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7.10.3 BRUCK3.DOC


Bruckner (3)

Z: Brahms-Schönberg, letzter Satz Anfang oder ab 1/16-Passage

Anton Bruckner und Johannes Brahms haben, jeder auf seine Weise, Geschichte gemacht. Im Falle von Johannes Brahms läßt sich dies an verschiedenen Bearbeitungen erkennen, die von berühmten Komponisten des 20. Jahrhunderts stammen: Dieser Komponist lebt weiter in späteren Arbeiten, die seine Musik produktiv verändern - beispielsweise in der Orchesterfassung, die Arnold Schönberg zum Klavierquartett g-moll schrieb.

Z: Brahms Klavierquartett g-moll original - Orchesterfassung Schönberg (Zusammenschnitt)

Auch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Johannes Brahms prominente Bearbeiter gefunden. Beispielsweise hat Luciano Berio die f-moll-Sonate für Klarinette und Klavier arrangiert für Klarinette und Orchester.

Z: Zusammenschnitt: a) Brahms, Sonate f, op. 120 Nr. 1 für Klarinette und Klavier

b) Berio, Orchestration von Brahms, op. 120 Nr. 1

(Hans Werner Henze hat in seiner Komposition "Tristan" die erste Symphonie von Johannes Brahms zitiert und damit eine musikalische Gegenwelt geschaffen zur Welt Tristans aus der Perspektive des Mittelalters oder aus der Perspektive Wagners. Brahms wird in dieser Musik zur profilierten Figur in einer Zitaten-Collage, die Henze in seine Musik einflicht.

Z: Henze Tristan mit Zitat Brahms, 1. Symphonie)

Eine besonders komplexe und hintersinnige Brahms-Bearbeitung stammt von Mauricio Kagel. Er hat eine Orchesterkomposition über die Händel-Variationen op. 24 geschrieben. Auf die etwas konventionelle Schlußfuge, mit der Brahms diesen Variationszyklus beschließt, hat Kagel verzichtet. Darauf spielt sein pointierter Titel an: Kagel bearbeitet nicht "Variationen und Fuge", die Brahms über das Thema Händels schrieb, sondern in seinem Titel schreibt er ausdrücklich: "Variationen ohne Fuge". - Kagels Orchesterwerk beleuchtet verschiedene Facetten in dem originellen Variationenwerk, das sogar Wagner geschätzt hat. Besonders interessierte er sich für kühne chromatische Wendungen, die er in seiner Bearbeitung noch kunstvoll vervielfacht.

Z: Kagel: Variationen ohne Fuge

Der Einfluß von Brahms auf profilierte Komponisten des 20. Jahrhunderts zeigt sich nicht nur in Bearbeitungen, sondern auch in originalen Kompositionen. Ein Spätwerk beispielsweise wie das e-moll-Intermezzo aus opus 116 mit seinen filigranen Zweitonmotiven weist den Weg zur Zwölftonmusik Schönbergs und Weberns.

Z: Zusammenschnitt a) Intermezzo e, op. 116 Nr. 5, Gilels 3´00

b) Schönberg op. 33 b, Takahashi,

evtl. Pollini o. a. Aufnahme - Kraus? -

hist. z. B. Steuermann? Gould?

c) Webern op. 27 I, Takahaszi, evtl. Rosen o. a. Aufnahme

(ggf. Anfänge - u. U. vollständige Stücke)

Während das Nachwirken der Musik von Brahms in der Musik des 20. Jahrhunderts an vielen Hörbeispielen leicht nachvollzogen werden kann, ist es sehr viel schwieriger, Vergleichbares an Werken Anton Bruckners zu belegen: Bruckner ist kein Komponist, der sich für Bearbeitungen anbietet. Seine sinfonische Musik kann allenfalls behelfsweise auf dem Klavier dargestellt werden, geschweige denn auf der Orgel. Komponisten späterer Generationen reizte er weniger zur direkten Auseinandersetzung als beispielsweise Beethoven, Schubert oder Wagner. Um so auffälliger war es, daß einer der profiliertesten Komponisten unseres Jahrhunderts gleichsam unfreiwillig in die Nähe Anton Bruckners geraten ist - nämlich Karlheinz Stockhausen. In seiner 1958 uraufgeführten Komposition "Gruppen für drei Orchester" finden sich mächtige Steigerungswirkungen mit monumentalen Blechbläser-Akkorden - Passagen, die Stockhausens Kollege György Ligeti damals, womöglich mit etwas kritischem Unterton, mit sinfonischen Steigerungen Bruckners verglich.

