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2.1 DICHTLIT.DOC


Rudolf Frisius

"... nach einer Lektüre von..."

Texte lesen / Klänge erfinden -

Musik und Dichtung / Musik als Dichtung

Schaeffer: Les paroles dégélées

Was ist Sprache, was ist Musik? Ist Musik selbst eine Sprache? Lassen Musik und Sprache sich klar voneinander abgrenzen - und auf der Basis dieser Abgrenzung sinnvoll miteinander verbinden? Gibt es sprachliche Dimensionen der Musik - und andererseits auch musikalische Dimensionen der Sprache? Lassen Musik und Sprache sich ineinander verwandeln - und gibt es Bereiche, in denen eine klare Abgrenzung zwischen beiden Bereichen unmöglich wird?

Henry: Kesquidi (oder evtl. Chion, Prisonnier - Zitat Berio und Kommentar Chion)

(oder evtl. Berio Visage, Parmegiani, Ponomatopées oder Bidule en re synth. "Geschwätz")

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf gesprochene Sprache richten, versuchen wir, Bedeutungen zu verstehen. Wenn Sprache uns als Sprache interessiert, erscheint der Aspekt ihrer klanglichen Übermittlung uns weniger wichtig: Wenn wir das Gesagte verstanden haben, kann es vorkommen, daß wir rasch vergessen, wie die an unsere Ohren gedrungene sprachliche Botschaft geklungen hat. Wir vergessen es vor allem dann, wenn wir meinen, daß das Hören in der sprachlichen Verständigung allenfalls Mittel zum Zweck wichtig wäre: Wir hören, um etwas begrifflich Fixierbares zu verstehen - eine Botschaft, die nicht an bestimmte Sprachlaute gebunden ist, geschweige denn an eine bestimmte Sprechweise, an die Stimme eines bestimmten Sprechers, nicht einmal an eine bestimmte Sprache. Sobald diese angebliche leicht zu vernachlässigenden Einzelheiten uns interessieren, verändert sich unser Umgang mit der Sprache: Uns werden die musikalischen Dimensionen der Sprache bewußt, wenn wir darauf achten, wie Gesprochenes tatsächlich klingt. So läßt sich auch verständlich machen, daß viele Komponisten, die einen Text vertonen, häufig mit Wiederholungen arbeiten: Bestimmte Wörter, Wortgruppen oder Sätze hört man mehrmals nacheinander; es kommt also offensichtlich nicht auf den Inhalt des Gesagten an, den man ja auch schon beim ersten Mal verstehen könnte, - sondern darauf, wie das Gesagte klingt, wie sogar dieselben Worte unterschiedlich klingen können und wie sich dadurch womöglich auch ihr Bedeutungsgehalt verändert.

Bach: Matthäuspassion - Gebt mir meinen Jesum wieder

In vielen Musikstücken spielen Textwiederholungen eine so wichtige Rolle, daß sogar sehr kurze Textvorlagen zur Basis ausgedehnter Musikstücke werden können - manchmal sogar nur einzelne Wörter.

Händel: Messias Amen (oder evtl. Hallelujah)

Die Musik bietet viele Möglichkeiten, Texte gleichsam zu mikroskopieren. Selbst ein einzelnes Textwort läßt sich auf viele verschiedene Arten musikalisch beleuchten - und für die Vertonung eines einzigen Wortes gibt es viele verschiedene Möglichkeiten; je nachdem, wie dieses Wort vertont ist, kann es sich in vollkommen verschiedenen Bedeutungen präsentieren.

Berlioz: Ironische Amen-Fuge aus "Fausts Verdammnis"

Wenn aus kurzen Textelementen oder Texten umfangreiche Musikstücke entstehen, dann ergibt sich eine Musikalisierung der Sprache daraus, daß sie gleichsam unter das Mikroskop der Musik gelegt wird. Sprache verwandelt sich in Musik. In der Musik können sich dabei Zusammenhänge ergeben, von denen der Text selbst kaum etwas ahnen läßt. Das Vertrauen der Komponisten auf die eigenständigen Ausdrucksmöglichkeiten der Musik kann so groß sein, daß sie sogar Texte vertonen, die selbst schon musikalisierte Sprache sind und sich von sprachlichen Bedeutungen gelöst haben.

