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7.20 Frisius - Biographie


Rudolf Frisius: Biographische Notiz

Geboren 1941. Studierte Mathematik, Philosophie und Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Neue Musik (in Verbindung insbesondere mit regelmäßiger Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik seit 1959 und mit Arbeitsaufenthalten in elektrokakustischen Studios in München, Utrecht, Köln, Paris und Bourges; Besuch von Seminaren und Kursen u. a. von Stockhausen, Pousseur, Ligeti, Boulez, Hiller, Kagel, Riedl, Brün, Koenig, Xenakis, Wolff, Bayle, Rihm, Henry und Cage). Lehr- und Vortragstätigkeit u. a. in Darmstadt, Aix-en-Provence, Salzburg, Delphi, Athen, Paris, Kalkutta, Seoul, Kyoto. Zahlreiche Rundfunksendungen. Veröffentlichungen über Musiktheorie (u. a. Untersuchungen über den Akkordbegriff, 1969; Notation und Komposition, 1980), Komponisten älterer und neuerer Musik (u. a. Schubert, Bruckner, Ives, Schönberg, Cage, Webern, Kagel, Schnebel, Riedl, Ligeti, Koenig, Xenakis, Henry und Stockhausen; der 1. Band einer Stockhausen-Monographie erschien 1996, Band 2 ist in Vorbereitung), über serielle Musik (in "Musik in Geschichte und Gegenwart"), über Improvisation, über Neues Hörspiel/Akustische Kunst, und über elektroakustische Musik (u. a. Musik und Technik, 1995, hrsg. mit Helga de la Motte-Haber).

Vorsitzender des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt (seit 1998)

Rudolf Frisius

Notiz über meine musikwissenschaftliche Arbeit:

MUSIKWISSENSCHAFT UND NEUE MUSIK

Im 20. Jahrhundert hat sich nicht nur die Musik selbst grundlegend verändert,

sondern auch das Musikhören, die Formen musikalischer Vermittlung und das gesamte Musikleben im Spannungsfeld zwischen Musik und Gesellschaft. Die Entwicklung in der ersten Jahrhunderthälfte ist maßgeblich geprägt durch die Suche nach Alternativen zur tradierten Sprache der abendländischen Tonalität. In der zweiten Jahrhunderthälfte ergaben sich neue Probleme vor allem durch die Etablierung der technisch produzierten Musik. Die erste Veränderung läßt sich beschreiben als Konsequenz vorrangig innermusikalischer Veränderungen - der jahrhundertelangen Fortentwicklung von musikalischen Ton- und Zeitordnungen, vor allem der fortschreitenden Komplizierung der Tonbeziehungen, die bis zu vollchromatischen Tonbeziehungen und zur Emanzipation der Dissonanz führten und darüber hinaus sogar die Grenzen der Tonkunst sprengten mit der Emanzipation des Geräusches. So ergaben sich wichtige Ansatzpunkte neuer Entwicklungen, die dann später auch für die zweite Jahrhunderthälfte bedeutsam geworden sind: Wie bereits Busoni in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst ausgeführt hat, kann die Suche nach neuen Tonbeziehungen auch über die Grenzen der herkömmlichen Klangerzeugung hinausführen und zu neuen Ansätzen der elektronischen Klangproduktion und Komposition führen. Diesen zunächst nur theoretisch postulierten Weg hat später Edgard Varèse weiter verfolgt mit seiner Sprengung der traditionellen Tonbeziehung in energetischen Klangstrukturen, in Musik mit Geräuschen und später auch mit elektroakustischen Klängen. Die Suche nach neuen Klängen verband sich mit der Suche nach neuen Möglichkeiten der Klangstrukturierung. So führten beispielsweise die von Schönberg und seinen Schülern entwickelten Reihenstrukturen einerseits zur europäischen seriellen Musik, einerseits in der amerikanischen Musik etwa bei John Cage zunächst zur rhythmisch vorstrukturierten Geräuschkomposition und später zu Verfahren der kompositionstechnischen Unbestimmtheit, wie sie sich als Verallgemeierung der kompositorischen Verarbeitung von Klängen unbestimmter Tonhöhe, also von Geräuschen, ergeben können. Sowohl die zwölftönige und serielle als auch die indeterminierte Musik halten in der Regel an der objektiven Vorstrukturierung des Klangmaterials durch den Komponisten fest - und damit in den allermeisten Fällen auch am Primat der Partitur. Eine Alternative zu diesem Ansatz bilden Ansätze der elektroakustischen Musik, die, vor allem in der musique concrète, von einer vollständigen Neubestimmung der Hörerfahrung auf der Basis neuer Klangerfahrung und ihrer Auswertung in elektroakustischer Musik ausgehen.