Z: Stockhausen: Gruppen - Blechbläsersteigerung.

SWF-Aufnahme (z. B. DS 1958, oder besser - Stereo - Straßburg Gielen - Tamayo - Mercier)

14´08 Posauneneinsatz e-cis-c1 - 15´45 Anf. Schwellakkorde - 16´01 letzter Akk. (Anf. Klav.)

Stockhausen realisiert seine Steigerungen mit Gestaltungsmitteln, wie sie - natürlich in einer ganz anderen Tonsprach - auch schon Anton Bruckner verwendet hat: Die Musik wird schneller, sie geht zu immer höheren Tönen über und gewinnt durch Einsätze stets neuer Instrumente eine unablässig wachsende Klangdichte. Solche Steigerungsmöglichkeiten finden sich auch in der Musik Anton Bruckners - beispielsweise zu Beginn des Schlußsatzes seiner 4. Symphonie.

Z: IV 4 Steigerung Jochum (bis 1. Unisonoton es3 oder Schluß 2. Unisonophrase auf b2)

Auch in späterer Zeit, vor allem seit den siebziger Jahren, haben sich in Stockhausens Musik - wohlgemerkt ohne bewußte Beeinflussung - Affinitäten zur Musiksprache Bruckners entwickelt. Klangliche Ähnlichkeiten kann man beispielsweise in der relativ kurzen Orchesterkomposition JUBILÄUM finden, die - wohl nicht eine Grund - einmal zusammen mit der siebten Symphonie Bruckners aufgeführt worden ist.

evtl. Stockhausen: Jubiläum

Klangliche Affinitäten zur Musik Bruckners findet man auch in einem großen Orchestwerk, das 1974 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt worden ist: INORI. An zentraler Stelle des Stückes erscheint die Melodie, aus der das gesamte Stück entwickelt ist, in voller Harmonisierung - in einem üppigen, auch an spätromantische Vorbilder erinnernden Orchestersatz.

INORI Ausschnitt Harmonie (NoKo), möglichst SWF-Band, z. B. von Uraufführung 1974

Bruckner und Brahms unterscheiden sich nicht nur in ihrer Wirkung auf spätere Komponisten, sondern auch in der eigenen Tonsprache radikal voneinander. Um dies zu erkennen, kann man versuchen, Melodien der beiden Komponisten miteinander zu vergleichen, die klar aufgebaut, aus wenigen Motiven.

Z: Bruckner VIII 1 Anfang Thema - Wiederholung (ausblenden nach Anfang SS, 1. Zäsur)

Anton Bruckners 8. Symphonie beginnt mit einem Motiv aus 2 Tönen.

Z: VIII 1, 1. Motiv

Das Motiv wird weiterentwickelt: Es wandert in höhere, hält inne auf einer kurzen Dreitonwendung.

Z: VIII 1, Anfang: 3 Zweitonmotive, immer höher; chrom. absteigendes 3tonmotiv; Zäsur

Im Folgenden wandert das Motiv in höhere Lagen und verwandelt seinen Rhythmus, so daß die Musik sich ganz allmählich vom Hauptthema ins Gesangsthema verwandelt. Die beiden Themen erscheinen hier also nicht abgetrennt, sondern integriert in einen Formprozeß, der sie miteinander verbindet.

Z: VIII 1, Thema

Bruckner arbeitet selbst mit zwei Tönen so, daß sich sofort Prozesse ergeben: Aufstieg - Stockung - Fortsetzung mit rhyrhmischen Verwandlungen. Ein Zweitonmotiv wird so zur Keimzelle einer Steigerung.

Z: VIII 1, Thema und Wiederholung

Ganz anders geht Brahms mit 2 Tönen um. Zu Beginn seiner 4. Symphonie erscheinen die Töne und Intervalle nicht in ständiger Expansion, sondern im Wechsel unterschiedlicher Charaktere.

Z: Brahms IV 1 Anfang: Zweitonmotive (bis Ganzschl. auf e, vor Tonl.motiven abwärts)

Die Tonsprachen von Brahms und Bruckner sind vollkommen unterschiedlich: Aus kleinsten, klar umrissenen Motiven entwickelnd (Brahms) - in großräumigen formalen Kontrasten und Prozessen (Bruckner). Ihre Unterschiede zeigen sich genauer im detaillierten Vergleich einzelner Sätze.

