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Rudolf Frisius
MUSIK ALS GRENZÜBERSCHREITUNG
Mauricio Kagel auf den Darmstädter Ferienkursen
"Sehr geehrter Herr Dr. Steinecke!
Ich habe die Ehre mich an Sie zu richten, um Ihnen mitzuteilen, daß mit gleicher Post, in einer Einschreibesendung, mein "Streichsextett" für zwei Geigen, zwei Bratschen und zwei Violoncelli abgegangen ist. Dieses Werk ist im Jahre 1953 geschrieben, und im Dezember 1957 revidiert worden.
Ich erlaube mir Ihnen mein "Streichsextett" zu senden mit dem Wunsch, dass Sie die Uraufführung dieses Werks in den nächsten Sommerferienkursen ermöglichen.
Ich bin gerne bereit mein Werk persönlich zu dirigieren, da ich glaube, dass die Ausführung dadurch erleichtert werden könne."
Dieser auf den 24. Januar 1958 datierte Brief Mauricio Kagels an Wolfgang Steinecke, den Begründer und ersten Leiter der Darmstädter Ferienkurse, wird im Internationalen Musikinstitut Darmstadt als erstes Dokument einer langjährigen Zusammenarbeit aufbewahrt. Er bezieht sich auf eine Komposition, mit der Kagel erstmals in Darmstadt präsentiert worden ist: Auf das "Sexteto de Cuerdas", dessen Uraufführung am 7. September 1958 im Rahmen eines vom Westdeutschen Rundfunk Köln ausgerichteten Gastkonzertes "Musik der Zeit" stattfand. Unter der Leitung des Komponisten spielten Mitglieder des Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters. (In demselben Konzert kamen auch die "Music for two Pianos" von Richard Rodney Bennett und die "Cori di Didone" von Luigi Nono sowie, unter der Leitung des Komponisten, "Hexaeder" für Instrumentalensemble von Ernst Krenek zur Uraufführung. Zum Abschluß des Programms sang der Kölner Rundfunkchor unter Bernhard Zimmermann Arnold Schönbergs Drei Satiren für gemischten Chor opus 28).
Aus einem Brief, den Kagel am 28. August 1958 an Steinecke schrieb, erfahren wir, daß ursprünglich noch ein weiteres Werk Kagels, nämlich seine erste elektronische Komposition, zur Uraufführung in Darmstadt vorgesehen war, daß dieses Werk jedoch nicht rechtzeitig fertig geworden ist:
"Sehr geehrter Herr Doktor Steinecke,
ich habe ununterbrochen an meinem elektronischen Stück "Transición" gearbeitet, leider muss ich Ihnen jedoch mitteilen, dass auf Grund der Schwierigkeiten, mit denen die Komposition verbunden ist, der erste Teil meines Werkes nicht für die Aufführung in Darmstadt beendet sein wird.
Ich bitte Sie um Verzeichung, dass ich meiner Verpflichtung nicht nachkommen kann."
So blieb es 1958 bei einer einzigen Kagel-Uraufführung. Schon für 1959 aber wurden neue Pläne geschmiedet: Am 17. 3. berichtete Kagel Steinecke von einer neuen Komposition: "TRANSICIÓN II, für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder". Am 29. 4. schickte Kagel Steinecke den ersten Teil der Partitur sowie die Bandkopie einer Nachtprogramm-Sendung des WDR mit dem Titel "Henry Cowell und seine Theorie der Ton-Cluster", an deren Schluß sein neues Werk stand.
Aus einem Brief, den Steinecke am 29. 5. 59 an Kagel schrieb, geht hervor, daß ihm das Stück vor allem als Dokument damals aktueller Neuentwicklungen aufführenswert erschien:
"Wie ich Ihnen in Köln schon sagte, möchte ich die Aufführung in einem Studiokonzert vorsehen, bei dem verschiedene Werke gezeigt werden, die elektronische und instrumentale Mittel mischen. Außerdem wird ja vorher Stockhausen in seiner Kommentarreihe Ihre Komposition noch besonders besprechen."
Kagel antwortete am 8. 6. und erinnerte daran, daß in Köln zwischen ihm und Steinecke auch die Möglichkeit eines Konzertmitschnitts durch den Hessischen Rundfunk besprochen worden war. Für diesen Fall wäre, so folgerte er, "ein Honorar... in Aussicht gestellt", und zwar "für die "lebendigen" Ausführenden "von einer Dimension" (die zweite wird ja von einer merkwürdigen Präsenz bekleidet, der Lautsprecher nämlich)".
Ansonsten war Kagel mit der vorgesehenen Präsentation durchaus einverstanden. Er schrieb:
"Schließlich danke ich Ihnen nochmals für das Interesse, das Sie diesem Werk entgegenbringen und freue mich sehr, dass es in die Kommentarreihe von Herrn Stockhausen aufgenommen wurde."
Die ersten Darmstädter Kagel-Dokumente erklären, wie es dazu kam, daß Kagel in Darmstadt zunächst als Komponist nicht elektronischer, sondern instrumentaler Musik bekannt geworden ist. Die elektronische Komposition "Transición I", die zunächst als reine Lautsprechermusik (ohne Mitwirkung von Interpreten) konzipiert war, markiert in Kagels oeuvre einen Extrem- und Sonderfall - und es ist aufschlußreich, daß er später gerade diese, zunächst als "unsichtbare Musik" entworfende Musik nachträglich "visualisierte", indem er ihr eine wichtige Funktion in seinem ersten Musikfilm einräumte. - Das erste über konventionelles Instrumentarium hinausführende und elektroakustische Möglichkeiten einbeziehende Werk, mit dem Kagel dann tatsächlich in Darmstadt hervortrat, distanziert sich in seiner Konzeption bereits deutlich vom Modell der reinen Lautsprechermusik. Auch der Kontext, in dem dieses Werk 1959 in Darmstadt vorgestellt wurde, konnte damals den Eindruck verstärken, daß es in erster Linie mit aktuellen Tendenzen eher der instrumentalen als der elektronischen Musik zu tun hatte: Stockhausen besprach "Transición II" am 31. August im Rahmen einer Reihe von Kommentaren, die sich sonst durchweg auf neue Instrumentalwerke bezogen (27. 9.: Stockhausen, Zyklus für einen Schlagzeuger; 28. 9.: Cardew, Klavierstücke; 29. 9.: Klavierstücke von Sylvano Bussotti und Klavierkonzert von John Cage). Alle genannten Kommentare Stockhausens orientierten sich an einem damals aktuellen Thema, das Stockhausen zuvor in einem einleitenden Vortrag unter allgemeineren Gesichtspunkten behandelt hatte: "Musik und Graphik". (Leider wurde später in Band III der "Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik" nur dieser einleitende Vortrag veröffentlicht, nicht aber Stockhausens Kommentare zu grafischen Partituren von Bussotti, Cage und Kagel - Kommentare, die zu den detailliertesten und vielseitigsten jemals in Darmstadt vorgetragenen Analysen zu rechnen sind und die z. B. im Falle Kagels eine wichtige Ergänzung bilden zu dessen eigener Analyse, die er in einem WDR-Nachtprogramm der Öffentlichkeit vorgestellt hat).
