Dokument: Inhalt\ WDR\ MURADAK2.DOC
[Zurück]   [Vor]   [Hoch]   [Startseite]        Index

 

2.3 MURADAK2.DOC


Rudolf Frisius

Musik - Radio - Akustische Kunst

Vorbemerkungen

Wandlungen der Musik und der Musikvermittlung im 20. Jahrhundert

- Emanzipation des Geräusches

(vorbereitet durch die Emanzipation der Dissonanz)

Neo-Atavismus -

Artifizielle Gestaltung technisch produzierter Klänge

- Sonderfall der Emanzipation des Geräusches:

Emanzipation der klingenden Sprache

- Emanzipation des Geräusches vom situativen Kontext?

Wandlungen der Radiokunst

Vom Hörspiel über das Neue Hörspiel zur Akustischen Kunst

Vorbemerkungen

Wandlungen der Musik und der Musikvermittlung im 20. Jahrhundert

Ansätze der Grenzüberschreitung:

Diesseits und jenseits von reiner Tonkunst und absoluter Musik

Emanzipation der Dissonanz - Emanzipation des Geräusches

Die Emanzipation der Sprache

als Sonderfall der Emanzipation des Geräusches -

Musik und Sprache, Musik als Sprache

Das Radio

als Medium der Übermittlung von Musik und Akustischer Kunst

(als Medium der technischen Übermittlung von Hörereignissen)

Akustische Kunst

als integrative Hörkunst des technischen Zeitalters

Vorbemerkungen

Musik - Radio - Akustische Kunst: Zunächst könnte es schwierig erscheinen, in der Aufzählung dieser drei Stichwörter einen Zusammenhang zu erkennen. Jeder dieser drei Begriffe eignet sich als Bezugspunkt, um wichtige Veränderungen in der Entwicklung des 20. Jahrhunderts darzustellen. Wer dem genauer nachzugehen versucht, kann allerdings auch feststellen, daß diese Begriffe in mehrfacher Hinsicht schwer zu bestimmen sind - und zwar im Hinblick nicht nur auf künstlerische, kulturgeschichtliche, gesellschaftliche und politische Veränderungen im 20. Jahrhundert, sondern auch auf ihr Verhältnis zueinander.

Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Musik und Akustischer Kunst wirft andere Fragen auf als die Frage nach dem Verhältnis beider Bereiche zum Radio. Dem Wortsinne nach könnte man die Musik als eine speziellere Disziplin, die Akustische Kunst als eine sie enthaltende und über sie hinaus reichende Disziplin ansehen. Im tatsächlichen Sprachgebrauch allerdings trifft dies nicht zu - und zwar vor allem deswegen, weil der Begriff der Akustischen Kunst meistens nicht in so umfassendem Sinne verwendet wird, sondern in engerem Sinne - in einer Spezifizierung, die sich orientiert an den besonderen Bedingungen der technischen Klangübermittlung und Klangproduktion, wie sie sich im 20. Jahrundert durchgesetzt haben, besonders sinnfällig im Medium Radio. Unter diesem Blickwinkel ließe sich die Akustische Kunst definieren als medienspezifische Hörkunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und Produzierbarkeit - gleichsam als auditives Korrelat zu den visuellen Disziplinen der technisch reproduzierten und produzierten Bilder, der Photographie und des Films. Das Verhältnis zwischen Musik und Akustischer Kunst ließe sich insofern unter ähnlichen Verhältnissen untersuchen wie das Verhältnis zwischen Malerei und Photographie oder zwischen Theater und Film. In diesem Vergleich kann allerdings auch deutlich werden, daß die Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert sich in vielen Aspekten von der Entwicklung der traditionellen Bildenden Künste unterscheidet: Die Kunst der technisch produzierten Klänge hat sich von der Musik nicht so weit entfernt wie etwa die Kunst der technisch produzierten Bilder von der Malerei. Im Gegenteil: Technische Veränderungen haben vielfach dazu geführt, daß sich neue klangliche Entwicklungen nicht abseits der Musik, in neuen, technisch geprägten Hörkünsten vollzogen, sondern in der Musik selbst. Technisch produzierte Klangkunst entwickelte sich in vielen Fällen als Konsequenz innermusikalischer Entwicklungen. Die Frage, ob diese Entwicklungen die Grenzen der Musik sprengen könnten, ließ sich zunächst in vielen Fällen nicht klar beantworten. Die Frage nach dem Verhältnis der musikalischen Entwicklung einerseits zur Entwicklung der Akustischen Kunst, andererseits zur Entwicklung neuer Techniken und neuer technischer Medien (z. B. des Radios) stellte sich im 20. Jahrhundert häufig als Frage nach innermusikalischen Veränderungen, deren Konsequenzen womöglich über die Musik selbst hinausweisen konnten.