Z: V 1a - 1b Inbal HS 0´´ - vor 4´09 aufhören vor Pizz-Anfang SS

Anton Bruckners 5. Symphonie beginnt als Musik der jähen Kontraste. Das zeigt sich nicht nur in der Einleitung, sondern auch in dem darauf folgenden Hauptthema. Beide Formteile, die Einleitung und das Hauptthema, beginnen verhalten - leise und mit wenigen Instrumenten; später setzen sie sich im vollen und kräftigen Tuttiklang fort.

Zunächst hört man schattenhaft leise Pizzicatotöne der Bässe; nach und nach kommen Bratschen und die beiden Violinen hinzu: leise, ruhig und kantabel in tiefer Lage.

Z: V 1: Einleitung: leise Pizzicatopassagge 0´´ bis vor 55´´ Tutti-Einsatz Ges-Dur

Nach einer Pause ändert sich das Klangbild vollständig: Im vollen Tuttiklang setzt eine Unisono-Melodie ein, die, in markanten Intervallsprüngen, in die Höhe schießt.

Z: V 1: 1. Tutti-Unisono Inbal 55´´ bis vor 1´08

( Sprünge: aufhören vor Fortführung durch Blech allein mit Schritten

Dem mächtigen Unisono des ganzen Orchesters antwortet ein voller akkordischer Satz der Blechbläser.

Z: V 1: Blechbläser 1. akkordischer Einsatz 1´08 - vor 1´24 (Einsatz 2. Tutti-Unisono)

Der Tutti-Akzent und der choralartige Blechbläserabschnitt folgen in zweimaligem Wechsel aufeinander. So entsteht ein längerer, klar gegliederter, machtvoller und farblich strahlender Formteil, der als Ganzes einen Kontrast bildet zum leisen, dunklen, ruhig strömenden Beginn dieser sinfonischen Einleitung.

Z: V 1: (ab Anfang oder) ab 1. Tuttieinsatz bis vor Beginn Steigerung

(0´´) 55´´ - 2´12

Dem leisen Beginn und der kräftigen Fortsetzung folgt ein dritter Teil, der leise in den Streichern beginnt und sich bis in den vollen Tuttiklang hineinsteigert. Das Tutti, das vorher dem Leisen, Ruhigen in jähem Kontrast gegenübergestellt war, wächst jetzt allmählich leisen Anfängen heraus. So ergibt sich ein prägnanter Abschluß dieser dreiteiligen Einleitung.

Z: V 1: Einleitung 3. Teil (Schlußsteigerung)

1´52 bis vor 2´42 (Überwechseln des pp-Vl-Tremolos von a2 auf d2)

Die Einleitung mündet im vollen Tutti, auf dem sie ausklingt. Danach setzt das Hauptthema ein - ähnlich leise wie zuvor die Einleitung. Die Entwicklung steigert sich, bis schließlich, bei der Wiederholung des Themas, der volle Tuttiklang erreicht ist.

Z: V 1: Hauptsatz Thema und Wiederholung

(2´42 Tremolo d2) 2´45 bis vor 4´10 (Pizz SS)

Die jähen Kontraste, mit denen das Stück begann, gewinnen neue Bedeutung im größeren Formzusammenhang: Immer wieder entstehen neue Formprozesse, in denen leiser Streicherklang und kräftiger Tuttikklang aufeinander bezogen sind - zunächst im blockhaften Kontrast, später in Prozessen der allmählichen Verwandlung. So entstehen größere Formprozesse, die auch die schroffsten Detail-Gegensätze überbrücken. In den dynamischen Profilen der großen Formteile zeigen sich Zusammenhänge selbst dann, wenn ihre Themen nicht sinnfällig miteinander verwandt ist. Das zeigt sich auch im weiteren Verlauf, wenn erstmals wieder ein durchgängig leiser Abschnitt erscheint - beginnend mit choralartigen Pizzicato-Akkorden.

Z: V 1: SS Einl. Pizz-Akkorde 4´08 - vor 4´29

(aufhören vor neuem Abschnitt mit Pizz-Akkorden als Begl. von Arco-Kantilene)

Blockhaft Leise - blockhaft Lautes - Leises und Lautes im plötzlichen Wechsel oder in der allmählichen Verwandlung: Diese verschiedenen dynamischen Profile prägen den gesamten Sinfoniesatz. Im ersten Teil, der die Einleitung und die verschiedenen Hauptthemen vorstellt, stehen die Wechsel und Verwandlungen vom Leisen ins Laute im Vordergrund. Im zweiten Teil wird zuvor Gehörtes in wechselnden Konstellationen in einer Durchführung zusammengebracht, verarbeitet und schließlich zurückgeführt zur Reprise der Hauptthemen. Dabei kommen auch andere Spannungsverläufe ins Spiel: Man hört nicht nur mehrfache Wechsel zwischen Lautem und Leisem, Steigerungen und markante Höhepunkte, sondern schließlich auch jähe Wechsel, bei denen extrem Lautes in schattenhaft Leises umschlägt. Die Form entwickelt sich aus dem Spiel der Verwandlungen und Gegensätze.