Wagner: Gesang der Rheintöchter (Rheingold, Anfang 1. Szene)

Es gibt in Musik gesetzte Texte, die sich von sprachlichen Konventionen so weit entfernen, daß man beim Lesen oder Sprechen an konkrete Poesie denken könnte. Wenn solche Texte allerdings gesungen werden, kann sich die paradoxe Situation ergeben, daß der Schock des Unverständlichen und Ungewöhnlichen gemildert wird, weil der Hörer sich um das Problem des Textes und seiner Verständlichkeit womöglich gar nicht kümmert.

Berlioz: Fausts Verdammnis - Geisterchor (konkrete Poesie)

Sprache, die sich mit Musik verbindet, kann um so leichter in Grenzbereicheder musikalischen und sogar der asemantischen Sprache vordringen. Beispiele hierfür finden sich beispielsweise in der Musik des 19. Jahrhunderts (etwa in Vertonungen asemantischer Texte bei Richard Wagner oder Hector Berlioz) oder in der Akustischen Kunst des 20. Jahrhunderts (etwa bei Kurt Schwitters oder John Cage).

evtl. Schwitters Ursonate (u. U. im Zusammenschnitt mit Cage Solo-Rezitation)

Beispiele einer Musikalisierung von Sprache, die auch über die Grenzen konventioneller sprachlicher Bedeutungen hinauszuführen vermag, finden sich in vielen verschiedenen Epochen und Kulturkreisen - Sprachmusik im Grenzbereich zwischen verschiedenen Ausdrucksformen, im zentralen Bereich der Akustischen Kunst: Sprache, die Impulse gibt zur Verwandlung in Musik, um in dieser dann zu verschwinden.

evtl. asemantische Beispiele außereuropäischer Musik

Eben so, wie es sich in Musik verwandelnde Sprache gibt, finden sich auch Beispiele für Verwandlungen in entgegengesetzter Richtung, für sich versprachlichende Musik. Die wohl bekanntesten Beispiele hierfür finden sich im letzten Satz der neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Dieser Satz beginnt mit einer heftig dissonanten Einleitung, der später Erinnerungen an die Themen der drei vorausgegangenen Sätze folgen. Zwischen der Einleitung ud diesen Rückerinnerungen hört man einstimmige Passagen der tiefen Streicher, die ähnlich klingen wie ein Rezitativ, wie ein Gesang ohne Worte. Aus Beethovens Skizzen wissen wir, was er mit diesem wortlosen Gesang ausdrücken wollte: Die Suche nach einer Melodie, die den Konflikt der stürmischen Einleitung zu schlichten vermag - und die Einsicht, daß die bis jetzt erklungenen Melodien dies nicht zu leisten vermögen, weswegen sie verschwinden und einer neuen Melodie Platz machen, nämlich der berühmten Freuden-Melodie.

Beethoven, 9. Sinfonie: instrum. Einl. - bis Einführung Freudenmelodie (evtl. am Anfang kürzen)

Das Modell von Beethovens neunter Sinfonie hat Schule gemacht: Man hört, daß die Musik etwas sagen will, aber daß sie dabei rein instrumental, ohne die Worte einer bekannten Sprache, zu sprechen versucht. Für dieses Verfahren gibt es viele Beispiele - nicht nur bei Beethoven, sondern auch bei anderen Komponisten. In Beethovens neunter Sinfonie ist die wortlose Sprache allerdings nur ein Übergangsstadium: Was zunächst wortlos, rein instrumental erklingt, verbindet sich später mit Sprache, mit dem Gesang von Schillers "Ode an die Freude".

Beethoven: 9. Sinfonie - Übergang zum Gesangseinsatz (Dissonanz - O Freunde,...)