Wandlungen der Musik und der Musikvermittlung im 20. Jahrhundert

Ansätze der Grenzüberschreitung:

Diesseits und jenseits von reiner Tonkunst und absoluter Musik

Musik wurde und wird häufig als eine autonome, ihren eigenen Ordnungen folgende Ton- oder Klangkunst angesehen - als eine Hörkunst also, die sich von anderen künsterlerischen Disziiplinen deutlich abgrenzen läßt und für deren Verbindung mit anderen Bereichen sich in der Regel eher additive als integrative Modelle anbieten. Als Prototypen derariger musikalischer Vorstellungen können Konzeptionen einer absoluten Musik gelten, wie sie etwa wichtigen Werken der abendländigschen Kunstmusik des 18. und 19. Jahrhunderts angemessen erscheinen könnten. Musik als Tonkunst erscheint hier als ein eigenständiger, von anderen künstlerischen Disziplinen durchaus wesensverschiedener Bereich. Für die Idealvorstellung einer absoluten Musik wurde vielfach die Instrumentalmusik Beethovens in Anspruch genommen. Am Beispiel Beethovens aber zeigten sich gleichzeitig auch die Grenzen dieser Betrachtungsweise: Seine Musik wurde zwar einerseits, in der Weiterentwicklung bis Brahms, als Fundament der Emanzipation autonomer Instrumentalmusik angesehen. Andererseits gab es aber auch Musiker, die aus Beethoven ganz andere Konsequenzen zogen: Mit programmusikalischen Werken wie der 6. Sinfonie, der "Pastorale", inspirierte Beethoven nicht nur kurze Programm-Musikstücke, wie sie sich unter den Ouverturen Mendelssohns finden, sondern auch größere zyklische Orchesterwerke wie die "Sinfonie fantastique" von Hector Berlioz, sinfonische Dichtungen von Franz Liszt und anderen sowie zahlreiche programmusikalische Werke von Richard Strauß. Noch weiter ging Richard Wagner, der das Finale von Beethovens neunter Sinfonie als Auflösung der autonomen Instrumentalmusik interpretierte - in der Synthese von Musik und Sprache als ersten Schritt zum Musikdrama, das beide Bereiche im instrumental begleiteten Gesang mit szenischen Abläufen verbindet.

Die Akzentverlagerung von der absoluten Musik zur Programmusik, die für die Musikentwicklung des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist, läßt sich auch in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts wiederfinden. Die Parallelen werden deutlich, wenn man einerseits etwa Streichquartette des späten Beethoven und des späten Webern als Musterbeispiele "absoluter Musik" prüft, andererseits Programmusik etwa von Berlioz oder Liszt unter ähnlichen Aspekten studiert wie narrativ-hörspielartige musique concrète, wie wir sie, in unterschiedlichen Ausprägungen, aus einzelnen Werken von Pierre Schaeffer und Pierre Henry oder von Luc Ferrari kennen. Bei solchen Vergleichen kann sich die naheliegende Feststellung konkretisieren, daß Tendenzen einer avancierten Materialveränderung, die die engen Grenzen autonomer Musik in Frage stellen, häufig nicht aus absolut-musikalischen Vorstellungen hervorgehen, sondern eher aus inhaltsbezogenen Klangvorstellunglen, die über die Grenzen der Musik im engeren Sinne hinausführen.

