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7.38 Musique Concrete Kurzfassung: Diesseits und Jenseits


Rudolf Frisius

Musik dieseits und jenseits der Grenzen

Alternatives Hören im 20. Jahrhundert: Konkrete Musik

1. Die andere Musik

Lieben Sie Karas oder Pierre Henry - die süffige Filmmusik zu Der dritte Mann oder die rüde Klangcollage Antiphonie? Oder gefällt Ihnen beides nicht, und Sie hören statt dessen lieber Mozart?

Vielleicht gibt es auch Musik jenseits solcher Schubladen - jenseits von Etikettierungen als populär oder seriös, als U oder E, als modern oder klassisch.

1952, in einer Schallplattendokumentation zehnjähriger experimenteller Radioarbeiter, hat Pierre Schaeffer, der Erfinder der musique concrète, einen witzigen Hörclip veröffentlicht, in dem er eine jovial-bullige Männerstimme, gleichsam als Stimme des etwas anspruchsvolleren Normalhörers, auf verschiedene Musikzuspielungen reagieren läßt. In diesem Beispiel wird deutlich, was das Besondere der konkreten Musik ausmacht: Sie ist Musik jenseits der vorgefertigten Schubladen.

Die Aufnahme beginnt mit einer kurzen Einspielung der populären Filmmusik zu Der dritte Mann. Ein heftig protestierender Mann, die Stimme des "Normalhörers", bringt diese Musik zum Schweigen. Auch das nächste Beispiel gefällt ihm nicht: die schroffen Klänge der seriellen Tonbandcollage Antiphonie von Pierre Henry. Statt dessen begeistert ihn Musik aus der guten alten Zeit: Ah, vous dirais-je, Maman à la Mozart - behutsam modernisiert im Arrangement für Singstimme und Klavier, anschließend pseudo-klassisch variiert. Dann geht die Verwandlung noch weiter - von bekannten Instrumentalklängen der Begleitmusik bis zu technisch produzierten, konkreten Klängen. Eine zweite Männerstimme meldet sich mit einer Frage an den Normalhörer: "Nun, was sagen Sie denn dazu?"

(Beispiel 1: Pierre Schaeffer: Pochette surprise, 1952)

Die musique concrète, die Pierre Schaeffer 1948 erfunden hat, sperrt sich gegen voreilige Rubrizierungen. Ihre Klänge oszillieren zwischen dem Alten und Neuen, zwischen dem Bekannten und Unbekannten. Sie arbeitet nicht, wie die traditionelle Musik, mit vokalen und instrumentalen Klängen, sondern mit aufgenommenen Klängen - also nicht mit den Klängen selbst, sondern mit ihren technisch konservierten oder sogar produzierten Bildern. Während die traditionelle Musikerfindung sich vom Abstrakten zum Konkreten bewegt (von der Partitur zur Aufführung), geht die konkrete Musik den umgekehrten Weg (von der realen Klangerfahrung zum musikalisch strukturierten Klang).

Am 1. November 1979 wurde in Paris ein kurzes Stück von Pierre Schaeffer aus der Taufe gehoben, das die konkrete Musik gleichsam im Disput mit der abstrakten Musik präsentiert: Es beginnt mit mit vier Metronomschlägen, in deren Tempo anschließend ein Pianist traditionell notierte Musik zu spielen beginnt: das c-moll-Präludium aus dem 1. Teil von J. S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier". Schon nach 2 Takten ändert sich das Klangbild: Der Pianist hält an, und die beiden folgenden Takte des Stückes sind, im Cembaloklang, vom Tonband zu hören. (Per Bandschnitt wird der Hörer gleichsam vom modernen Klavierklang zurück in die Bachzeit versetzt.) Danach geht es im taktweisen Wechsel zwischen Klavier und Tonband weiter, mit neuen Klangkontrasten - bald zurückkehrend zum Klang des Flügels, bald im verfremdeten Klavierklang. Der Pianist gerät mehr und mehr in Konflikt mit der Tonbandpartie, die sich mehr und mehr von "natürlichen" Instrumentalklängen entfernt - nicht nur im verfremdeten, klanglich und rhythmisch "verwackelten" Klavierklang, sondern auch mit präparierten Klavierklängen oder sogar mit der Alltagswelt entstammenden Geräuschen oder mit Zitaten aus Schaeffers konkreter Musik - mit Klängen klappernder Stäbe, von Metalltellern, einer afrikanischen Sanza, einer mexikanischen Flöte und schließlich einer Lokomotive: Schaeffer verwandelt Bachs Prélude in ein Bilude, dessen wehmütiger Untertitel ("Eternels regrets") mit melancholischer Ironie auf Nahes und Fernes anspielt.