Am 5. 7. 59 sandte Kagel an Steinecke verschiedene Programmheft-Informationen für die Aufführung von "Transición II". In einer biografischen Notiz erwähnte er nur in neuester Zeit vollendete und aufgeführte Werke (das Streichsextett, das elektronische Stücke sowie "Anagrama" für Sprechchor, 4 Solisten und Kammerorchester). In seinem Werkkommentar machte er deutlich, wie wichtig ihm in dieser Komposition - trotz technischer Hilfsmittel - die Konzentration auf Instrumentalklänge und der Verzicht auf synthetische, elektronisch produzierte Klänge war:
""Transición II" für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder, 1958-59, ist ein in drei überlagerten Schichten artikuliertes Werk: Die I. Schicht ist ein Tonband mit verarbeiteten Klängen von Klavier und Schlagzeug, die II. wird von der direkten Aktion beider Instrumentalisten bei der Aufführung gegeben, die III. ergibt sich während der Aufführung durch Bandaufnahmen (Schleifen) gewisser Strukturen der I. und II. Schicht. So bildet sich ein Kontinuum, das aus von Lautsprechern wiedergegebenen Bandaufnahmen des Spiels im Saal von Pianist und Schlagzeuger und der I. Schicht besteht."
In Kagels kommentierenden Worten wird deutlich, wie intensiv er sich bereits damals darum bemühte, auch in der Arbeit mit modernen elektroakustischen Apparaten sich live-Qualitäten von Klängen und Aktionen möglichst weitgehend zu erhalten.
Kagel, der mit Steinecke auch in seiner Funktion als Dirigent des "Rheinischen Kammerorchesters" korrespondierte, kam in einem auf den 2. 12. 59 datierten Brief auch auf sein neues Werk "Anagrama" zu sprechen. Am 7. 12. informierte ihn Steinecke, daß, da die Uraufführung des Werkes bereits für das Weltmusikfest in Köln programmiert worden war, der Hessische Rundfunk an einer Aufführung nicht mehr interessiert war. Dies veranlaßte Kagel zu einem anderen Vorschlag. Am 27. 12. 59 berichtete er Steinecke von vielfältigen Aktivitäten: Konzerte, ein Artikel für "die reihe", Korrekturen des Chormaterials des Anagrama. Dies brachte ihn auf eine direkte Anfrage:
"A propos, was hielten Sie von einem Vortrag des "Anagrama" mit Tonbandbeispielen für die nächsten Ferienkurse? Ich hätte ziemlich viel zu erzählen, besonders über alles, was die Verwandlung von Dante´s Palindrom in einen viersprachigen Text betrifft und dessen Beziehung mit der musikalischen Form."
Vor allem der erste hier genannte Aspekt hat dann, als Kagel später tatsächlich sein "Anagrama" in Darmstadt erläuterte, eine große Rolle gespielt: Ausführlich hat er erklärt, wie er aus Übersetzungen in andere Sprachen weiteres, im Originaltext nicht vorhandenes Lautmaterial gewonnen und in neu erfundenen Texten verwendet hat. (Die Lautkonstruktionen und -manipulationen erschienen ihm damals für seine Analyse offensichtlich wichtiger als deren Konsequenzen für die musikalische Formgestaltung; auch in späteren Darmstädter Seminaren hat Kagel nicht selten technischen Details mehr Aufmerksamkeit geschenkt als großformalen Zusammenhängen - z. B. in Analysen von Werken wie DIAPHONIE, MATCH, ACUSTICA, weitgehend auch 1898 oder bei der Präsentation seiner Hörspiele GUTEN MORGEN und SOUNDTRACK, teilweise auch DIE UMKEHRUNG AMERIKAS).
Wichtige Charakteristika der Korrespondenz Kagels mit Steinecke werden deutlich, wenn man sie vergleicht mit der Korrespondenz eines anderen Komponisten, der in Darmstadt fast ein Vierteljahrhundert lang eine wichtige Rolle gespielt hat: Karlheinz Stockhausen. In Steineckes Briefwechsel mit Stockhausen spielen übergreifende Fragen der Darmstädter Programmpolitik eine zentrale Rolle. !952 hatte Steinecke Stockhausen (der nach Paris gegangen war, um bei Messiaen zu studieren) scherzhaft zum "Außenminister der Ferienkurse" ernannt, der eine Einladung an Messiaen überbringen durfte (und sich bei dieser Gelegenheit - teilweise auch in Abstimmung mit seinem damals engsten Freund, dem früheren Messiaen-Schüler Karel Goeyvaerts - gegenüber Steinecke intensiv mit Personal- und Aufführungsvorschlägen engagierte). Später war Stockhausen maßgeblich am Darmstädter Generationswechsel um 1957 beteiligt, und er hat sich in den späten fünfziger Jahren für viele exponierte Komponisten seiner Generation eingesetzt - nicht nur für Mauricio Kagel, sondern beispielsweise auch 1958 und 1959 für John Cage, 1959 für Sylvano Bussotti und Cornelius Cardew. Daß Stockhausen dabei keineswegs an eine hermetische Trennung der Generationen dachte, beweist seine 1959 ausgesprochene Empfehlung, Edgard Varčse, der seit 1950 nicht mehr gekommen war, erneut einzuladen. - Kagel, der erst 1957 nach Deutschland gekommen war, befand sich in einer anderen Situation: Er hatte neben bereits in der Avantgardeszene profilierten Gleichaltrigen wie Boulez und Stockhausen, Maderna und Nono, Pousseur und Berio seinen Platz zu finden. Interessant ist, daß er in seiner Darmstädter Korrespondenz seine Initiativen schon frühzeitig mit originellen Projektbeschreibungen verband, die als wichtige Ergänzungen primärer und sekundärer Werkkommentare angesehen werden können und bei denen sich instruktive Vergleiche zwischen Geplantem und tatsächlich Realisiertem anbieten. Beispielsweise beschrieb er Steinecke am 27. 12. 59 ein neues Orchesterstück:
"Ich selbst arbeite augenblicklich an einem Orchesterstück für 45 Instrumentalisten. Die Besetzung enthält (mit wenigen Ausnahmen) das gesamte Instrumentarium der bis jetzt verwendeten Instrumente: je ein Instrument jeder Art. Die Solisten sitzen rings um den Podiumrand, nicht in Klangfamilien, sondern gemischt (z. B. Bassklarinette neben Mandoline, Bassposaune neben Piccolo, usw.). Die Arbeit macht mir grossen Spass, da sie mir den Versuch für akustische Täuschungen bietet. Ich hoffe im November damit fertig zu sein."