In der Einleitung zum Finale von Beethovens neunter Sinfonie und in deren weiterm Verlauf werden verschiedene Möglichkeiten der Beziehung zwischen Sprache und Klang, zwischen Literatur und Musik deutlich. In der Einleitung zeichnen sich dabei auch Möglichkeiten ab, die über Beethovens eigene Lösung womöglich hinausführen: Die Musik selbst versucht zu sprechen - auch unabhängig von der direkten Bindung an eine literarische Vorlage, die sich noch in Gesangstexten heraushören ließe. Diesen Ansatz haben nach Beethoven vor allem die führenden Exponenten der Programmusik des 19. Jahrhunderts weiter verfolgt, beginnend mit Hector Berlioz und Franz Liszt. In ihren Werken finden sich wichtige Beispiele für Musik, die von literarischen Vorlagen inspiriert ist. Vor allem Hector Berlioz hat deutlich gemacht, daß es für die Umsetzung von Musik in Literatur durchaus unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten gibt - sei es rein instrumental, sei es unter Einbeziehung von Gesangstexten. Auch die Funktion einer literarischen Vorlage kann von Fall zu Fall verschieden sein. Im Falle seiner "Sinfonie fantastique" hat Berlioz selbst versucht, den Inhalt des instrumental Dargestellten in Worte zu fassen, ein "Programm" des musikalisch-dramatischen Geschehens aufzuschreiben. Sein Text, der in verschiedenen Fassungen vorliegt, ist allerdings weniger eine der Komposition vorausgehende literarische Vorlage als ein Versuch, sie nachträglich literarisch zu erklären. Sein Text ist nicht Bestandteil der Komposition, sondern ihr begleitender Kommentar: Wer die Orchestermusik hört und dazu (stumm) den Text des Programms liest, kann sich auf diesem Wege die Bedeutungszusammenhänge zu erschließen versuchen. Die sinnlich präsente Musik und der nur in der Vorstellung des Lesers anwesende Text, das Hören der Musik und das Lesen des literarischen Textes ergänzen sich gegenseitig. Dies wäre das klassische Modell der Rezeption von Programmusik. Berlioz selbst hat allerdings deutlich gemacht, daß er sich auf dieses Modell nicht verlassen wollte: Im Anschluß an seine "Sinfonie fantastique" hat er ein zweites Werk komponiert, in dem das Verhältnis zwischen Klängen und Bedeutungen anders organisiert ist: Das Werk ist angelegt als Fortsetzung der "Sinfonie fantastique", die im direkten Anschluß an die Sinfonie aufgeführt werden kann. Wenn dies geschieht, dann ändert sich der Stellenwert der programmatischen Erklärungen: Berlioz beschränkt sich nicht darauf, sie dem Hörer zur stummen Lektüre anzubieten, sondern er läßt sie im Konzertsaal deklamieren: Man hört kurze instrumentale Rückerinnerungen an die "Sinfonie", begleitet mit Kommentaren des Sprechers, der in der Theaterrolle des Komponisten auftritt. Der Sprecher Lélio wird so zur Hauptperson eines Stückes für Sprecher, Sänger und Orchester, das Berlioz gleichsam "nach der Lektüre" seiner eigenen fantastischen Sinfonie konzipiert hat.

Lélio: Reminiszenzen Sinfonie fantastique mit Kommentar

Berlioz hat das Verhältnis zwischen Literatur und Musik in "Lélio" unter verschiedenen Aspekten dargestellt - nicht nur in der sprachlichen Deutung seiner eigenen Musik (mit Sprache, die Musik ausdeutet), sondern auch umgekehrt mit der Vertonung literarischer Vorlagen (mit Musik, die Sprache ausdeutet). So verbinden sich in seiner Musik zwei unterschiedliche Verfahren: Die Textierung (die Ergänzung vorgegebener Musik durch Texte) und die Vertonung (die Einbettung vorgegebener Texte in Musik). In den Sprechtexten Lélios versucht Berlioz, beide Verfahren nicht nur deutlich voneinander zu unterscheiden, sondern auch präzise zu begründen. So beschreibt er die Empfindungen und musikalischen Vorstellungen, die sein Text in ihm wachruft, und gleichzeitig konkretisiert er diese Beschreibung in den Klängen der Orchestermusik.

Lélio: Ausschnitt MoKo Mon instant musical me réveille...