(Beispiel 2: Pierre Schaeffer, Bilude, 1979, für Klavier und Tonband)

In Schaeffers Bilude verbindet sich live gespielte "abstrakte" (notierte) Musik mit konkreten Klängen, die vom Tonband kommen und sich im Verlauf des Stückes mehr und mehr aus der rhythmischen Strenge des Klavierparts herauslösen - in ironisch gebrochener Metamorphose des wohltemperierten in ein "übel" präparierten Klavier. Die Tonbandpartie läßt erkennen, wie Bachs abstrakte Klangstrukturen in der Begegnung mit konkreten Klängen sich gleichsam von innen heraus zersetzen.

(Beispiel 3: Pierre Schaeffer, Bilude, 1979: Schluß der Tonbandpartie)

2. Musik - Klangkunst

2. 1 Konservierte Klangsplitter

Die konkrete Musik ist entstanden als Musik der konservierten Klangsplitter - aus der Studioarbeit mit aufgenommen Klängen, wie sie Pierre Schaeffer 1943 in einem radiophonen Versuchsstudio in Beaune begonnen hatte, wobei zunächst die radiophone Übermittlung von Literatur und das experimentelle Hörspiel im Vordergrund standen. 1948 ging Schaeffer noch einen Schritt weiter, als er aufgenommene Klänge auch selbständig, im Kontext einer eigenständigen autonomen Klangkunst einzusetzen begann (also auch jenseits illustrativer oder dekorativer Begleitfunktionen, wie man sie aus dem Hörspiel kennt). Um in seinen Experimenten, für die damals nur Schallplatten und verschiedenen Schallplattenspieler zur Verfügung standen, mit den Klängen besser experimentieren zu können, machte Schaeffer Gebrauch von einem Effekt, den man von defekten Schallplatten her kennt: Von der geschlossenen Schallplattenrille, die bewirkt, daß ein kleines Fragment des Aufgenommenen mechanisch wiederholt wird. Schaeffer hat gezeigt, wie man aus einem technischen Defekt neue Möglichkeiten der Klangproduktion entwickeln kann: Solche technisch produzierten Ostinati lassen sich mit unterschiedlichen Klängen realisieren, die sich so beliebig oft abspielen und dabei genauer studieren lassen - mit Klangeffekten, die in späterer Zeit mit Tonbandschleifen oder mit den loops von Samplern realisiert werden sollten.

(Beispiel 4: Geschlossene Schallplattenrillen:

a) Demonstration aus einem Vortrag von Pierre Schaeffer

b) Zusammenschnitt verschiedener Klangmuster)

2.2 Klangsplitter aus verschiedenen Erfahrungsbereichen: Stimmen - Musik - Geräusche

Als Material der konkreten Musik kommen potentiell alle Klänge in Frage, die sich mit technischen Mitteln konservieren (und gegebenenfalls weiter verarbeiten) lassen - also nicht nur Musik im engeren Sinne, sondern beispielsweise auch Stimmen von Mensch und Tier oder Geräusche. Aufnahmen von Hörereignissen, die diesen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen entstammen, lassen sich auf unterschiedliche Weisen hören: Stimmen in der Kombination des Hörens mit dem Versuch des (begrifflichen) Verstehens (besonders dann, wenn es sich um klingende menschliche Sprache handelt) - Geräusche im Versuch, das Gehörte, als Verweis auf einen realen Vorgang, zu identifizieren - Musik im Versuch, Klänge um ihrer selbst zu hören.