Trotz dieser verlockenden Schilderung mußte Kagel 8 Jahre warten, bis ein Orchesterwerk von ihm "ferienkursreif" wurde: 1967 dirigierte Michael Gielen HETEROPHONIE. 1959 aber konnte Kagel noch keine Aufführungszusage erhalten (ebensowenig für Orchestermusik wie für ein in demselben Brief erwähntes "Quartett für 12 Instrumente"). Kagel hatte es in dieser Hinsicht in Darmstadt schwerer als Stockhausen, der in den fünfziger und sechziger Jahren fast alle seine wichtigen Werke live oder zumindest (etwa bei Orchesterwerken wie GRUPPEN oder CARRÉ) in professionellen Tonbandwiedergaben in Darmstadt präsentieren konnte und der erst in den frühen siebziger Jahren mit Darmstädter Aufführungsplänen für sein Orchesterwerk TRANS an Grenzen stieß, kurz vor seinem endgültigen Ausscheiden aus den Ferienkursen.
Aus einem Brief Kagels vom 27. 12. 59 ist zu entnehmen, daß Steinecke damals auch ein "Seminaranalyse-Projekt" mit Kagel erwog (daß er also 1960 Kagel ähnliche Aufgaben anvertrauen wollte wie 1957 Luigi Nono, der damals Kompositionen von Schönberg und Webern, Boulez und Stockhausen, Maderna und seine eigene Musik besprochen hatte, oder wie Karlheinz Stockhausen, der 1957 und 1959 neuere Werke aus seiner Generation analysiert hatte oder wie György Ligeti, der 1959 Webern analysierte und 1960 einen umfassenden Überblick über das Repertoire elektronischer Musik gab).
Am 19. 6. 60 teilt Kagel Steinecke das Thema seines Vortrages über "Anagrama" mit:
"Behandlung von Wort und Stimme - Über das "Anagrama"
So annoncierte Kagel die Präsentation eines Werkes, das zuvor in Köln zur Uraufführung gelangt war (übrigens in demselben Konzert wie Stockhausens "Kontakte", diesem Werk unmittelbar vorausgehend) und das dabei großes Aufsehen erregt hatte. Er selbst konzentrierte sich in seinen Erläuterungen auf die Textbehandlung. (Pierre Boulez, dem diese Komposition gewidmet ist, sorgte überdies dafür, daß in Darmstadt auch ihre unkonventionelle Instrumentation zur Sprache kam. Als er einige Jahre später in Darmstadt Seminare über das Thema "Die Harfe" hielt, ließ er auch Kagel über seine unorthodoxe Behandlung dieses Instruments in "Anagrama" referieren, bevor er selbst sich höflich, aber doch deutlich davon distanzierte).
Am 13. 1. 61 schlug Kagel Steinecke zwei weitere Werke zur Darmstädter Aufführung vor:
SONANT für Gitarre, Harfe, Kontrabass und zwei Schlagzeuger
(ein für Anfang Februar zur Uraufführung in der Pariser Domaine musical angenommenes Werk) sowie
PANDORASBOX, BANDONEONPIECE, ein für David Tudor geschriebenes Stück.
Steinecke mußte ihn in einem Brief vom 20. 6. 61 aus "besetzungstechnischen Gründen" wegen SONANT vertrösten; dieses Stück kam in Darmstadt erst 1964 und 1965 zur Aufführung. Das Solostück für Tudor aber wurde sofort angenommen.
Am 10. 4. 62 bietet Kagel Ernst Thomas (der inzwischen die Nachfolge des tödlich verunglückten Wolfgang Steinecke übernommen hatte), anknüpfend an ein Vorgespräch, ein Konzertprogramm mit dem von ihm geleiteten "Kölner Ensemble für Neue Musik" an, in dem u. a. TRANSICIÓN II, SONANT und das Klavierstück METAPIČCE gespielt werden sollten (zusammen mit Kompositionen von Cardew und Cage). In den Darmstädter Annalen dieses Jahres findet sich ein solches Konzertprogramm allerdings nicht; statt dessen wird 1963 eine Aufführung von SUR SCČNE ins Programm genommen. Am 22. 2. 63 fragt Kagel, ob außerdem auch die 1962 vollendete Komposition "Antithese" für elektronische und öffentliche Klänge "mit einem Schauspieler auf der Bühne (Alfred Feussner)" aufgeführt werden kann. Es folgt eine kurze Beschreibung des Stückes:
"Es handelt sich um die stumme Rolle eines Mannes im weissen Kittel, der mit elektro-akustischen Objekten (Lautsprechern) agiert, und mit diesen - manchmal heftig, sonst ruhig - beschäftigt ist."
Auch dieser Vorschlag wurde nicht realisiert, obwohl Alfred Feussner als Akteur in SUR SCČNE auch für dieses Stück zur Verfügung gestanden hätte. So blieb es bei der vereinbarten Aufführung, für die Kagel dann hohe probentechnische Ansprüche stellte (die Ernst Thomas zu reduzieren versuchte). Letztlich kam es dann doch zu einer erfolgreichen Aufführung dieses satirischen musikszenischen Stückes.
Eine von Kagel und Thomas gewünschte Anschlußaufführung auf der Biennale Venedig kam nicht zustande, weil dort "nur szenische Welturaufführungen" akkzeptiert wurden, wie Kagel Ernst Thomas am 20. 9. 63 mit einiger Verärgerung berichtete. Kagel wollte nun statt dessen "Anagrama" als angebliche Welturaufführung ins Programm bringen. - In demselben Brief schlug Kagel für 1964 einen Vortrag über das Thema "Analyse des Analysierens" und ein Seminar "über Methoden der gezielten und ungezielten musikalischen Analyse" vor (wobei bereits in diesen ankündigenden Formulierungen eine deutliche Distanzierung von bestimmten seriell inspirierten Analysemethoden aus den fünfziger Jahren zu erkennen war). Am 1. 12. modifizierte Kagel seinen Vorschlag: Zum Thema "Analyse des Analysierens" hielt er "einen oder zwei öffentliche Vorträge" für möglich; ferner projektierte er "acht Arbeitsseminare mit dem Titel "Analyse, Deutung und Dekomposition"".
Dieser Titel erinnert an einen zweiten Vortrag Kagels, dessen Titel im endgültigen Programm der Ferienkurse 1964 auftaucht: "Komposition und Dekomposition". - In seinem Brief vom 1. 12. 63 schlägt Kagel überdies eine Aufführung von SONANT mit den bereits an diesem Stück bewährten Interpreten vor. Er versucht, seine aufführungspraktischen Forderungen bei Thomas mit dem Argument durchzusetzen, "daß das, was Sie einen "lustigen Kagel" nennen, erst durchkommt, wenn es hervorragend ernst und beherrscht gespielt wird". -
Am 21. 3. 64 bedankt sich Kagel für die ausführliche Berücksichtigung im neuen Darmstädter Kursprospekt und nennt die endgültigen Titel für seine beiden Vorträge. Thomas antwortet am 24. 3. und lädt Kagel zur Teilnahme am Kongreß "Notation in der Neuen Musik" ein. Auf seinen Vorschlag, das Thema an einem eigenen Stück exemplarisch zu behandeln, reagiert Kagel zunächst mit einem Titelvorschlag, der sich vom später dann tatsächlich Realisierten noch deutlich unterscheidet:
"Zeitartikulation in ´SONANT´ und ´TRANSICIÓN II´"
Am 8. 1. 65 bemüht sich Kagel erneut um Darmstädter Aufführungen. Wieder beschreibt er die Idee eines neuen Stückes:
"Es handelt sich um ein Stück, bei dem die Musiker ihre Partien von einer, bzw. zwei Leinwänden ablesen.