Berlioz hat viele verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, Literatur und Musik miteinander zu verbinden - sei es in reiner Instrumentalmusik, sei es in Verbindungen der Musik mit Sprache oder sogar mit szenischer Darstellung. Franz Liszt, der die Musik von Berlioz genauestens kannte, hat dessen Ansätze einerseits im Spektrum der Möglichkeiten genauer eingegrenzt, andererseits in einigen Teilaspekten auch umfassender ausgearbeitet und weiter entwickelt. Für ihn spielt der Aspekt der szenischen Darstellung keine wesentliche Rolle. Auch die literarische Beschreibung vorgefundener Musik interessiert ihn meistens nur in Verbindung mit einem literarisch fixierten Programm. In dem hiermit gesteckten, im Vergleich zu Berlioz etwas verengten Rahmen allerdings entfaltet sich allerdings bei ihm ein breites Spektrum der Möglichkeiten, aus literarischen Vorlagen Musikstücke zu entwickeln.

Franz Liszt, der weltberühmte Pianist, hat sich in anderer Weise mit Literatur auseinandergesetzt als Hector Berlioz, der seine wichtigsten musikalischen Erfahrungen als partiturlesender Besucher von Opernaufführungen gesammelt hat: Berlioz dachte, wenn er literarische sujets verarbeitete, an eine möglichst große und komplexe Vielfalt der klanglichen Mittel, wie sie sich dem Komponisten im Zeitalter der großen Oper anboten. So erklärt sich seine Vorliebe für große Orchesterbesetzungen, aber auch die originelle und völlig unorthodoxe Integration von Singstimmen in Orchestersatz, die weit über die tradierten Verfahren der Opernkomposition hinausführte. Bei Berlioz gibt es deswegen keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen rein instrumentaler und vokal-instrumentaler Musik. Anders ist es bei Liszt: Für ihn steht die rein instrumentale Verarbeitung im Vordergrund. Dem Ansatz von Berlioz, der sich in den meisten Fällen beschreiben läßt als Verbindung von Musik u n d Dichtung, stellt er eine Konzeption von Musik a l s Dichtung gegenüber. So unterscheidet er sich von einer Beethoven-Nachfolge im Geiste von Berlioz, aber auch von Wagner, der im Finale der neunten Sinfonie eine Absage an die reine, von der Literatur abgelöste Instrumentalmusik sehen wollte und daraus die Konsequenz der Verbindung von Musik und Sprache im Musikdrama zog. Liszt dagegen steht einem Beethoven näher, dessen Musik auch ohne Zuhilfenahme des gesungenen Wortes zu "sprechen" vermag. In seiner Vorliebe für die reine Instrumentalmusik ging er so weit, daß er in seinen Konzerten Klavierbearbeitungen von berühmten Opern und sogar von Liedern Franz Schuberts spielte. Er konnte sich darauf berufen, daß auch Schubert einige seiner bekanntesten Melodien in rein instrumentalen Kompositionen verarbeitet hat - so daß jemand, der die Liedertexte im Gedächtnis hat, in ihrer instrumentalen Verarbeitung Spuren wortloser Tondichtung finden kann. Das wohl wichtigste Beispiel dieser Art, Schuberts "Wanderer-Phantasie" für Klavier, hat Liszt für wichtig genug befunden, um es umzuarbeiten zum Klavierkonzert. - Auch in seinen eigenen Kompositionen hat Liszt immer wieder versucht, die Musik selbst zum Sprechen zu bringen. An vielen Stellen seiner Musik findet sich wortlose Sprache in Gestalt des rein instrumentalen Rezitativs. In viele seiner Notentexte hat Liszt literarische Texte hineingedruckt - oft zu Anfang als Einstimmung in die Musik, in vielen Fällen auch im Inneren der Stücke, etwa zu Beginn eines neuen Abschnittes; nicht selten kommt es sogar dazu, daß die Musik dem Deklamations-Rhythmus der eingedruckten Textworte folgt - etwa dann, wenn in seiner Dante-Sinfonie im mächtigen Unisono der drohende Spruch zu hören ist, mit dem die ins Inferno Eintretenden begrüßt werden.

Dante-Sinfonie: 1. Satz Unisono (Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren...)

