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2.8 SCHÖVAHE.DOC


Herrn Klaus Schöning Westdeutscher Rundfunk Studio Akustische Kunst Appellhofplatz 1 50 667 Köln Telefon 0221 - 220 31 69 Fax 0221 - 220 57 45 Telefon (49) 0721 - 81 33 03 Telefax (49) 0721 - 81 60 50 Karlsruhe, den 20. 11. 97

Lieber Klaus,

herzlichen Dank für Deinen vorgestrigen Anruf. Wie besprochen, melde ich mich anschließend auf diesem Wege.

Es würde mich sehr freuen, wenn wir mit dem neuen vorgeschlagenen Varèse-Projekt (55 Minuten für das Studio Akustische Kunst) wieder etwas realisieren könnten, das - anders als bloße Worte wie bei meinem letzten Beitrag - die Möglichkeiten der radiophonen Präsentation Akustischer Kunst möglichst weitgehend und reichhaltig einbezieht. Einige erste Ideen anbei:

Die Emanzipation der Akustischen Kunst im 20. Jahrhundert hat sich auf verschiednen Wegen entwickelt - vor allem als Emanzipation der Geräusche und als Emanzipation von Stimme und klingender Sprache. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die Hörerfahrung grundlegend verändert, und einer der wichtigsten Pioniere dieser Veränderung ist Edgard Varèse. Er hat als Komponist das musikalische Denken revolutioniert mit der Loslösung von traditionellen Tonordnungen und Rhythmen, mit der Ablösung des traditionellen Orchesterklanges durch Sirenen, massive Schlagzeugformationen und neue elektrische Musikinstrumente, schließlich mit bahnbrechenden elektroakustischen und multimedialen Produktionen. Seine Klangkunst löst sich von den sprachähnlichen Ordnungen der traditionellen Musik und stellt sich der chaotischen Vielfalt der realen modernen Hörwelt. Seine Vorstellungswelt spiegelt sich auch in Werken, die das Verhältnis der Musik zu Stimme und Sprache neu bestimmen einerseits in transgrammatischer Musik, andererseits in nonverbaler Expression.

Das Henry-Projekt (für die Darmstädter Tagung Frühjahr 1998 des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, zur der wir Dich ja schon einmal eingeladen haben mit anschließender Publikation Deines Beitrages) wäre m. E. eine Möglichkeit, diesen Künstler endlich einmal in Deutschland in dem Rang zu präsentieren, der ihm meiner Ansicht nach zukommt - nämlich in einem hochkarätigen Programm, in dem z. B. auch Dieter Schnebel, Mauricio Kagel, Karlheinz Stockhausen und hespos (mit einer Uraufführung) vertreten sein werden. Im Abschlußkonzert, am 7. 4. um 22. 15 Justus-Liebig-Haus, würde ich gern Pierre Henry als Hauptkomponisten einbeziehen. Dies wäre möglich einerseits durch ältere rituelle Musik von ihm, andererseits - was mir im aktuelleren Kontext gegenüber Schnebel, Kagel, Stockhausen und hespos als weitaus bessere Lösung erschiene - durch Zusammenarbeit mit dem Studio Akustische Kunst, indem dieses - ähnlich wie zuvor im Falle Futuristie - eine Produktion in Auftrag gibt, die eine Adaption des Kapitels LES RITES aus dem 12-Abende-Riesenprojekt PARCOURS-COSMOGONIE oder aus dessen verkürzter Ballettfassung INSTANTANÈ - SIMULTANÉ darstellt. Ich habe, als ich für Dich die erste Henry-Sendung vorbereitete (Studio Apsome), mit Pierre Henry zusammen in vielen Stunden den gesamten 12teiligen Zyklus durchgehört, der m. W. bisher nur einmal in Paris aufgeführt worden ist. Eine in Kooperation mit dem WDR realisierte Mischung des Kapitels LES RITES, das ja genau dem Darmstädter Thema "Musik und Ritual" entspricht, wäre m. E. als abschließender Höhepunkt der Konzertprogramme dieser Tagung ideal. Siehst Du eine Möglichkeit, ein solches Projekt mit Henry zu realisieren, so daß wir es in Darmstadt als Uraufführung der neu zu erstellenden Mischungsversion präsentierten könnten (was natürlich ggf. vorher eine Sendung im Studio Akustische Kunst nicht ausschließt)?

Ich habe von diesem Stück klanglich jetzt nur noch einzelne Reste in technisch nicht optimaler Qualität. Was ich Dir zusenden kann, muß also technisch-klanglich auf Pierre-Henry-Niveau hochgerechnet werden - aber er selbst kann Dir sicherlich die 19erkopie zur Verfügung stellen, die er seinerzeit von INSTANTANÉ-SIMULTANÉ für die Einübung der Ballett-Tänzer gemacht hat. Wie ich ihn kenne, würde er für einen Aufführungsanlaß dieses Kapitel sicherlich noch einmal ummontieren wollen - obwohl ich auch die ältere Fassung schon für interessant genug halte. Jedenfalls könnte Henry, wenn er wollte, das Ganze ohne großen Arbeitsaufwand bewältigen, da ja diese Produktion schon vorliegt und wirklich auf einen zentralen Aspekt seines Schaffens verweist. - Näheres zu diesem Riesenprojekt steht in dem Chion-Buch und in meinem Melos-Aufsatz über Henry, den Du ja sicherlich hast.