Z: V 1: Durchführung und Reprise Anf. (bis SS Anf - vor Horneinsatz)

9´45 - vor 15´20 (oder vor 17´02 Anfang SchlS)

Bruckners 5. Symphonie ist die einzige, die mit einem selbständigen Einleitungssatz beginnt. Die Einleitung und der folgende Hauptteil scheinen zunächst weitgehend unverbunden nebeneinander zu stehen. Erst später, im 2. Teil, werden Themen aus beiden Teilen in unmittelbaren Zusammenhang gebracht. Die Charaktere des leisen Pizzicato-Beginns und der markant gezackten Melodielinie, wie sie in der Einleitung aufgestellt wurden, kehren im Folgenden in vertauschter Reihenfolge wieder: Die Unisonomelodie der Einleitung wirkt wie eine Vorankündigung des späteren Hauptthemas; der leise Pizzicato-Beginn der Einleitung weist voraus auf den späteren Pizzicato-Choral.

Z: Zusammenschnitte:

a) 1. Tutti 55´´ - vor 1´08 (ohne Forts. Blech allein) /

Hauptthema 3´28 - vor (3´35) 4´12

b) Pizzicatobeginn: 0´´ - 23´´ (ausgeblendet am Ende des 3. Ostinatodurchgangs) /

Beginn Pizzicatochoral: Exposition SS Anf. 4´10 - vor 4´29 (Ende vor Eins. Kantilene)

Am Schluß des Stückes verbinden sich die verschiedenen Charaktere in der Überlagerung: Pizzicato-Bässe und das Hauptthema - später die gezackten Melodielinien des ersten Tutti-Ausbruches in der Einleitung und wiederum des Hauptthemas. Die Hinführung der leisen Pizzicato-Töne zum vollen Tutti des Hauptthemas, wie sie bereits zu Beginn des Symphoniesatzes in der Einführung Gestalt annahm, kehrt jetzt abschließend in verarbeiteter und verwandelter Form wieder und mündet in einer strahlenden Apotheose.

Z: Coda 17´58 - 19´40 (Pizzicatotöne tief-hoch versetzt bis Schluß des Satzes)

Wenn man Bruckners Symphoniesatz im Zusammenhang hört, erkennt man die formbildenden Kräfte, die durch die Aufstellung und Entwicklung von Gegensätzen, durch die Formdynamik der Kontraste und Übergänge freigesetzt werden. Das klassische Sonatensatzdenken, das von Kontrasten ausgeht, zeigt sich hier im Verhältnis nicht nur zwischen Hauptthema und Gesangsthema, sondern auch zwischen der Einleitung und dem Folgenden. Die Einschmelzung des anfänglich Kontrastierenden in größere Formprozesse wird besonders deutlich, wenn man beachtet, wie sich unter ihrem Einfluß die Einleitung verändert: Anfangs erscheint sie als selbständige formale Einheit, ohne direkten thematischen Zusammenhang mit dem Folgenden; später, zum Beginn der Durchführung, gerät sie im mehrfachen Wechsel mit dem Hauptthema bereits in umfassendere thematische Zusammenhänger; noch deutlicher wird dies zum Beginn des Schlußteiles, der Coda, wenn Melodielinien der Einleitung und des Hauptthemas gleichzeitig zu hören sind, in der Überlagerung. - Der großangelegten Formprozeß des gesamten Satzes mündet schließlich darin, daß das Hauptthema sich endgültig durchsetzt.

Sie hören jetzt den vollständigen ersten Satz der 5. Symphonie von Anton Bruckner.

Es spielt (das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt unter der Leitung von Eliahu Inbal).

Z: V 1 vollständig Inbal (oder evtl. andere Aufn., z. B. Jochum) (Inbal 19´40)

Sie hörten den ersten Satz der 5. Symphonie von Anton Bruckner. Es spielte das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt unter der Leitung von Eliahu Inbal.

