modernen chromatischen Musik des 20. Jahrhunderts kennt - Konstellationen von Tönen, die sich nur in seltenen Ausnahmefällen einfügen wollen in die begleitenden Harmonien. So ergeben sich postmoderne Konstellationen eigener Art: Man hört gleichzeitig Stilelemente aus der Musik unserer Zeit und Stilelemente, die längst vergangenen Zeiten zu entstammen scheinen.

Z: 5´05 - 5´56 nach Tomtoms und Generalpause

(Akkorde Blech mit Tamtamschlag - Schl, e2 Holz mit 3 Bongos) ca. 51 ´´

Die "Musik für Oboe und Orchester" ist so aufgebaut, daß der volle Orchesterklang nur an wenigen Stellen vorkommt, während an den meisten Stellen die Solopartie nur mit einzelnen Instrumenten und Instrumentengruppen kombiniert ist. Besonders eng verbunden ist der Oboenpart mit der Orchesterstimme der Es-Klarinette, einem im Tonumfang vergleichbaren Instrument; in mittlerer Tonlage ist die Oboe überdies oft mit einem dritten Holzblasinstrument kombiniert, nämlich mit dem Fagott. Die enge Verbindung dieser drei Holzblasinstrumente wird vor allem im Zentrum des Stückes deutlich, wo Oboe, Klarinette und Fagott sich besonders eng aneinander annähern, für kurze Zeit sogar im Unisono spielen. Damit ist eine Extremposition des Stückes erreicht: Die Reduktion des Klangbildes auf eine einzige Instrumentengruppe. Der Abschluß dieser Passage wird durch ein Schlagzeugsolo mit 3 Bongos markiert. Danach verdichtet sich das Klangbild wieder, und die Entwicklung führt schließlich dazu, daß Klangschichten mit repetierten Tönen ins Spiel gebracht werden, so daß die melodische Entwicklung gleichsam ins Stocken gerät.

Z: (5´56 nach e2 mit Bongos oder evtl. erst ab ca. 7´07 Rep. Kl, Fg bis Rep a1 Ob1)

In den letzten Teilen des Stückes ergibt sich eine erneute Verdichtung des Klangbildes, wobei begleitende Harmoniefolgen sowohl in den Streichern als auch in den Blechbläsern zu hören sind. Die harmonische Steigerung wird ergänzt durch eine melodische Steigerung, in deren Verlauf die Solo-Oboe in mehreren Anläufen aufsteigt bis in extrem hohe Lagen. Die Steigerungswirkung wird dadurch unterstrichen, daß auch die dichten Tremolo-Begleitakkorde der Streicher im mächtigen Crescendo aufsteigen und auch die Es-Klarinette sich am Aufstieg der Oboenpartie beteiligt. Sobald der höchste Ton erreicht ist, schlägt die Entwicklung um: Die Oboe springt wiieder in ihre tiefe Ausgangslage zurück und verbindet sich dann mit den Tönen der vier Blechbläser, bis sie schließlich auf ihrem tiefsten Ton innehält - also zu ihrem Anfangston zurückkehrt.

Z: 9´00 - 10´53 Aufstieg Ob, Kl mit Streicherbegl. (cresc. aufsteigend)

Der Schluß des Stückes ist eine auskomponierte Paradoxie: Die Oboe spielt plötzlich in ganz anderem Stil als zuvor - in lockeren, serenadenartigen Läufen. 3 Orchesterinstrumente schließen sich sogleich ihrem Spiel an: Die Klarinette, das Fagott und das (hier neu einsetzende) Englischhorn. Die Blechbläser, später auch die Streicher, treten mit kontrastierenden harmonischen Bildungen hinzu - mit einfachen tonalen Dreiklängen, die sich im Tonraum langsam aufwärts bewegen. Im weiteren Verlauf des Stückes wird dann aber deutlich, daß es bei dieser postmodernen Klangschichtung nicht bleibt: Auch Blechbläser und Streicher passen sich schließlich der serenadenartigen Spielweise des Solo-Oboisten an. Die Entwicklung führt so weit, daß die Gruppen der Holzbläser und der tiefen Streicher vollständig miteinander verschmelzen: Als Begleitinstrumente der Oboe spielen Bratsche und Klarinette, Cello und Englischhorn, Kontrabaß und Fagott jeweils dieselben Töne. Die Entwicklung führt zu einer einfachen, kadenzartigen Floskel, die ständig wiederholt wird und auf der sich die Musik gleichsam festbeißt, sich in einer Stretta mächtig steigert und schließlich von einem letzten Schlagzeugsignal gestoppt wird: Von einem Wirbel der kleinen Trommel, dem mehrere, stets langsamer werdende Schläge folgen, bevor, nach einer Generalpause, ein leiser Tutti-Akzent das gesamte Werk beschließt: Die Instrumente vereinigen sich zu einer imaginären Serenade; es folgt eine rasante Steigerung - gleichsam der Versuch, die Musik aus dieser Scheinidylle der Vergangenheit herauszureißen; die Steigerung bricht ab, Wirbel und Schläge der Trommel sowie ein gedämpfter Tutti-Schlußakkord besiegeln den Absturz.

Z: Schluß ab Serenade 10´53 - 11-56

Besonders am Schluß des Stückes wird deutlich, daß die Musik sich nicht benügt mit der Beschwörung einer angeblich besonnten Vergangenheit: Die Illusion des Vergangenen wird beschworen und gleich anschließend entlarvt. Im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart bleibt diese Musik mehrdeutig: Als Musik unserer Zeit - einer Zeit, in der Gegenwärtiges sich zu behaupten hat auch gegenüber den Schatten der Vergangenheit.

Z: Rihm, Musik für Oboe und Orchester vollständig.
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