Die zentralen musikästhetischen Kontroversen des 19. Jahrhunders haben fortgewirkt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein - in produktiver Spannung zwischen musikimmanenten und musikübergreifenden Konzeptionen. Auch im 20. Jahrhundert ergaben sich wichtige Veränderungen der Musik oft weniger aus innermusikalischen Entwicklungen als aus Tendenzen der Grenzüberschreitung. Dies gilt in besonderem Maße einerseits für die Frühzeit des 20. Jahrhunderts, für die Zeit des Durchbruchs zur Atonalität, andererseits für Tendenzen der Öffnung der Musik zur integrativen Medienkunst, wie sie vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders eine wichtige Rolle spielten.

Sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert sind das Bild der Musik und ihrer avancierten Weiterentwicklung in hohem Maße geprägt durch musikübergreifende Aspekte. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wird dies besonders sinnfällig einerseits im Gesamtkunstwerk Richard Wagners, andererseits etwa in Arnold Schönbergs atonal-polyästhetischen Musiktheaterprojekten "Erwartung" und "Glückliche Hand", die einerseits integrative Tendenzen Wagners weiterführen, andererseits Verbindungen herstellen zu damals aktuellen grenzüberschreitenden Tendenzen bei bildenden Künstlern wie Kandinsky. In späteren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verbanden sich avancierte grenzüberschreitende Tendenzen der Musikentwicklung teils mit neuen Ansätzen experimenteller Hörkunst wie der Akustischen Literatur oder dem Neuen Hörspiel, teils mit neuen Ansätzen medienspezifischer Kunst (sei es in der Übertragung bestimmter Techniken vom Hörbereich auf den Sehbereich, etwa vom Stummfilm auf das Hörstück - anfangs bei Walter Ruttmann, später in der musique concrète oder etwa in Neuen Hörspielen Ferdinand Kriwets).

Emanzipation der Dissonanz - Emanzipation des Geräusches

Die wichtigsten Veränderungen der abendländischen Kunstmusik, die als Grenzerweiterungen einerseits zur universellen Klangkunst, andererseits zur modernen Medienkunst führen konnten, ergaben sich im Zeichen der Emanzipation des Geräusches - einer Veränderung also, die die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat: als konsequente Weiterführung einer Entwicklung, die in den Grenzen der tradierten Tonkunst bereits zur Emanzipation der Dissonanz geführt hatte und damit zur Infragestellung der überlieferten tonalen Musiksprache. Die abendländische Tonkunst, die sich im Laufe einer jahrhundertelangen Entwicklung mehr und mehr zur Dissonanz geöffnet hat, ist schließlich zur universellen Klangkunst geworden, in der alle Hörereignisse potentiell gleichwertig sind.

Ansätze zur Entwicklung der Musik über die Emanzipation der Dissonanz bis zur Emanzipation des Geräusches, wie sie in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts zentrale Bedeutung gewannen, haben historische Wurzeln, die weit bis in frühere Jahrhunderte zurückreichen. Ambivalent sind sie nicht zuletzt deswegen, weil sie einerseits auf klangliche Innovation zielen können, andererseits aber auch auf die (erhoffte oder tatsächliche) Rückkehr zu integralen Klangerfahrungen jenseits kulturell etablierter Abgrenzungen etwa zwischen schön und häßlich, zwischen archaisch und progressiv, zwischen Natur und Kunst.