Der einzige Symphoniesatz Bruckners, der mit einer Einleitung beginnt, verbindet eine neuartige sinfonische Formdynamik mit der Orientierung an einem klassischen Formmodell: Bruckners Verbindung von Einleitung und Sonatenhauptsatz folgt in den architektonischen Umrissen genau dem Vorbild Beethovens. Beethovens "Grande Sonate pathétique", seine Klaviersonate in c-moll opus 13, beginnt mit einem Satz, dessen dramatische Formentwicklung aus dem mehrfachen Wechsel zwischen Einleitungsthema und Hauptthema entsteht. Das Einleitungsthema erscheint an wichtigen Stellen der Formentwicklung: Zu Beginn des Satzes - am Anfang des 2. Teiles, zu Begin der Durchführung - zur Eröffnung des Schlußteils, der Coda. Dies sind genau diejenigen zentralen Stellen der Sonatenhauptsatzform, an denen - Beethoven folgend - später auch Bruckner sein Einleitungsthema einsetzt. Schon in Beethovens Klaviersonate ist klar zu erkennen, daß der mehrfache Wechsel zwischen Einleitungsthema und Hauptthema das klassische Wiederholungsprinzip zu sprengen beginnt: Was wiederkehrt, erscheint nicht unverändert, sondern stark verwandelt im Sog des gesamten Formprozesses.

Zu Beginn des Satzes dominiert das Prinzip des Kontrastes (im vollgriffigen, akkordischen Klaviersatz): Ein lauter, akkordisch massiver Anfangsakzent - eine leise, aber rhythmisch und akkordisch prägnante Fortsetzung.

Z: Be Pathétique 1. Kontrast lauter Akkord - leise Akkordfolge

Gilels 0´´ - vor 14´´ (aufhören vor Neueinsatz in höherer Lage)

Dreimal nacheinander erscheint dieser markante Kontrast - in immer höherer Lagen; beim dritten Mal schließlich auch erweitert und weitergeführt bis zu einem markanten Höhepunkt, nach dem sich die Entwicklung beruhigt und verwandelt.

Z: Be Path Einleitung bis Es-Dur (schnelle Abblende ab 48´´ Es-Dur):

3 Wechsel laut-leise, immer höher - am Schluß Tonleiter-Überleitung nach Es-Dur

Im Wechsel der sich verschärfenden Kontraste entsteht eine dramatische Formentwicklung. Im weiteren Verlauf der Einleitung, einer gesteigerten Wiederholung des Themas, verbindet diese Entwicklung sich mit einer rhythmischen Belebung. So wird die gesamte Einleitung zum dramatischen Formprozeß, der weiterführt bis in das markante Hauptthema mit seinen raschen Pulsationen und seinen aufschießenden Melodielinien.

Z: Pathetique Einleitung - Anfang Hauptsatz bis G-Dur (Ende W), 0´´ - 2´01. Gilels

Später wendet sich die Musik zurück von raschen Läufen zur massiven akkordischen Verdichtung. Damit ist der Weg bereitet für eine - stark veränderte - Wiederkehr der Einleitung und für eine Durchführung, die schließlich Eingangsthema und Hauptthema zusammenbringt - in Verarbeitungen mit heftigen Kontrasten und Steigerungen. -

Z: Pathétique SchlS (Exp-Wiederholung) - Durchf - Reprise bis Ende SS

4´41 - nach 7´03 Reprise Anfang Seitensatz (abblenden ca. bis Anf. 5. Takt)

Nochmals verändert erscheint das Einleitungsthema am Schluß des Satzes: Der heftige Anfangsakzent fehlt jetzt; ein letzter Ansatz zur Steigerung bricht um und verlöscht, bis wieder das Hauptthema einsetzt in einer heftigen, dramatischen Schlußsteigerung.

Z: Be Path Schluß ab SchlS:

7´27 SchlS - 8´09 Einl. th. leise, cresc. und Rückgang - 8´55 - 9´06 Hauptth. Schlußsteig

Ein Modell wie der Kopfsatz der "Pathétique" von Beethoven war für Bruckner offenbar von Bedeutung, als er die formalen Umrisse des Kopfsatzes seiner 5. Symphonie konzipierte. Natürlich unterscheidet sich Bruckners Symphoniesatz in vielen Details der Ausführung von Beethovens Modell; gleichwohl läßt sich sagen, daß beide Sätze verwandten Formprinzipien folgen.

Bruckners Formgestaltung des Kopfsatzes seiner 5. Symphonie - die Verbindung einer langsamen Einleitung mit einem Satz im rascheren Tempo, der der Sonatenhauptsatzform folgt, - ist charakteristisch für sein klassisch geschultes musikalisches Formdenken. Gleichwohl ist offensichtlich, daß die Formdynamik seines Satzes weit über klassische Dimensionen hinauswächst. Wie vollkommen selbständig er in der Auseinandersetzung mit klassischen Formen war, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß andere Komponisten aus denselben klassischen Vorbildern ganz andere Konsequenzen zogen - etwa Johannes Brahms.