Das heißt, die Partitur besteht aus Diapositivbildern, die mittels Projektoren gezeigt werden.
Es handelt sich um eine völlig neue Art des Zusammenspiels..."
Zu einer Darmstädter Aufführung der DIAPHONIE kam es nicht, aber immerhin hat Kagel später in Darmstadt Ausschnitte aus diesem Werk als Tonbandwiedergabe vorgespielt. Es hat Kagel also wenig geholfen, daß er DIAPHONIE vorsorglich von der inzwischen in Darmstadt unbeliebt gewordenen musikalischen Graphik abgesetzt hatte, indem er an Thomas schrieb:
"Ich möchte nicht zuletzt erwähnen, daß die Notenblätter (Diapositivbilder) mit Notenköpfen und nicht mit Zeichnungen - bzw. angewandter Graphik - geschrieben wurden."
Sogar zu einer Einstudierung dieses Werkes mit Ferienkursteilnehmern wäre Kagel bereit gewesen.
Thomas aber lehnte die Aufführung am 8. 3. 65 mit der nicht näher konkretisierten (und im Hinblick auf das Kursprogramm gerade dieses Jahres einigermaßen erstaunlichen) Begründung ab, er wolle lieber "wie immer, einige neue Namen bringen"; überdies äußerte er "Befürchtungen vor größerem technischen Aufwand". - Vergebens versuchte Kagel in einem Brief vom 19. 3., die technischen Bedenken zu zerstreuen und Boulez, der die Partitur gesehen hatte, als Kronzeugen für sein Werk einzuführen. - Immerhin kam 1965 nochmals SONANT ins Programm (in anderer Version als 1964).
Am 25. 10. 65 versuchte Kagel nochmals, ein neues Stück für Darmstadt vorzuschlagen:
LA MUSIQUE ET LA MESCALINE - also die Komposition, die später den Titel TREMENS erhielt.
Kagels Brief knüpft, wie es scheint, an eine frühere Besprechung an:
"Wie Sie sich vielleicht erinnern, handelt dieses Stück über die akustischen Halluzinationen, die unter dem Einfluß von Rauschmitteln, darunter Meskalin entstehen. Ein Darsteller auf der Bühne - anscheinend unter der Wirkung einer Droge - wird von einem Arzt - welcher hinter der Bühne mittels eines Mikrophons spricht - getestet. Zunächst dient ein von mir komponiertes Radioprogramm als Testobjekt. Links und rechts des Darstellers auf der Bühne befinden sich die Instrumentalisten jeweils zwischen Paravent-Wänden...
Musik, die vom Radio mit gewöhnlichen Instrumenten gesendet wird, erklingt dann auf der Bühne -
als Produkt der akustischen Halluzinationen des Darstellers - sozusagen elektrifiziert.
Das Werk dauert etwa 45 Minuten. Es handelt sich also um einen Akt wie bei SUR SCČNE.
Es wäre mir sehr lieb, das Stück noch im nächsten Sommer in Darmstadt zu spielen, weil die Einstudierung dann noch frisch in Erinnerung bleibt und Sie von unseren Erfahrungen unmittelbar profitieren können."
1966 referierte Kagel auf den Ferienkursen über instrumentales Theater, elektronische Musik und Szene. Auch zum Kongreß "Neue Musik - Neue Szene" steuerte er ein Referat bei.
Im Vorfeld von Kurs und Kongreß hatte Kagel am 28. 1. 66 Thomas den (später mit einigen Prioritätsstreitigkeiten, etwa mit Heinz-Klaus Metzger, belasteten) Begriff "Instrumentales Theater" nahe zu bringen versucht:
"Dies erscheint mir der geeignetste Titel für diese Materie, weil damit vermieden wird, eine Verwechslung mit dem traditionell eingeführten Terminus "Musikalisches Theater"... sowie mit der angewandten Musik für die Szene (Bühnenmusik) anzustellen. Außerdem ist das Instrumentale Theater seit meiner Einführung von 1960 (Nachprogramm des NDR) als ein selbständiges Genre anerkannt worden."
Kagel hatte erkannt, daß in der Kursplanung für 1966 sich eine seinen Intentionen entsprechende Akzentuierung abzeichnete. Um so mehr mußte es ihn enttäuschen, daß die von ihm geäußerten Aufführungswünsche nur teilweise erfüllt wurden. Eine Aufführung der PHONOPHONIE lehnte Thomas wegen "Saalschwierigkeiten" ab; immerhin wurde MATCH gespielt. Hinzu kam, daß - anders als in den Vorjahren zu den Themen "Notation Neuer Musik" und "Form in der Neuen Musik" - 1966 zum Thema "Neue Musik - Neue Szene" kein Band der "Darmstädter Beiträge" zustande kam, in dem Kagel angemessen zur Geltung hätte kommen können und müssen. So unterblieb die von Kagel gewünschte Publikation eines umfangreichen Drehbuch-Manuskriptes (der Filmfassung von ANTITHESE). Es nützte wenig, daß er Ernst Thomas, der die Veröffentlichung im Hinblick auf einen eventuell später zu publizierenden, ausschließlich Kagel gewidmeten Band zurückstellen wollte, am 26. 4. 67 auf die Aktualität dieses Vorhabens hinzuweisen versuchte: Unter Verweis auf seine neuesten Filmproduktionen, insbesondere auf ANTITHESE, schrieb er:
"... Das Beispiel dieser in letzter Zeit gedrehten Filme beginnt Schule zu machen.
Wir sind ohnehin vor Beginn einer Epoche, wo die Komponisten sich anders als in der Vergangenheit
mit audiovisuellen Problemen beschäftigen werden. Die Form und die musiktheoretischen Lösungen dieses Drehbuches müßten als eines der Musterbeispiele auf diesem Gebiet nicht zu spät bekannt gemacht werden."
Anschließend schlug Kagel vor, die soeben fertig gewordene Filmfassung von MATCH 1967 in Darmstadt zu zeigen.
Kagels Musikfilme haben in Darmstadt weniger Beachtung gefunden als seine Beiträge zum Instrumentalen Theater. Das Drehbuch ANTITHESE, eine Gemeinschaftsarbeit Kagels und seines Hauptdarstellers Alfred Feussner, konnte nicht publiziert werden, nachdem Ende 1967 eineVeröffentlichung im Rahmen der "Darmstädter Beiträge" (im Schott-Verlag) abgesagt worden war und Kagels Musikverleger die Abtretung seiner Rechte an einen anderen Verlag abgelehnt hatte. Auch später, für 1970, hat Thomas nur vorübergehend eine breiter angelegte Präsentation von Musikfilmen Kagels auf den Darmstädter Ferienkursen in Betracht gezogen. Erst 1976 kam es so weit, daß Kagel einen anderen musikübergreifenden Aspekt in die Darmstädter Kursarbeit so einbringen konnte, daß dies endlich auch bleibende Spuren in den "Darmstädter Beiträgen" hinterließ: Er erläuterte und präsentierte eigene Hörspielproduktionen aus den siebziger Jahren, und in den Darmstädter Beiträgen veröffentlichte er anschließend ausführliche Auszüge aus seinem neuesten Hörspiel-Manuskript: DIE UMKEHRUNG AMERIKAS.