Die Öffnung der Musik zum Geräusch und zur Dissonanz kann sich auf verschiedenen Wegen ergeben - einerseits auf dem Wege zunehmender Komplizierung der Tonbeziehungen, in fortwärendee Annäherung an extrem Artifizelles, das über die Grenzen des bisher Bekannten hinausweist; andererseits gleichsam in der Gegenrichtung, in der zunehmenden Annäherung der artifiziellen Tonkunst an die von Geräuschen beherrschte Natur. Eine höchst paradoxe Verbindung beider Tendenzen kann sich etwa dann ergeben, wenn - wie etwa in Schönbergs Behandlung der Sprechstimme - die Musik sich einerseits von der Tonkunst gesungener Melodien löst, andererseits ihre Gesetzmäßigkeiten bis in den Bereich der gesprochenen Sprache hinein zu treiben versucht. - In der Instrumentalmusik läßt sich das Geräusch definieren einerseits als Extremfall artifizieller Geräuschkomposition - etwa in der Symphonik Gustav Mahlers mit ihren vielfältigen Formen der Integration von Ton und Geräusch oder im vierten der Orchesterstücke opus 6 von Anton Webern, wo, ausgehend von dumpfen und leisen Geräuschen, zunehmend komplexe Dissonanzen schließlich bis zum Zwölfklang führen und, darüber hinaus expandierend, schließlich im komplex vielschichtigen Fortissimo-Geräusch enden; andererseits als Annäherung an Natur wie bei den komplex geschichteten Wirbeln von 4 Pauken, die in der "Sinfonie fantastique" von Hector Berlioz den grollenden Donner darstellen.

Die Emanzipation der klingenden Sprache

als Sonderfall der Emanzipation des Geräusches -

Musik und Sprache, Musik als Sprache

Im 20. Jahrhundert hat sich die avancierte Musik auch über ihre tradierten Grenzen hinaus entwickelt und geöffnet für weiter umfassende Regionen der Akustischen Kunst. Dies zeigt sich schon unter einem besonders sinnfälligen Aspekt der grenzüberschreitenden Bestimmung des Verhältnisses der Musik - bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Musik und Sprache. Dieses Verhältnis ist bedeutsam nicht nur für die Verbindung beider Bereiche (etwa in der Vokalmusik oder im Musiktheater). Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Musik im Strukturvergleich mit der Sprache - also unter dem Aspekt Musik als Sprache.

Schon aus der traditionellen Musiktheorie ist bekannt, daß das Material der Musik in seinen Ton- und Formstrukturen sich ähnlich beschreiben läßt wie das Material der Sprache in seinen Lautstrukturen und in seinen syntaktischen Bildungen: Töne gruppieren sich zu Motiven, Phrasen, Perioden und größeren musikalischen Formeinheiten in ähnlicher Weise wie Laute zu Silben, Wörtern, Sätzen und größeren syntaktischen Einheiten. Insofern kommt dem Aspekt der sprachlich strukturierten Musik große Bedeutung zu - wahrscheinlich nach wie vor größere Bedeutung als dem komplementären Aspekt musikalisch strukturierter Sprache. Besonders sinnfällt wird dies in Musik, die in ihren Strukturen literarischen Vorlagen folgt - sei es in symphonischen Dichtungen von Franz Liszt nach Dante, Shakespeare, Schiller, Lamartine oder Victor Hugo; sei es in instrumentaler oder vokal-instrumentaler Musik von Pierre Boulez zu Texten von René Char oder Stéphane Mallarmé.

Viele Musik folgt sprachlichen oder quasi-sprachlichen Strukturgesetzen selbst dann, wenn sie darauf verzichtet, sprachlich Mitteilbares darstellen oder untermalen zu wollen. Dies kann so weit gehen, daß die innermusikalischen Baugesetze beeinflußt oder sogar ausdrücklich abgeleitet sind von älteren oder neueren sprachwissenschaftlichen Theorien, von den Besonderheiten einzelner Sprachen (etwa des Tschechischen bei Leos Janacek oder neuerdings des Chinesischen bei Shirai Zhu) oder von bestimmten literarischen jujets oder Vorlagen (bis hin zu Produktionen des Hörspiels und der Akustischen Kunst, in denen sich etwa John Cage von James Joyce inspierieren ließ, Pierre Henry von Antonin Artaud, Victor Hugo oder Marcel Proust). Die Musik kann in solchen Fällen die literarische Vorlage vollständig oder weitgehend unverändert lassen und diese als Vorgegebenes zu interpretieren versuchen. Möglich ist aber auch, daß die Musik eine literarische Vorlage ihren spezifischen Besonderheiten anverwandelt und sie so auch in ihrer inneren Substanz verändert, so wie beispielsweise in verschiedenen Proudktionen von Sabine Schäfer Laut- und Sprachaufnahmen gleichwertig neben Geräuschen und synthetischen Klängen erscheinen.