Auch Johannes Brahms hat sich intensiv dafür interessiert, eine sinfonische Einleitung engstens zu verschmelzen mit dem weiteren formalen Geschehen. Obwohl sich ihm dabei ganz ähnliche Probleme stellten wie Bruckner im Kopfsatz seiner 5. Symphonie, gelangte Brahms zu ganz anderen Lösungen. Dies zeigt sich schon in seiner ersten Symphonie - einem Werk, das sich in Form und Ausdruckscharakter offensichtlich mit Beethovens Vorbild auseinandersetzt.

Z: Brahms I Einleitung - Exposition bis SS Anfang

0´´ - 4´21 (1. Pause im SS)

Die erste Symphonie von Brahms beginnt im Tutti. Über markanten, rigoros monotonen Paukenschlägen (die von tiefen Streichern und Holzbläsern verstärkt werden) bilden sich chromatisch geschärfte Melodielinien: Eine im expressiven Schwung aufsteigende Hauptmelodie in den Violinen, eine ruhigere Gegenstimme in den Bläsern.

Z: Brahms I Einleitung bis 1. Tuttiakzent auf Dominante G

Szell 0´´ - 33´´

Nach einer markanten Zäsur ändert sich das Klangbild: Das Tutti mit dem durchgehenden Paukenrhythmus bricht ab. Die Musik setzt sich fort mit leisen, wie Klagelaute abwärts geführten Tönen der Holzbläser - gefärbt mit leise pochenden Pizzikati, die den Paukenrhythmen wie in einem Nachbeben fortsetzen; danach vereinigen sich Streicher und Bläser in leisen Seufzermotiven. Die Musik beruhigt sich: Der Paukenrhythmus ist nur noch im weichen Klang der Streicherbässe zu hören.

Z: Brahms I Einleitung: 1. Wechsel Holz Haltetöne mit Str pizz - Seufzermotive Str, H

Szell 33´´ - 49´´

Aus den Kontrasten des Anfangs entwickelt sich ein weiter ausgreifender, zusammenhängender Formprozeß: Der Wechsel zwischen den klagenden Tönen der Holzbläser und den Seufzermotiven kehr wieder; aus der Beruhigung wächst eine sich steigernde Melodielinie hervor, die auf ihrem Höhepunkt innehält und dann wieder absinkt.

Z: Brahms I Einleitung: 2. Wechsel Haltetöne mit pizz - Beruh.: Seufzer, cresc.-dim.

50´´ - 1´22

Auf dem tiefsten Ton der Violinen, im pianissimo, setzt eine neue, noch weiter ausgreifende Steigerung an. Sie führt zum mächtigsten Höhepunkt der Einleitung und sinkt abschießend wieder ins Pianissimo zurück.

Z: Brahms I Einleitung Schluß: Steigerung - Rückentwicklung, 1´22 - 2´25 (2. Pizz G)

Die gesamte Einleitung geprägt vom Wechsel zwischen Ausbruch und resignierender Rücknahme. Auch das Hauptthema selbst wird also nicht in einer Steigerung erreicht, sondern es beginnt nach einer Zäsur: Mit einem markanten Akzent - aufgewühlt und heftig - erst nach längerer Zeit sich beruhigend.

(evtl. Z: Brahms I 1: Anfang Rückleitung 1´52 Ob bis HS V bis vor 2´37 (Forts. Thema)

Die verlöschende Einleitung, der nach einer Zäsur das Hauptthema folgt, macht deutlich, daß Brahms hier nicht nur dem Vorbild Beethovens gefolgt ist: Brahms gestaltet hier einen ähnlichen Übergang wie Carl Maria von Weber in seiner Freischütz-Ouverture.

evtl. Z: Freischütz-Ouv Übergang verlöschende Einleitung - Hauptteil,

möglichst Keilberth

Wichtige Charakteristika der Formgestaltung in der ersten Symphonie von Johannes Brahms lassen sich verstehen aus der Auseinandersetzung mit verschiedenen Vorbildern - aus der Verwandlung der Symphonik Beethovens im Geiste einer späteren Entwicklung, die von der frühen Romantik ausgegangen ist.