Wer die Darmstädter Korrespondenz zwischen Mauricio Kagel und Ernst Thomas genauer studiert, kann feststellen, daß sich ab 1966 Wesentliches verändert. In diesem Jahr war nach zweijähriger Abwesenheit Stockhausen zu den Ferienkursen zurückgekehrt, der dann in den beiden folgenden Jahren mit spektakulären Projekten der Kollektiv-Komposition in den Vordergrund trat, bei denen die zuvor von Kagel aufgezeigten musikübergreifenden Perspektiven keine wesentliche Rolle mehr spielten: 1967: ENSEMBLE; 1968: MUSIK FÜR EIN HAUS; ein für 1969 geplantes open-air-Projekt mit Musik im Wald kam nicht zustande; statt dessen kam es zu den von Kontroversen begleiteten Aufführungen der Textkompositionen AUS DEN SIEBEN TAGEN; 1970 dominierte Stockhausen in Darmstadt mit 6 vielstündigen Seminaren, in denen er eine umfassende kompositionstechnische und ästhetische Bilanz seiner gesamten Arbeit zog. Im Zusammenhang dieser Entwicklung wird verständlich, daß in den späten sechziger Jahren Thomas wesentlich häufiger mit Stockhausen korrespondierte als mit Kagel. In der Darmstädter "Ära Thomas", vor allem zwischen 1962 und 1976, lassen sich im jährlichen (bzw. ab 1970 zweijährigen) Wechsel der Ferienkurse wechselnde Akzentuierungen beobachten, bei denen bald Kagel stärker im Vordergrund steht (vor allem 1964 und 1965 sowie 1976), bald Stockhausen (vor allem 1967, 1968 und 1970; für einige Jahre, in denen sowohl Stockhausen als auch Kagel in Darmstadt aktiv waren - insbesondere 1963 und 1966, 1972 und 1974 - lassen sich die Schwerpunktsetzungen nicht so klar erkennen). Die Polarität der Alternation zwischen Kagel und Stockhausen hat in vielen Jahren der "Ära Thomas" eine ähnliche Rolle gespielt wie zuvor das Verhältnis zwischen Stockhausen und Boulez in der "Ära Steinecke".
Die 1963 beginnende Öffnung für übergreifende Fragestellungen etwa des instrumentalen Theaters oder von Musik und Szene hat die Darmstädter Ferienkurse nur partiell und vorübergehend verändert. Bis 1966 hat Kagel versucht, diese Entwicklung zu fördern. In den folgenden Jahren war er in Darmstadt nicht als Dozent, sondern nur noch mit einzelnen Aufführungen vertreten (HETEROPHONIE, 1967; ATEM, 1970). Was 1966 abgerissen war, ließ sich auch später nicht mehr fortsetzen, als Kagel - nach einer schweren Krise der Ferienkurse im Jahre 1970 und ihrer anschließenden Umstellung auf einen Zweijahresrhythmus - in den Jahren 1972, 1974 und 1976 erneut eingeladen wurde, sogenannte Kompositionskurse zu geben (womit in Wirklichkeit Einführungen zu in Darmstadt aufgeführten eigenen Werken gemeint waren: 1972: ACUSTICA; 1974: 1898 und MIRUM für Tuba; 1976: KANTRIMIUSIK). Erst 1976 war es wieder so weit, daß, über Konzerteinführungen hinaus, wieder ein übergeordneter thematischer Aspekt in den Vordergrund rücken konnte: Musik und Hörspiel. - Nach diesen Kursen geschah Ähnliches wie nach 1966: In den folgenden Jahren kam Kagel nicht mehr als Dozent nach Darmstadt. Diesmal geschah dies im Zeichen eines von Ernst Thomas und den Mitgliedern seines Programmbeirates beschlossenen Generationswechsels: Ligeti, Stockhausen und Xenakis waren bereits 1976 nicht mehr nach Darmstadt gekommen. (Die Art und Weise, in der Ernst Thomas insbesondere die Zusammenarbeit mit Stockhausen beendete, ist alles andere als ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Darmstädter Ferienkurse; auch für die rasche Beendigung der Zusammenarbeit mit Iannis Xenakis und einem Vertreter der in Darmstadt allzu lange vernachlässigten amerikanischen Szene wie Christian Wolff bieten sich sachlich überzeugende Begründungen nicht ohne weiteres an - ebenso wenig wie für die geringe Kontinuität der Zusammenarbeit mit Mauricio Kagel, der mit den Interpreten des Darmstädter Programmbeirates - mit Aloys Kontarsky, Christoph Caskel und Siegfried Palm - teilweise noch intensiver zusammengearbeitet hat als beispielsweise Karlheinz Stockhausen). Boulez hatte bereits 1968 die Leitung eines Kompositionskurses kurzfristig abgesagt und damit den Schlußpunkt für seine Darmstädter Aktivitäten gesetzt. (Dies verstärkte das Gewicht für den einzigen dann noch verbleibenden Kompositionskurs Stockhausens. Die Absage von Boulez hatte in diesem Jahre also andere Konsequenzen als 10 Jahre zuvor, als an seiner Stelle Cage zur beherrschenden Figur der Ferienkurse 1958 geworden war.)
Über Einzelheiten des Darmstädter Generationswechsels, soweit sie Mauricio Kagel betreffen, können wir aus bisher zugänglichen Darmstädter Dokumenten nicht so klare Einsicht gewinnen wie im Falle Stockhausens, den die Ablehnung seiner Bereitschaft zu weiterer Zusammenarbeit (auch unter eingeschränkten Bedingungen) zutiefst verletzt hat, was auf seine Einstellung zu den Darmstädter Ferienkursen und zu ihren Leitern (auch zu Friedrich Hommel, dem Nachfolger von Ernst Thomas) nicht ohne Auswirkungen blieb. Indizien für ähnliche Reaktionen Kagels sind bisher nicht bekannt geworden. Möglich ist, daß er gegen einen Generationswechsel eben so wenig einzuwenden hatte wie etwa György Ligeti, der von sich aus auf eine Fortsetzung seiner Dozententätigkeit verzichtete. Auffällig ist allerdings, daß es - trotz der ästhetischen und internationalen Öffnung der Darmstädter Programmpolitik unter Friedrich Hommel seit den frühen achtziger Jahren - erst 1992 zu einer erneuten Einladung an Kagel kam, die dieser dann allerdings nicht akzeptierte. Die Frage, ob Kagel in Darmstadt die ihm zustehenden Entfaltungsmöglichkeiten gefunden hat, bleibt also offen in einer Entwicklungsphase der Ferienkurse, in der zuvor abgerissene Verbindungen zu anderen Komponisten seiner Generation erneuert worden sind (etwa 1990 zu Cage und Xenakis, 1996 schließlich sogar zu Stockhausen).