Neue Entwicklungen können sich ergeben einerseits aus der Musikalisierung der Sprache, andererseits aus der Versprachlichung der Musik.

Die Entwicklung der Musikalisierung der Sprache läßt sich verfolgen von einfachsten Formen des Sprechgesanges und gesungener Texte über gregorianische Melismen und verschiedene Epochen der vokalen und vokal-instrumentalen Mehrstimmigkeit bis hin zu den musikalisierten Lautstrukturen von Kurt Schwitters (vor allem in seiner "Sonate in Urlauten") sowie später in der poésie sonore und in der sound poetry - im Zuge einer Entwicklung, die in wichtigen Phasen charakterisiert ist von einer zunehmenden Akzentverlagerung vom Text zur klingenden Sprache, von der schriftlichen Vorlage zur klanglichen Realisation. - Andererseits haben sich wichtige Innovationen auch gleichsam auf einem gegenläufigen Wege ergeben - auf dem Wege einer Versprachlichung der Musik. In verschiedenen Epochen der Musikgeschichte finden sich Beispiele für Innovationen des Rhythmus, der Melodieführung, der Harmonisierung und der klanglichen Ausgestaltung, die sich aus sprachlichen bzw. literarischen Anregungen erklären lassen - aus dem Bemühen um differenzierte Text-Deklamation, um plausible Text-Gliederung und um die plastische Darstellung oder Untermalung von Textinhalten. In der abendländischen Musikgeschichte vollzog sich dies über viele Jahrhunderte hinweg meistens im konventionellen Rahmen einer Text-Vertonung, d. h. der Einbettung einer literarischen Vorlage in komplexe vokale oder vokal-instrumentale Tonstrukturen. Frühe Beispiele einer Musik, in der die Musiker nicht nur ihre Tonstrukturen, sondern auch ihre Lautstrukturen selbst erfinden, sind selten. Zu den vereinzelten Ausnahme in älterer Musik zählen beispieleweise Lautstrukturen in Renaissance-Madrigalen, die als Tonmalerei von Vogelgesang oder von Geräuschen einer Schlacht konzipiert sind. In der neueren Kunstmusik gibt es historisch folgenreiche emanzipierte, von vorgegebenen literarischen Vorlagen und Sinnzusammenhängen losgelöste Lautstrukturen erst bei Hector Berlioz (in der prä-surrealistischen Phantasiesprache einiger Passagen seiner "Damnation de Faust") und bei Richard Wagner (etwa im stabreimenden Lautgesang der Rheintöchter). Die weitere Entwicklung führte im 20. Jahrhundert über die musikalische Emanzipation des Melodrams (im Sprachgesang bei Schönberg und Berg; später, in historisch reflektierter Aktualisierung, in Gerhard Rühms "Wintermärchen") bis zur Laut und Klang verschmelzenden Akustischen Kunst.

Die Musikalisierung der Sprache und die Versprachlichung der Musik können sich artikulieren sei es in bewußter Einseitigkeit oder Konfrontation, sei es in wechselseitiger Ergänzung; sei es pseudo-naturalistisch, sei es in bewußter Stilisierung. In extremen Fällen kann es zu Mischtechniken kommen, etwa zur musikalischen Komposition klingender Sprache oder zu Versuchen der literarischen Fixierung von eigentlich in dieser Weise nicht fixierbaren Geräuschen, Klängen oder musikalischen Strukturen. Komplexe Mischformen ergeben sich beispielsweise bei musikalisch notierten, in Rhythmen und Tonhöhen fixierten Sprechstimmen-Partien Schönbergs und Bergs oder später in Produktionen von Pierre Henry, in denen Stimmaufnahmen mit Francois Dufrene, die ihrererseits bereits als autonome Akustische Kunst angesehen werden können, wiederum zu Ausgangsmaterialien von Akustischer Kunst zweiten Grades werden, indem sie durch Schnitt, Montage, Mischung und eventuelle auch weitere klangliche Verarbeitung integriert werden in komplexere klangliche Zusammenhänge.