Z: Brahms I 1 Hauptteil 2´26 - 4´21 (1. Pause im SS) (evtl. Anf. wie zuvor bei 1´22)

Der Prozeß, in dem sich das Hauptthema entfaltet, greift in verwandelter Form auf, was bereits in der Einleitung zu hören war: Im Wechsel von steilem Aufschwung und Verlöschen. Die Verwandtschaft zwischen der Einleitung und dem Folgenden geht so weit, daß selbst die Themen der Einleitung wiederkehren - allerdings durchweg in stark veränderter Gestalt: Die chromatische Melodielinie - die ausdrucksvollen Klagetöne - die in weiten Sprüngen aufsteigende Gesangslinie: All dies wird im Folgenden aufgegriffen und dabei vollständig verwandelt - nicht nur im Hauptthema, sondern auch im anschließenden Gesangsthema.

Was beim ersten Hören des Hauptthemas als Kontrast zur Einleitung erscheint, ist in Wirklichkeit zuvor Gehörtes in verwandelter Form. Erst später kommt es zu stärker kontrastierenden Bildungen: Ein pochender Rhythmus wird zum Keim einer dramatischen Entwicklung.

Z: Brahms I 1 Schlußgruppe

5´06 - kurz nach 5´51

(Anfang Df mit HS, rasch abblenden bis vor Einsatz der leisen Forts.)

evtl. längerer Ausschnitt: Bis Reprise nach Anfang Seitensatz (vor 10´12 Holz)

(oder nur bis Pause kurz vor dem 9´59 einsetzenden SS: bis vor 9´45)

Auch der pochende Rhythmus ist nichts völlig Neues - sondern aus Früherem entwickelt, nämlich aus dem pochenden Paukenrhythmus der Einleitung.

ev. Z: Einleitung Anfang (kurz, bis T. 2 1. Hälfte)

Je stärker sich der pochende Rhythmus in diesem Satz durchsetzt, desto deutlicher erinnert er an ein berühmtes Vorbild: Beethovens Schicksalsmotiv.

ev. Z: Be V 1, 1. Motiv

Mit diesem Motiv bilden sich große dramatische Entwicklungen, aber auch - in völlig veränderter Charakteristik - schattenhaft leise Bildungen. Im Zentrum der Durchführung verbindet sich das leise Schicksalsmotiv mit einer Erinnerung an die Einleitung - die jetzt ebenfalls in schattenhaft Leise, Resignative verwandelt ist.

Z: Brahms I 1: Durchführung Zentrum (Tiefpunkt vor Schlußsteigerung):

Chromatische Linie des Einleitungsbeginns über Schicksalsmotiv

7´24 - 7´51 (bis vor tiefen, das Crescendo einleitenden Bläsertönen)

Diese Stelle ist eine Vorahnung des Satzendes. Auch dort erscheint das Einleitungsthema in resignativer Beruhigung.

Z: Brahms I 1 Coda 11´45 (nach Zäsur ff. Verwandl. der kl. Terz: 12´06 Beruh.) - 13´02

Am Ende des Satzes wird vollends deutlich, wie weit Brahms sich vom Vorbild Beethovens entfernt hat: Beethoven schließt den ersten Satz seiner fünften Symphonie brüsk und heftig.

Z: Be V 1 Schluß (heftig, brüsk) 7´23 - 7´53 Davis (ab letzte Wiederk. Schicks.motiv)

Brahms schließt den ersten Satz seiner ersten Symphonie in einer Weise, die an Franz Schubert erinnert: Die Wiederkehr der Einleitung führt zur Abdunklung, zu Abdämpfung und Resignation.

Z: Schubert Unvollendete 1. Satz Schluß ab Akzent h, Davis 12´20 - 13´47

Für Schubert ebenso wie für Beethoven gilt, daß ihre vielschichtige und komplexe Musik Komponisten späterer Generationen durchaus unterschiedliche Anregungen zu geben vermochte. Damit läßt sich auch erklären, daß selbst so unterschiedliche Komponisten wie Brahms und Bruckner aus ähnlichen Quellen durchaus Unterschiedliches schöpfen konnten. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Schlußbildungen ihrer sinfonischen Sätze.