Könntest Du vielleicht am 29. 11. zur Henry-Aufführung nach Paris kommen und bei dieser Gelegenheit mit ihm darüber sprechen? Ich werde auch, wenn irgend zeitlich möglich, kommen und würde auch gern nach vielen Jahren einmal wieder mit ihm Kontakt haben - aber nach meinen Erfahrungen in Donaueschingen, wo er kaum ansprechbar war, bin ich einigermaßen pessimistisch, ob er wirklich weiß, was ich für seine Musik bisher getan habe (kürzlich z. B. in einem sehr aufregenden Referat über Cage und Henry in Tutzing) und wie wichtig für meine Arbeit und vielleicht auch für ein breiteres Verständnis seiner Musik ein intensiverer persönlicher Arbeitskontakt mit mir sein könnte.

Zum Schluß noch ein verzweifelter Notruf: Da ich seit vielen Jahren keine grundlegende, das Repertoire breit ausschöpfende Sendung für das Studio Akustische Kunst gemacht habe, bin ich mit meinem MGG-Artikel über Hörspiel/Radiokunst in einer schier ausweglosen Situation. Ich hatte, als ich den MGG-Artikel auf Deinen Vorschlag übernahme, die (vielleicht etwas naive) Vorstellung, die Informationsbasis für diesen Artikel sei auch durch die Zusammenarbeit zwischen uns gesichert. Leider aber habe ich seitdem keinerlei Gelegenheit zu einer größeren, thematisch zusammenfassenden Arbeit für das Studio Akustische Kunst gehabt, bei deren Ausarbeitung ich an das notwendige Informationsmaterial für den MGG-Artikel hätte herankommen können.Das hatte ich nicht vorausgesehen - und wenn ich es vorausgesehen hätte, hätte ich den Artikel nie übernommen. Ich weiß jetzt wirklich nicht, was ich tun soll.

Ich würde nie einen Musik-Artikel schreiben, bei dessen endgültiger Formulierung ich nicht von einem Berg von CDs umgeben wäre - aber für Hörspiel und Akustische Kunst habe ich wirklich nichts außer minmal wenigen alten LPs und neuen CDs und Trümmern früherer Radioarbeiten - meine Vorschläge, aus meinem großen Basissendungen nebst Aktualisierungen eine materialintensive CD-Dokumentation zu entwickeln, auf die künftig jeder Wissenschaftler bei solchen Arbeiten zurückgreifen könnte (ähnlich wie auf die CDs zur Akustischen Kunst Pierre Schaeffers) haben ja leider kein Interesse gefunden. Ich weiß aber nun wirklich nicht, wie ich diese Arbeit auf meinem Anspruchsniveau zu Ende bringen soll, wenn ich über wichtige Stücke nur aus der Erinnerung schreiben muß, ohne sie zur Kontrolle nochmals im Zusammenhang gehört zu haben. Seit 1985 habe ich deswegen, von Spezialarbeiten abgesehen (Henry, Cage, Sabine Schäfer) fast keinen Schritt mehr voran wagen können geschweige denn Bisheriges nochmals kritisch überprüfen. Wäre es nicht möglich, daß ich wenigstens für ein paar Wochen zumindest einige wenige Schlüsselproduktionen Deines Studios auf Kassette ausgeliehen bekommen könnte? Eine ähnliche Anfrage bei Herrn Naber auf den Donaueschinger Musiktagen (betr. Scuka-Preis-Stücke) wurde prinzipiell positiv beschieden, aber ich habe bis heute keine einzige Kassette erhalten. Betr. Deiner Arbeit lebe ich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wirklich fast ausschließlich von Ausschnittssammlungen. Ich habe nicht einmal alle Aufnahmen zu den Stücken Deiner ersten Hörspiel-Anthologie, geschweige denn spätere Stücke (oder gar zusammenhängende Aufnahmen aus der Frühzeit des Hörspiels wie Kesser Straßenmann oder Kasack Der Ruf). Gibt es nicht wenigstens einige derzeit entbehrliche Kassettenkopien? Das wäre für mich eine große Hilfe. Ich möchte wirklich gern für eine Enzyklopädie, die maßgeblich für die nächsten Jahrzehnte sein wird, mehr beitragen als etwa in meinem letzten Radio-Wortbeitrag vorkommt. Kannst Du mir dabei helfen?

Herzliche Grüße

von Deinem
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