Wichtige übergeordnete Aspekte der gleichberechtigten Einbeziehung von Stimm- und Sprachlauten in moderne Hörkunst sind einerseits die Emanzipation des Geräusches (die meisten Stimm- und Sprachlaute sind Geräusche), andererseits die Intensivierung der Verbindung des Klanglichen mit nonverbaler und verbaler Kommunikation.

Sowohl in der Musik als auch in der Literatur haben sich Prozesse der Loslösung von im voraus fixierten schriftlichen Vorlagen ergeben. Klänge, die zum Sprechen gebracht werden, präsentieren sich in neuartigen Affinitäten zu Stimmlauten und klingender Sprache.

Die modernen Möglichkeiten der technisch vermittleten Konservierung, Übertragung und Verarbeitung von Klängen gelten für die Dimensionen der vorgefundenen Musik, der Sprache und des kontextgebundenen Geräusches in gleicher Weise. Man kann dem Rechnung tragen, indem man entweder - wie Pierre Henry in seinem Hörspiel "Journal de mes sons" - von Musik im weiteren Sinne spricht oder indem man es, etwa im Sinne von Edgard Varèse oder John Cage, anheimstellt, für neuartige Entwicklungen auch neue, tradierte ästhetische Grenzen überschreitende Begriffe zu finden wie etwa organized sound, integrative Klangkunst oder Akustische Kunst. Solche Begriffe können verdeutlichen, daß es nicht nur auf neue Material- und Formkonstellationen ankommt, sondern auch auf neue Bedingungen der Präsentation, der Verbreitung und der Kommunikation.

Das Radio

als Medium der technischen Übermittlung von Hörereignissen

Die Frage könnte sich stellen, ob und inwieweit die Akustische Kunst an die Produktions-, Kommunikations- und Verbreitungsmöglichkeiten des Radios gebunden ist:

- an ein verstreute Publikum; an Adressaten, die das Hören nicht selten (in mehr oder weniger weitgehender individueller Vereinzelung) als Sekundärtätigkeit praktizieren;

- an die Verbreitung zu einer festen Sendezeit innerhalb einer vorgegebenen Programmstruktur;

- an rundfunkspezifische Produktionsbedingungen.

Die Besonderheiten der radiophonen Musikwiedergabe im Verhältnis der Musikwiedergabe über Tonträger sind seit den Anfängen des Radios in ständiger Veränderung - eben so wie die Beziehungen der rein akustischen Übermittlung unsichtbarer Lautsprecherklänge zu multimedialen, insbesondere zu audiovisuellen Präsentationsmöglichkeiten. Die klangliche Vorproduktion von radiophonen Klängen kann die spezifisch radiophonen Möglichkeiten der live-Übermittlung von Hörereignissen an ein verstreutes Massenpulbikum nicht weniger einschneidend modifizieren als veränderte technische Möglichkeiten der Rezeption, nach denen Hörer nicht mehr an eine feste Sendezeit gebunden sein müssen, sondern Sendungen vorprogrammiert aufnehmen und das Aufgenommene dann beliebig oft bei späteren Gelegenheiten abhören können - wie andere Klangkonserven auch. Die Frage, ob im Radio gesendete Klänge anders strukturiert sein könnten oder sollten als Klänge, die auf Tonträgern vertriebn werden - diese Frage wird nur selten gestellt; möglicherweise wird sie früher oder später nicht zuletzt von der technischen Entwicklung überholt. Dies ergibt sich aus den grundsätzlcih vorhandenen Möglichkeiten der technisch vermittelten Produktion und Verbreitung von Klängen. Das ändert allerdings wenig daran, daß unter konkreten Bedingungen der gegenwärtigen Medienpraxis dem Radio gerade heute eine wesentliche Funktion zukommen kann, beispielsweise in einer Institution wie dem Kölner Studio für Akustische Kunst, das wesentliche Impulse für moderne Medienpraxis und für wichtige neue Produktionen gegeben hat.