In vielen Versuchen der Versprachlichung von Musik geht Liszt noch weiter: Auf literarische Texte bezieht er sich nicht nur in deklamatorischen Rhythmen, sondern auch in entlehnten Melodien, die der Hörer als musikalische Symbole verstehen kann. Die wohl bekannteste dieser Melodien hat vor ihm schon Hector Berlioz verarbeitet: Das "Dies irae", die berühmte gregorianische Sequenz aus der Totenmesse. Berlioz zitiert diese Melodie in ironisch-sarkastischer Brechung - als Musik eines Hexensabbaths, gleichsam einer schwarzen Messe. Für Liszt hingegen wird diese Melodie zum musikalischen Symbol eines Totentanzes, in dem sich Anregungen aus der bildenden Kunst verbinden mit der Adaption tradierter Literatur und Musik.

evtl. Zusammenschnitt Dies irae Berlioz - Liszt

Wenn Franz Liszt in Klavierkompositionen oder Orchesterwerken traditionelle Melodien - z. B. Melodien des gregorianischen Chorals - zitiert, dann denkt er meistens an Hörer, die auch den Text dieser Melodien kennen. Er übernimmt damit ein Verfahren, von dem er sicherlich wußte, daß es auch in der Musik von Johann Sebastian Bach eine wichtige Rolle spielt: Diese Melodien transportieren Textinhalte, ohne daß diese ausdrücklich gesungen werden müßten. Bei Bach ebenso wie Liszt erscheinen diese Melodien meistens als religiöse Chiffren, in einigen Fällen aber auch als Zitate populärer Musik, wie sie Bach gelegentlich als humoristische Episode, Liszt mehrfach in verschiedenen Varianten musikalischen Lokalkolorits verwendet.

In seinen sinfonischen Dichtungen geht Liszt noch wesentlich weiter. Wenn er versucht, die Musik selbst zum Sprechen zu bringen, dann begnügt er sich nicht damit, auf Bekanntes zurückzugreifen - z. B. auf den Deklamationsrhythmus eines berühmten literarischen Zitats oder auf bekannte Melodien. Viel wichtiger ist für ihn der Versuch, in der Verbindung von literarischer Vorlage und Musik für beide Ausdrucksbereiche neue Möglichkeiten zu erschließen. Dabei beruft er sich auf Berlioz, wenn es darum geht, mit Leitmotiven und ihren Verwandlungen sowie mit charakteristischen Gliederungen und Formprozesse die literarische Vorlage musikalisch zu interpretieren. So können sich einerseits neue Deutungen eines literarischen Textes ergeben, andererseits aber auch neue musikalische Gestaltungsprinzipien und Formprozesse. Die literarische Vorlage und die von ihr angeregte Musik modifizieren sich gegenseitig. In der sinfonischen Dichtung "Die Ideale" führt dies so weit, daß einerseits die Orchestermusik der Abfolge von Schillers Strophen folgt, daß andererseits die so sprachlich emanzipierte Musik aber auch über die Aussage des literarischen Textes hinausgehen kann: Liszt beschließt seine Musik mit einer Apotheose, die sich folgerichtig aus dem musikalisch Vorausgehenden entwickelt, die aber - wie Liszt selbst in einer Anmerkung hervorhebt - aus dem Text allein sich nicht ableiten läßt. Die Verwandlung von Sprache und Musik wirkt hier zurück auf das, was sprachlich ursprünglich aussagen sollte.

Musik und Sprache lassen sich dann sinnvoll miteinander verbinden, wenn sorgfältig bedacht wird, daß beide Bereiche als offen, als jeweils auf den anderen verweisend angesehen werden können - als aufeinander angewiesene Teilbereiche der Akustischen Kunst. Dies muß nicht bedeuten, daß beide Bereiche stets in gleicher Weise präsent sein sollten. Jeder von ihnen kann unter bestimmten Umständen sogar stärker wirken, wenn er einmal nur indirekt präsent oder scheinbar völlig abwesend ist. Dies zeigt sich auch in der Musik von Franz Liszt: Besonders eindringlich spricht sie oft gerade dann, wenn ihr Text nicht gesungen wird, sondern in reiner Instrumentalmusik verborgen bleibt.