Man könnte Zweifel daran anmelden, ob der Darmstädter Generationswechsel in den späten siebziger Jahren in vergleichbarer Professionalität und internationaler Repräsentanz gelang wie zwei Jahrzehnte zuvor unter den Auspizien der sogenannten "Schule von Darmstadt" - oder ob in den siebziger jahren nicht eher verheißungsvolle, noch nicht ausgeschöpfte Entwicklungen gestoppt wurden, ohne daß damals rechtzeitig für adäquate Kompensation gesorgt worden wäre. Vor allem im Falle Kagels kann deutlich werden, daß die Geschichte Darmstadts nicht nur das tatsächlich Erreichte umfaßt, sondern auch viele unvollendet gebliebene Ansätze, die darüber hinausweisen - und dies schon seit den späten 50er Jahren.
Schon in einem am 27. 12. 59 an Wolfgang Steinecke gerichteten Brief an Wolfgang Steinecke spricht Kagel ein Projekt an, das einige Jahre später Karlheinz Stockhausen öffentlich erwähnt hat: In seinem Nachruf auf Wolfgang Steinecke, der kurz vor Weihnachten 1961 einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen war, sprach Stockhausen von Plänen eines längerfristigen, nicht auf nur wenige Wochen eines jährlichen Ferienkurses beschränkten Musikzentrums. Aus Kagels Brief erfahren wir, daß Steinecke schon 1959 von Plänen wußte, ein solches Zentrum in Köln zu gründen. (Die Begleitumstände lassen darauf schließen, daß er ein solches Vorhaben keineswegs als unerwünschte Konkurrenz zu den Darmstädter Ferienkursen ansah. Die Schwierigkeiten des Projektes, von denen Kagel ihm erzählte, dürften ihn keineswegs erfreut haben.) Was zunächst Kagel und Stockhausen gemeinsam zu erreichen versucht hatten, führte 1963, nachdem die Wege beider Komponisten sich getrennt hatten, zur Gründung der "Kölner Kurse" unter der Leitung Stockhausens. (Später, nachdem Stockhausen in einer veränderten personalpolitischen Konstellation zurückgetreten war, trat Kagel seine Nachfolge an.) Ernst Thomas, der Nachfolger Steineckes, sah in der Gründung der Kölner Kurse eine Konkurrenz für die von ihm geleiteten Ferienkurse und lud Stockhausen in den Jahren 1964 und 1965 nicht nach Darmstadt ein. Gerade in diesen Jahren trat Kagel verstärkt in Darmstadt hervor, z.B. mit wichtigen Beiträgen zu den Kongressen über Notation und Form. Als später, seit 1966, Stockhausen wieder nach Darmstadt eingeladen wurde, wurden die Weichen anders gestellt. 1967 und in den folgenden Jahren war Kagel nicht als Dozent in Darmstadt tätig. Mehr und mehr geriet er in kritische, schließlich auch öffentlich artikulierte Distanz zu den Darmstädter Ferienkursen. Sein Votum fiel schließlich um so stärker ins Gewicht, weil 1970 auch die meisten Darmstädter Ferienkursteilnehmer das Programmangebot als zu eng kritisiert und im Rahmen eines umfangsreichen Vorschlagspaketes auch die (Wieder-)Einladung Kagels verlangt hatten. Dieser Vorschlag wurde 1972, 1974 und 1976 befolgt, nachdem der Thomas inzwischen zur Seite gestellte Programmbeirat über Christoph Caskel den Darmstädter Kontakt zu Kagel wiederhergestellt hatte und die anfänglich schwierigen Verhandlungen zu einem Erfolg geführt hatten. So konnte es erneut dazu kommen, daß durch Kagel spezifische musikübergreifende Aspekte in Darmstadt eingebracht wurden - vor allem Aspekte des instrumentalen Theaters, der medialen Vermittlung von Musik und der Integration von Musik und Hörspiel. Unter dem letztgenannten Aspekt wurde, einer Anregung Kagels folgend, 1976 auch Klaus Schöning nach Darmstadt eingeladen - der verantwortliche Redakteur des Hörspielstudios des WDR,; in dieser Funktion der wohl wichtigste Pionier des Neuen Hörspiels und der Akustischen Kunst, der damals bereits mehrere Hörspiels Kagels produziert hatte (u. a. EIN AUFNAHMEZUSTAND, 1. bis 3. Dosis, 1969; PROBE, 1970; INNEN, 1970; GUTEN MORGEN, 1970; SOUNDTRACK, 1974; DIE UMKEHRUNG AMERIKAS, 1978). Kagel, der 1968 Stockhausen als Leiter der Kölner Kurse abgelöst hatte und dort bereits das Thema "Musik als Hörspiel" angesetzt hatte, hat in seiner Darmstädter Arbeit hier wie auch bei früheren Gelegenheiten versucht, musikimmanente Beschränkungen zu überwinden und musikübergreifende, interdisziplinäre Projekte anzuregen. Seine Auseinandersetzung mit dem Hörspiel verstand er in diesem Zusammenhang auch als implizite Antwort auf politisch motivierte Kritik an Neuer Musik und insbesondere an seiner Arbeit, wie sie seit den frühen siebziger Jahren vor allem in Deutschland geübt worden ist: Kagel, der sich gegen diese Kritik mit äußerster polemischer Schärfe gewehrt hat, legte großen Wert darauf, sein politisches Engagement nicht in symbolisch verschlüsselter, nach seiner Auffassung für eindeutige Aussagen ungeeigneter Musik zu artikulieren, sondern in produktiver Konfrontation von Musik und Sprache: Als kritische Auseinandersetzung mit manipulativer Werbung sowie mit ihrem gesellschaftlichen und politischen Kontext (im Hörspiel GUTEN MORGEN), mit der Nivellierung und Verrohung der Wahrnehmung, des Denkens und der Sprache durch das Fernsehen (im Hörspiel SOUNDTRACK), mit der mörderischen Zerstörung des Denkens, der Sprache, der Kultur und der physischen Existenz der Besiegten und Unterdrückten in Vergangenheit und Gegenwart (DIE UMKEHRUNG AMERIKAS - ein Hörspiel als Gegenstück zur thematisch verwandten musikalisch-szenischen Komposition MARE NOSTRUM).
