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7.11.1 FOUR2.DOC


John Cage: FOUR2

FOUR2 gehört in den 1988 begonnen Zyklus der Zahlenstücke, an dem John Cage in seinen letzten Lebensjahren gearbeitet hat. Das englische Titel-Zahlenwort bezeichnet in einem Stück dieses Zyklus in der Regel die Anzahl der Mitwirkenden; im Chorstück FOUR2 steht es für die Anzahl der Chorgruppen (Sopran, Alt, Tenor, Baß). Der Titel FOUR2 bezeichnet die zweite Komposition des Zyklus, in deren Titel die Besetzungszahl "Vier" steht. (Das erste dieser Stücke ist das 1989 entstandene Streichquartett FOUR.)

Die Notation enthält keine Partitur, sondern lediglich ein Vorwort und vier Einzelstimmen. In den Einzelstimmen sind auf getrennten Systemen ausschließlich einzelne Töne notiert. Die Töne, die hörbar werden, sind im Tonraum ähnlich verteilt wie die in den Stimmen notierten Zeitmarkierungen: Weit gestreut in den Extremwerten, dichter gedrängt in den Mittelwerten. Dies und die geringe Anzahl der verwendeten Töne ( die in dem sieben Minuten langen Stück nur vereinzelt vorkommen - jeweils ein- oder zweimal in jeder Stimme, wobei sich beim zweiten Mal die Lautstärke ändert) trägt dazu bei, daß in diesem Stück sich relativ einfache harmonische Konstellationen ergeben. Die Einzelheiten dieser Harmonik bleiben allerdings unbestimmt - entsprechend den Prinzipien der besonders für den späten Cage charakteristischen "Anarchic Harmony": Während die Werte für 12 Tonhöhen und 6 Lautstärken eindeutig festgelegt sind, hat Cage nur einen einzigen Zeitwert präzise fixiert: Die Gesamtdauer des Stückes (exakt 7 Minuten). Innerhalb dieser Gesamtdauer gibt es Zeitmarkierungen, aber keine festen Einsätze und Abschlüsse der Töne: Vorgegeben sind für jeden Ton nur die Zeiträume, in denen er erscheint oder verschwindet - beispielsweise soll f1, der erste Ton der Soprane, im Mezzoforte zu einem beliebigen Zeitpunkt zwischen 0´00´´ und 1´00´´ einsetzen und zu einem beliebigen Zeitpunkt zwischen 0´40´´ und 1´40´´ aufhören. Um in diesem und ähnlichen Fällen extreme, auch über eine einzelne Atemlänge hinausgehende Tondauern zu erreichen, erlaubt Cage, daß ein Ton unmerklich von einem Sänger auf einen anderen (aus derselben Stimmgruppe) übergehen darf. Die Sänger können aber auch extrem kurze Tondauern wählen (wobei sich allerdings - anders als in anderen Zahlenstücken von Cage, wo lautere Werte vorzugsweise für kürzere Töne verwenden werden sollen - die vorgeschriebene Dynamik nicht verändern darf).

Die Laute, auf denen die Töne gesungen werden, sind dem Namen des US-amerikanischen Staates Oregon entnommen.

Jeder gesungene Ton hat sein eigenes Gepräge: Seine Lautstärke, seine Tonhöhe und seine Klangfarbe (Vokal, ggf. überdies Anfangskonsonant) sind eindeutig festgelegt. Die Zeiträume, in denen dieser Ton anfangen und enden soll, hat der Komponist festgelegt; innerhalb dieser Zeiträume darf ein Sänger den Ton gleichsam frei in die Zeit setzen, auch unmerklich den Gesangston eines anderen Sängers (aus derselben Stimmgruppe) übernehmen. Die Dauern sind von Aufführung zu Aufführung veränderbar: beweglich; elastisch wie erdbebensichere Mauern eines Hauses (so hat Cage einmal seine dies ermöglichende Notation mit "time brackets" beschrieben). Ähnliches gilt auch für den melodisch-harmonischen Prozeß des Stückes, der von tieferen allmählich zu höhreren Tönen und Zusammenklängen führt (vom tiefen F der Bässe bis zum hohen f2 der Soprane). Bei der Realisation des Notierten durchdringen sich aus dem Notierten Ablesbares und während der klanglichen Realisation Hörbares, vom Komponisten Fixiertes und vom Interpreten frei zu Gestaltendes, Erwartetes und Unerwartetes.
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