Was Franz Liszt begann, hat wichtige Konsequenzen gehabt auch über seine eigene Musik hinaus. Besonders radikal waren die Schlußfolgerungen eines Komponisten, von dem wir heute wissen, daß er einer der wichtigsten Pioniere der Musik des 20. Jahrhunderts war: Charles Ives. Das Hauptwerk dieses Komponisten, seine zweite Klaviersonate, besteht aus mehreren Sätzen, die in ihren Überschriften ausgewiesen sind als Porträts verschiedener amerikanischer Schriftsteller: Emerson, Hawthorne, Die Alcotts, Thoreau. Zusammen mit seiner Sonate hat Ives einen ausführlichen Essay veröffentlicht, in dem er auf die zitierten Schriftsteller ausführlich eingeht. Den Ansatz dieser Musik könnte man beschreiben als eine extreme Konsequenz der Entwicklung traditioneller Programmusik. Diese Perspektive allein aber genügt nicht;

denn sowohl aus der Musik als auch aus dem sie begleitenden Essay geht eindeutig hervor, daß es hier nicht allein auf musikalische Umsetzung außermusikalischer Inhalte ankommt. Viel wichtiger ist der Versuch, am Beispiel der Literatur darzustellen, wie sich völlig neuartige Gestaltungsrinzipien entdecken lassen, die auch zur Übetragung auf den Bereich der Musik anregen könnten - ebenso wie andererseits auch denkbar wäre, daß neue musikalische Gestaltungsideen auch Anregungen zur literarischen Umsetzung und zu neuartigen Verbindungen zwischen Musik und Literatur geben könnten. Vieles spricht dafür, daß in der künstlerischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts der erste Weg häufiger gegangen wurde als der zweite: Es hat viele Musiker gegeben, die sich von Literaten anregen ließen, während der umgekehrte Weg der Beeinflussung sich nur relativ selten finden läßt. Insofern könnte man von einer merkwürdigen Asymmetrie zwischen Musik und Literatur sprechen. Sie äußert sich übrigens auch darin, daß Komponisten sich nur selten von Literaten ihrer eigenen Generation anregen lassen; häufiger ist es, daß sie sich auf ältere Schriftsteller beziehen - etwa John Cage auf James Joyce, Pierre Boulez auf Stephan Mallarmé, Luigi Nono auf Friedrich Hölderlin, Iannis Xenakis auf Aischylos, Sophokles oder Euripides, Pierre Henry auf Victor Hugo oder Marcel Proust, Wolfgang Rihm auf Heiner Müller, Antonin Artaud oder Friedrich Nietzsche. Beispiele dafür, daß experimentelle Musik durch experimentelle Literatur angeregt wurde, finden sich nur in seltenen und wenig bekannten Ausnahmefällen - beispielsweise Karlheinz Stockhausens "Mikrophonie II" nach Texten von Helmut Heißenbüttel. Zum Dialog der Gleichaltrigen ist es nur selten gekommen. Häufiger kam es vor, daß moderne Komponisten sich von älterer Literatur inspirieren ließen. (Die Frage liegt nahe, warum nicht auch Musik sich als Anregung für experimentierfreudige Literaten erweisen könnte - sei es neuere, sei es ältere Musik, diese Frage muß möglicherweise offen bleiben, bis in der Entwicklung der Akustischen Kunst sich die Voraussetzungen zu ihrer Beantwortung geklärt haben).

Das Verhältnis zwischen Literatur und Musik ist auch in der künstlerischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts ambivalent geblieben - sogar in neuartigen Integrationsformen, wie sie sich vor allem im Kontext der technisch produzierten Akustischen Kunst ergeben haben. Es hat Entwicklungen gegeben, die sich gegenseitig ergänzt haben - vor allem die Musikalisierung der Sprache und die Semantisierung der Musik. Andererseits ist es zu einer völligen und dauerhaften ästhetischen Verschmelzung von klingender Sprache und Musik nicht gekommen. So blieb es möglich, die nach wie vor bestehenden Trennungen zwischen beiden Bereichen produktiv zu nutzen - beispielsweise in der Entwicklung neuer Konzeptionen der Verwandlung von traditioneller Literatur in moderne Akustische Kunst.

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