Am 24. 1. 76 schrieb Mauricio Kagel an Ernst Thomas, um anzukündigen, er werde in Darmstadt ein ausführliches Seminar "über die mannigfalitge Problematik des neuen Musikhörspiels" halten. In Verbindung mit den Sitzungen dieses Seminars sollte Klaus Schöning "zwei Tage lang in Darmstadt verschiedene Produktionen und Hörspielszenen vorführen, die sowohl von der Behandlung der Sprache wie auch in der Art des Einsatzes von Geräusch und Musik mustergültigen Wert haben." Schöning sollte verschiedene Produktionen aus 5 Jahrzehnten der Hörspielgeschichte vorführen und "jeweils den historischen und technischen Aspekt des jeweiligen Hörspiels erörtern." - Am 15. 2. sendet Kagel präzisierende Themenvorschläge: Er selbst will zwei Seminare halten:
1. HÖRSPIELKOMPOSITION
Form Dramaturgie Realisation
2. KANTRIMIUSIK
Authentisch Apokryphes als Originalmusik
Für den Beitrag von Klaus Schöning schlägt er folgenden Titel vor:
HÖRSPIEL UND NEUES HÖRSPIEL
Einführungen Vorführungen Gespräche
Im Programm der Ferienkurse sind Kurse Kagels am 17., 18., 19. und 20. Juli vermerkt, ferner am Abend des letzten Kurstages ein Kagel-Konzert (mit KANTRIMIUSIK). An den ersten beiden Kurstagen finden im Anschluß an die Seminarsitzungen Kagels die von ihm vorgeschlagenen Veranstaltungen Klaus Schönings statt.
Nach dem Abschluß der Ferienkurse schreibt Thomas am 26. 8. an Kagel und erbittet bis zum 15. 9. seinen "Beitrag in der projektierten Form - Zwiegespräch mit Herrn Schöning". Mit Hinweis auf die sehr knappe Terminierung schicht Kagel statt des vereinbarten Gesprächs mit Klaus Schöning ausführliche, mit einem kurzen Vorwort versehene Auszüge aus seinem neuen Hörspiel DIE UMKEHRUNG AMERIKAS. Sein Beitrag ist der einzige Hörspieltext, der jemals in einen Band der "Darmstädter Beiträge" Eingang gefunden hat. - Diesen Text hatte Kagel auf den Ferienkursen 1976 ausführlich präsentiert und erläutert - zu einem Zeitpunkt, als das Manuskript abgeschlossen, aber noch nicht produziert war. (Die Produktion sollte im September 1976 beginnen.) In dieser Situation war Kagel auf den Ferienkursen darauf angewiesen, nicht nur Regieanweisungen, sondern auch Sprechtexte (sogar mit wechselnden Rollen) selbst zu verlesen und wichtige technische Prozeduren (vor allem die hochexpressiven Rückwärts-Wiedergaben rückwärts gesprochener Sprache - die technische Manipulation der doppelten Umkehrung von Sprache) gleichsam live mit Aufnahmen der eigenen Stimme nachzustellen sowie die vorgesehenen Musik-Zuspielungen teils mit eigenem Gesang, teils mit klanglichen Demonstrationen von ihm entwickelter spezieller Rasselinstrumente vorzustellen. So kam es dazu, daß 1976 nicht nur fertige Hörspiele (GUTEN MORGEN, SOUNDTRACK) vorgeführt wurden, sondern auch eine Produktion gleichsam in statu nascendi kennenzulernen war.
In allen drei Hörspielen, die Mauricio Kagel in Darmstadt vorstellte, ist der Text als eigenständige und dominierende Schicht ausgebildet. Indem Kagel ausführlich auf Thematik und Anlage der von ihm selbst verfaßten Texte einging, machte er deutlich, daß er auch die Erfindung des Textes als integralen Bestandteil sines Themas "Hörspielkomposition" auffaßte (also den Begriff der Komposition über rein musikimmanente Bereiche hinaus erweiterte - in einem Kontext, der in anderen Bereichen seiner Arbeit bis zur Komposition mit nicht-klingenden Materialien führen kann). Im Vergleich der drei Darmstädter Hörspielanalysen Kagels läßt sich verdeutlichen, daß hier aus unterschiedlichen Themenstellungen sich jeweils unterschiedliche Textstrukturen ergeben haben: In GUTEN MORGEN aus der scheinbar zufälligen Reihung des Gleichartigen - der massierten, durchweg geschrieenen und mit tonal schwebenden Akkordmustern, gelegentlich auch mit drastischen Geräuschen begleiteten Werbespots; in SOUNDTRACK aus der Überlagerung von scheinbar isolierten, scheinbar sinn- und zusammenhanglosen Satzfetzen (Sprache aus dem Fernsehlautsprecher - Sprache der fernsehenden Familienmitglieder) in Verbindung mit Musik (Akkordmuster - gespielt vom Sohn des Hauses, der im Nebenzimmer Klavier üben muß und zwischendurch immer wieder vergeblich versucht, in das Fernsehzimmer zu kommen) und Geräuschen (des fiktiven TV-Westernfilms); in DIE UMKEHRUNG AMERIKAS aus der Abfolge unterschiedlicher Teile, die den zielgerichteten Prozeß sprachlicher und politischer Brutalisierung, Unterdrückung und Vernichtung darstellt.
In allen drei Hörspielen bezieht sich die Hörspielkomposition und -realisation nicht nur auf Musik im engeren Sinne, sondern auch auf die Erfindung des Textes und gegebenenfalls der Geräusche. Die Sprache bezieht Kagel ein, weil sie politische Zusammenhänge anzusprechen vermag, für deren deutliche und unzweideutige Benennung sich nach seiner Auffassung die Musik nicht eignet - sei es in Zusammenhängen der Medienkritik (der manipulativen Fernsehwerbung oder der verrohenden Sprache der Fernsehfilme), sei es im Zusammenhang der Kritik von Rassismus, Kolonialismus und Völkermord.
In seinen Darmstädter Hörspielseminaren hat Kagel seine produktive Skepsis an der politischen Wirkung von Musik zugleich bestätigt und dementiert. Auch in dieser Hinsicht hat er wichtige Ideen in Darmstadt eingebracht - Ideen allerdings, die dort keine bleibende Statt gefunden haben, da es nur für relativ kurze Zeit möglich war, ihnen dort den ihnen gebührenden Platz zu verschaffen.