Brahms ebenso wie Bruckner hatten sich damit auseinanderzusetzen, daß Beethoven zwei wichtige Beispiele dafür gegeben hat, wie eine Symphonie im letzten Satz mit einer groß angelegten Apotheose schließen kann. Die Finallösung von Beethovens neunter Symphonie, die den Rahmen der reinen Instrumentalmusik sprengt und einen gesungenen Text mit einbezieht, hat weder Brahms noch Bruckner übernommen. Nachhaltiger hat sich der ekstatische Finale-Abschluß von Beethovens fünfter Symphonie ausgewirkt, der mit rein instrumentalen Mitteln erreicht wird

Z: Beethoven: V 4 Schluß

ab Quartsextakkord 8´42 ab verm. Septakk. bis 11´18 Schluß Davis

Der Finalschluß von Beethovens fünfter Symphonie hat Schule gemacht - zumindest bei Johannes Brahms: Brahms schließt seine erste Symphonie - nach einer hochdramatischen Formentwicklung im Finalsatz - mit einer weit ausgespannten Coda, die mit ekstatischem Jubel in C-Dur mündet.

Z: Brahms I 4 Schluß: Apotheose. Szell.

14´15 Anfang Coda (letzter c-moll-Abschluß) bis Schluß 16´17

Die stark von Beethoven beeinflußte Schluß-Apotheose in der ersten Symphonie von Brahms mag maßgeblich dazu beigetragen haben, daß Hans von Bülow diese Komposition als "Beethovens Zehnte" charakterisiert hat - und dies, obwohl Brahms hier gerade nicht an Beethovens Neunte anknüpft, sondern eben an seiner Fünften.

Während Beethoven den Apotheose-Abschluß der Fünften im Finale seiner neunten Symphonie noch überboten hat, sah Brahms offenbar den Apotheose Schluß seiner ersten Symphonie nicht als Lösung an, die sich auch in späteren Werken noch beibehalten oder weiterentwickeln ließ. Der schroffe Moll-Abschluß seiner letzten Symphonie, der 4. Symphonie in e-moll, wirkt geradezu wie ein Dementi des jubelnden Abschlusses der Ersten.

Z: Brahms: IV 4 Schluß (9´08 1. laute Schlußvar.) 9´29 (Forts.nach Akz.) - 10´34 Schluß

Während in der symphonischen Musik von Brahms, beispielsweise am Schluß des ersten Satzes seiner ersten Symphonie, sich wichtige Affinitäten zu Franz Schubert finden lassen, ist für Bruckners symphonische Schlüsse ein anderes Vorbild offenbar wichtiger: Beethoven - insbesondere der Schluß des ersten Satzes der 9. Symphonie.

Z: Be IX 1 Schluß (ab chrom. Tonl. abwärts) Davis 16´06 - 17´16

Dieser sinfonische Schluß Beethovens hat Anton Bruckner so stark beeindruckt, daß er in mehreren Sinfoniesätzen daran anknüpft.

Ein erstes Beispiel hierfür ist der Schluß des ersten Satzes seiner d-moll-Symphonie. Bruckner beginnt sehr ähnlich wie Beethoven. In der Fortsetzung und in der endgültigen Schlußbildung allerdings beginnt er bereits eigene Wege zu gehen.

Z: Nullte 1, 12´28 - 13´47 (ab Zäsur bis Schluß)

Der Schluß des ersten Satzes der frühen d-moll-Symphonie ist gleichsam ein erster Vorentwurf dessen, was Bruckner in einer späteren d-moll-Symphonie ausgestaltet hat: Am Schluß des ersten Satzes seiner dritten Symphonie. Auch dieser Schluß eines ersten Satzes ist offensichtlich vom Vorbild Beethovens inspiriert, dessen Formidee von Bruckner ausgeweitet, mit kräftigen Kontrasten erweitert und sich in einer bruchlosen Linienführung erfüllt.

Z: III 1, 2. Fassung Kubelik 19´26 - 2 1´15 ab Eins. chrom. Baßlinie bis Schluß

Anton Bruckners letzte Huldigung an Beethoven findet sich in seiner neunten Symphonie. Nur drei der vier Sätze hat Bruckner noch beenden können; das Finale blieb ein Torso.

Der erste Satz von Bruckners neunter Symphonie schließt mit einer Formentwicklung, deren jähe Steigerung in eine extreme Grenzsituation führt: Die Musik entwickelt sich ruhig, aber unaufhaltsam bis zu einem massiven, scharf dissonanten Tutti-Höhepunkt, auf dem die Musik vollständig erstarrt. Erst danach beruhigt die Musik; eine breit strömende Formentwicklung mündet schließlich in der steil aufragenden, zugleich kahlen und schroffen Schlußharmonie. Formentwicklungen im Geiste Beethovens, mit denen sich Bruckner immer wieder auseinandergesetzt hat, verwandeln sich in dieser Musik in etwas Unbekanntes und Neues.

Z: Bruckner IX 1 Schluß ab Pk d-moll 18´54 - 23´09

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