Akustische Kunst

als integrative Hörkunst des technischen Zeitalters

Akustische Kunst entwickelt sich aus neuen Möglichkeiten der Emanzipation des Klangmaterials in unterschiedlichen Klangtypen und Klangeigenschaften sowie in neuen Möglichkeiten der Integration verschiedener Bereiche der Musik, der Sprache und des Geräusches - als mediale universelle Klangkunst. Sie ermöglicht:

- in der Musik

die Befreiung des Klanglichen von tradierten Mustern musikalischer Ordnungen

des Rhythmus, der Melodie und der Harmonie sowie des Klanglichen

(bei der differenzierten Verwendung von Instrumenten und instrumentalen Spieltechniken sowie von Sprech- und Singstimmen jeweils in einem breiten Sprektrum unterschiedlicher Möglichkeiten

von der dokukmentarischen bis zur technisch verarbeiteten Aufnahme) -

in einer Radikalisierung traditioneller Konzeptionen der Konzeptionen der absolution Musik,

quasi als Musikalisierung der Musik -

in der Überwindung tradierter Abgrenzungen zwischen Musik, Sprache und Geräusche

und insofern auch in neuartigen Möglichkeiten einer Semantisierung der Musik.

- Im Bereich der Sprache vollzog sich eine Emanzipation der klingenden Sprache

von schriftlich fixierbaren sprachlichen Strukturen -

sei es als musikalisch-klangstrukturelle Entsprachlichung

sei es, in der Integration verbaler und nonverbaler Kommunikation,

als klangexpressive Entsprachlichung

(z. B. durch die Freisetzung von Atem und Schrei

in Produktionen von Francois Dufrène und Pierre Henry).

- Im Bereich der Geräusche haben sich neue integrative Möglichkeiten ergeben, die das Geräusch nicht nur im physikalischen Sinne betreffen, sondern auch im Sinne der traditionellen Hörspieldramaturgie (als Hörereignis, das auf einen realen Vorgang verweist).

Auch in diesem Zusammenhang erscheinen gegenläufige Tendenzen einerseits der Musikalisierung, andererseits der Semantisierung des Geräusches in seinen unterschiedlichen Bedeutungsfeldern.

Noch weiter führen verschiedene Möglichkeiten der materialen Integration -

der Verbindung der Bereiche von Musik, Sprache und Geräusch in unterschiedlichen Konstellationen,

zum Beispiel bei der Verbindung von Musik und Sprache

als Versprachlichung der Musik oder als Musikalisierung der Sprache.

in wechselseitigen Anpassungen des einen der beiden Bereiche an den anderen:

-- bei der Verbindung von Musik und Geräusch

als musikalische Integration

(in der Verbindung der Musik mit Geräuschen im physikalischen Sinne)

oder als semantische Integration

(in der Verbindung der Musik mit Geräuschen im Sinne der traditionellen Hörspiel-Dramaturgie -

beispielsweise in der Verbindung von Klaviermusik mit Verkehrsgeräuschen,

wie sie Gerhard Rühm präsentiert in seinem Hörstück "Kleine Weltgeschichte der Zivilisation");

-- bei der Verbindung der Bereiche Sprache und Geräusch

etwa als Musikaliseriung der Sprachlaute

(d. h. ihre Behandlung im Sinne des physikalischen Geräusches

unter dem Aspekt Sprache als (physikalisches) Geräusch)

oder umgekehrt in sprachähnlichen Verwendungen von Geräuschen

(etwa bei Pierre Henry mit Geräuschen einer quietschenden Tür als Ausdruck unterschiedlicher menschlicher Aktivitäten, Erfindungen und Erfahrungen -

die Türgeräusche als Mikrokosmos der Hörwelt unter dem Aspekt Geräusch(e) als Sprache).

Die Integration von Sprache, Musik und Geräusch in der Akustischen Kunst verbindet sich mit Tendenzen der Öffnung für Tendenzen der medienspezifischen Weltkünste - in Versuchen der Aufarbeitung komplexer Hörerfahrung und Gesamterfahrung.

[Zurück]   [Vor]   [Hoch]   [Startseite]        [Index]   [Frisius-Homepage]