Vor allem in seinen Seminaren der Jahre 1974 und 1976 hat Kagel nicht nur den internen Veränderungen der Darmstädter Ferienkurse, sondern auch den Veränderungen in seiner eigenen Musik Rechnung getragen: Einerseits konzentrierte er sich - in ähnlicher Weise, wie es in den frühen siebziger Jahren, teilweise schon vorher, auch in Darmstädter Kursen seiner Generationskollegen, etwa von Stockhausen und Ligeti, zu beobachten war - auf die Analyse eigener Werke, die in der Regel dann auch in Darmstadt aufgeführt wurden; andererseits wollte Kagel auch dem Umstand Rechnung tragen, daß es seit den frühen siebziger Jahren (wie er selbst es mir gegenüber einmal ausgedrückt hat) in seiner Musik einen "neuen Stil" gibt. Erste Dokumente dieses "neuen Stils" sind einerseits sein Hörspiel SOUNDTRACK, andererseits sein Instrumentalzyklus PROGRAMM. Im Bereich des Hörspiels treten Abgrenzungen zwischen Sprache, Geräusch und Musik wieder deutlicher hervor (nachdem zuvor - besonders in EIN AUFNAHMEZUSTAND, 1. Dosis, und in anderen Pionierwerken des "Neuen Hörspiels", etwa von Ferdinand Kriwet und Franz Mon, diese Abgrenzungen radikal in Frage gestellt worden waren). Dementsprechende Veränderungen zeigen sich auch in der inneren Faktur von Kagels Musik: Die Integration von Melodie, Rhythmus und Instrumentation in komplexer Klangkomposition sowie die Einbettung der Musik in übergreifende, z. B. szenische Zusammenhänge verliert an Bedeutung, und statt dessen tritt die Konzentration auf Einzelaspekte etwa von Melodie, Harmonie und Rhythmus wieder stärker hervor. In den medienkritischen Hörspielen GUTEN MORGEN und SOUNDTRACK konzentriert die Struktur der Musik im engeren Sinne sich auf Tonstrukturen - seien es arpeggierte Klavier-Dreiklänge, in schwebender Tonalität einander ablösend (SOUNDTRACK: mit Kagel als Klavier-Improvisator in der von ihm realisierten Studio-Produktion, während in der zuvor fertiggestellten schriftlichen Vorlage aleatorisch verknüpfbare Einzelakkorde und einige Arpeggierungsregeln fixiert sind; später hat Kagel die separate Klavier-Musikspur seines Hörspiels in traditioneller Notation als Klavierstück AN TASTEN ausgearbeitet); seien es Überlagerungen von in schwebender Tonalität kombinierten, aus unterschiedlichen Terzschichtungen hervorgegangenen Akkorden (GUTEN MORGEN: Vierklänge, Septakkorde, im Chor, der die Namen der in den Werbespots angepriesenen Produkte singt; instrumentale Fünf- bzw. Sechsklänge, Non- bzw. Undezimakkorde, mit Blechbläsern bzw. Hammondorgel; in einer rein instrumentalen Um- bzw. Ausarbeitung dieses Stückes, die den Titel ABEND führt, fallen die aggressiven Werbetexte fort, und statt dessen kommt eine weitere instrumentale Schicht hinzu: mit Siebenklängen, Tredezimakkorden, im Klavier). In dem Hörspiel DIE UMKEHRUNG AMERIKAS, dessen Text sich auf das historische Modell der Conquista, der Massenvernichtung der Indianer durch die Spanier, bezieht, erscheint die Musik in extremer Reduktion: bald in einfachen ein- oder zweistimmigen Gesangspassagen, bald in kargen Rhythmen von Rasselinstrumenten. Andererseits wird hier, noch radikaler als in den beiden vorausgegangenen medienkritischen Hörspielen, auch die gesprochene Sprache in ihrem klanglichen Eigenwert hervorgehoben - bis hin zur technischen Manipulation aufgenommener Sprache, der klanglichen Darstellung des sprachlichen und physischen Terrors: Die Eroberer, deren Sprache unverzerrt bleibt, zwingen ihren Opfern die Sprache der Sieger auf - den Verlust der eigenen Sprache und das mühsame, qualvolle Erlernen einer anderen.
Kagels Darmstädter Analysen eigener Werke, insbesondere seine allgemeinen und analytischen Anmerkungen zur eigenen Hörspielarbeit, sind bisher nicht in vollständigen und autorisierten Transkriptionen zugänglich. Wer an seinen Veranstaltungen teilgenommen und deren Tonbandaufnahmen angehört hat und überdies vergleichbare Darmstädter Veranstaltungen anderer Komponisten kennt, könnte sich fragen, ob trotzdem Versuche genauerer, unter Umständen auch vergleichender Charakterisierung möglich und sinnvoll sein könnten - Vergleiche etwa mit Kursen von Iannis Xenakis, der in Darmstadt eher über die mathematischen Grundlagen seines Musikdenkens als über kompositionstechnische Details einzelner Werke sprach; oder von György Ligeti, der in lockerer, bildhafter, frei assoziierender und von vielfach verschachtelten Exkursen durchsetzter Rede über eigene (oder manchmal auch andere, zeitgenössische oder traditionelle) Musik sprach; oder von Karlheinz Stockhausen, der über Kompositionstechnik und Formgestaltung seiner Werke genauestens informierte. Daß Kagel ganz andere Wege gesucht hat, wird vielleicht am deutlichsten in den Hörspielseminaren, die 1976 den Schwerpunkt seines bis jetzt letzten Darmstädter Jahres bildeten. Kagel sprach hier mit größter sprachlicher Präzision (deutsch - abschnittsweise wechselnd auch in eigener, teilweise inhaltlich modifizierter spanischer oder französischer, gelegentlich auch englischer Übersetzung). Dabei ging es ihm in erster Linie nicht um die bildhafte Deutung musikalischer Sachverhalte oder um kompositionstechnische Präzision; wichtiger erschienen ihm die Auseinandersetzung mit spezifischen technischen und dramaturgischen Aspekten der Hörspielarbeit und die Einordnung musikalischer Details in über die Musik hinausweisende Zusammenhänge - die Erinnerung daran, daß seine Musik ihre eigenen Bedingungen und Vernetzungen im Zeitalter der technischen (Re-)Produzierbarkeit mitzureflektieren versucht. Was Kagel 1976 in Darmstadt vorgeschlagen und - in Zusammenarbeit mit Klaus Schöning - realisiert hat, zielt hinaus auch über die in den dortigen Kursen bis dahin und weiterhin vorherrschenden, weitgehend an musikimmanenten Traditionen orientierten Vermittlungsformen. Verändert hat Kagel allerdings weniger die Ferienkurse, zu denen er seit 1978 nicht mehr gekommen ist (nicht einmal 1992, als er - anders als zwei Jahre zuvor John Cage und Iannis Xenakis - auf eine (Wieder-)Einladung durch Friedrich Hommel, den seit 1982 amtierenden Nachfolger von Ernst Thomas, nicht einging), wichtiger war es, daß in Darmstadt sich damals neue Kontakte zu einer musikübergreifenden Institution, dem Hörspielstudio des WDR, ergaben - Kontakte, die sich auch auf die künftige Arbeit dieses Studios ausgewirkt haben. So sind Impulse zur produktiven Veränderung einer Institution wie der Darmstädter Ferienkurse von dieser selbst zwar nicht aufgegriffen, aber doch zumindest indirekt durch sie nach außen wirksam geworden. Kagel - ein Komponist, der oft und intensiv gegen voreilige Selbstbeschränkungen musikalischer, kultureller und anderer Institutionen rebelliert hat - hat so selbst in einem reinen Musikzentrum wie Darmstadt deutlich gemacht, wie wichtig es ist, über scheinbar selbstverständlich gewordene Begrenzungen hinauszudenken - in phantasievoll analysierender Prüfung und im originellen Zusammendenken des scheinbar Unvereinbaren stets neue Wege zu suchen; Wege zu einer Musik, die sich ständig verändert im Wechsel zwischen rückblickender und vorausschauender Inspiration, zwischen dem zeitlich, räumlich und kulturell Nahen und Fernen, zwischen dem vordergründig selbstverständlich Erscheinenden und dem rätselhaft Paradoxen der zugleich allgegenwärtigen und unergründlichen komplexen Erfahrung.
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