Diese und andere Veränderungen machen ein neues Musikhören, neue musikalische Verhaltensweisen und neue Ansätze in Musiktheorie und Musikwissenschaft notwendig.

Das Musikhören bedarf heute einer breiteren, auch den Besonderheiten neuerer abendländischer Musik sowie der (über Massenmedien heute weltweit zugänglicher) außereuropäischen Musik angemessenen Basis. Bei den musikalischen Verhaltensweisen ist eine Neubestimmung der musikalischen Kreativität notwendig, auch in Verbindung mit der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen ideeller Konzeption und tatsächlicher Realisation von Klängen (insbesondere in der elektroakustischen Musik), zwischen Improvisation und Komposition. Die Erweiterung des musikalischen Materialbegriffes führt über die Emanzipation der Dissonanz und des Geräusches bis zur Erweiterung des Musikbegriffes in der Akustischen Kunst, in der neben im engeren Sinne musikalischen Klängen auch aufgenommene Stimm- und Sprachlaute sowie Geräusche zu gleichwertigen Gestaltungselementen geworden sind. Im Bereich der Klangproduktion haben neben Stimmen und Instrumenten auch elektroakustische und elektronische Geräte zur Klangerzeugung und Klangverarbeitung entscheidende Bedeutung gewonnen. So haben sich neue, auch über die engeren Grenzen der bisher bekannten Musik hinausführende Aufgabenstellungen für Komponisten und Musikwissenschaftler, für die Erfindung, Realisation und wissenschaftliche Reflexion klanglicher Ereignisse ergeben. Dabei ist die Bedeutung fächerübergreifender Ansätze verstärkt hervorgetreten - z. B. die Entwicklung neuer kompositorischer Ansätze in der Verbindung mit Denkmodellen der Sprachwissenschaft (Pierre Schaeffer), der Mathematik und Philosophie (Iannis Xenakis), der Informationstheorie (Karlheinz Stockhausen) oder der Filmtheorie (Pierre Henry).

Neue Ansätze sind notwendig einerseits in der Neubestimmung von Prozessen, die zur Generierung neuer Musik führen (Struktur-Aspekt), andererseits in der Entwicklung neuer Möglichkeiten, sich hörend mit neuerer, aber auch mit (im Geiste aktueller Erfahrungen neu interpretierter) älterer Musik auseinanderzusetzen (Form-Aspekt). In neuen Ansätzen musikalischer Elementar- und Formenlehre kann überdies auch versucht werden, räumliche und zeitliche Bestimmungen von Klängen und Musik auch in den Kontext von Erfahrungen aus anderen Sinnesbereichen zu stellen (zum Beispiel in einer neuen Formtheorie als einer Typologie von Zeitverläufen, die sowohl Hörbares als auch z. B. Sichtbares beschreiben kann, etwa in einer koordinierten Beschreibung von Klängen und Bildern, von Klang- und Bildprozessen, insbesondere von Musik und Film: In Zuständen oder (allmählichen oder plötzlichen Veränderungen); in quasi verräumlichter oder in fließender oder in geschnittener Zeit; in Prozessen des allmählichen Wachsens oder Abnehmens, der plötzlichen Verstärkung oder Abschwächung von wahrnehmbaren Eigenschaften oder komplexen Ereignissen.

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