Durch Schnitt und Montage kann man aus Aufnahmen von Stimmen, Musik und Geräuschen kleinste Sinneinheiten herauslösen: Das Wort aus der Sprache (oder auch eine einzelne Figur aus dem Gesang eines Vogels) - den Ton (eventuell auch den Akkord oder das Motiv) aus der Musik - den einzelnen realen Vorgang aus dem komplexen Kontext der Geräusche (z. B. das Anlassen eines Motors im Kontext von Verkehrsgeräuschen). Wenn diese kleinsten Sinneinheiten durch Schnitt und Montage in noch kleinere Sinneinheiten zerlegt werden, kann es geschehen, daß die ursprünglichen Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Erfahrungsbereiche (Stimme/Sprache - Musik - Geräusche) für den Höreindruck unwesentlich oder sogar unerkennbar werden. Statt dessen werden Klangobjekte mit Charakteristika erkennbar, wie man sie in allen drei Erfahrungsbereichen finden - z. B. kurze Impulse sei es als Sprach- oder Vogellaut, als Trommelschlag oder als kurzes Aufjaulen eines Motors.

(Beispiel 5: Pierre Schaeffer: Klanglehre - Solfège de l´objet sonore, 1967

Stimme/Sprache - Musik - Geräusch

Wort / Vogelruf - Ton (Akkord, Motiv) - Anlassen eines Motors

Impulse aus verschiedenen Erfahrungsbereichen: Sprache/Vogelgesang - Trommelschlag - Motor)

Schon in dem ersten Zyklus konkreter Musikstücke, den Pierre Schaeffer 1948 als Concert de bruits (Geräusch-Konzert) im Pariser Rundfunk präsentierte, findet sich ein Stück mit Klangsplittern aus den drei Erfahrungsbereichen, die Schaeffer 1967 in seiner Klanglehre unterschieden hat: In seiner Etude pathétique finden sich (mechanisch wiederholte, als "geschlossene Rillen" verarbeitete) Klangsplitter von Stimmen (Wörter - Hustengeräusche) und von vorgefundener Musik (instrumental: amerikanische Akkordeonmusik, vokal: balinesischer Priestergesang), kombiniert mit Zuspielungen von Geräuschen (ein tuckernder Schleppkahn; scheppernde Blechgeräusche wie in Beispielen 2 und 3).

(Beispiele 6 und 7: Pierre Schaeffer: Etude pathétique

a) Beispiel 6: Ausgangsmaterialien: Wörter, Husten - Akkordeon, Priestergesang

b) Beispiel 7: Musik (Ausschnitt)

Tuckernder Schleppkahn - geschlossene Schallplattenrillen -

Schluß mit scheppernden Metallgeräuschen)

3. Komponierte Geräusche

3.1 Eisenbahn-Hörstücke im Wandel der Jahrzehnte

Konkrete Musik ist der Versuch, sich hörend mit der sinnlich erfaßbaren Wirklichkeit auseinanderzusetzen - in ihrer verwirrenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit; selbst in der Konfrontation mit den Antinomien musikalischen Denkens, das sich von diesen scheinbar chaotischen, jeder systematisierenden Ordnung spottenden Phänomene immer wieder herausgefordert fühlt.

Der konkrete Musiker sollte imstande sein, sich auch mit scheinbar selbstverständlichenund trivialen Aspekten der alltäglichen Hörerfahrung unter stets sich wandelnden Fragestellungen auseinanderzusetzen, sie unter veränderten Perspektiven immer wieder neu zu entdecken. Dabei sollte er nicht vergessen, daß die aufgenommenen Klänge, die er verwendet, niemals mit der Realität verwechselt werden dürfen, der sie womöglich entstammen: Selbst die angeblich "realistischen" Klänge oder Geräusche sind allenfalls Abbilder der Realität. Auch dann, wenn der Hörer in ihnen noch Spuren der Realität zu identifizieren vermag (was - bei vielfältig montierten, gemischten und transformierten Klängen - keineswegs immer der Fall sein muß), kommt es keineswegs allein auf das Wiedererkennen an: Wichtig ist nicht so sehr, was aufgenommen worden ist, sondern wie und in welchem Zusammenhang. Dies läßt sich im Vergleich zeigen: Das erste Thema, das Pierre Schaeffer 1948 in konkreter Musik verarbeitete, ist auch in späteren Jahren mehrfach von anderen konkreten Musikern wieder aufgegriffen worden: unter veränderten Perspektiven des Hörens, der technischen und musikalischen Gestaltung: Das Thema "Eisenbahn".

(Beispiel 8: Pierre Schaeffer: Etude aux chemins de fer, Anfang - größerer Zusammenhang)

Schaeffers Etude aux chemins de fer (Eisenbahn-Etüde) beginnt wie ein realistischer Hörfilm: Mit dem Anfahren des Zuges.

(Beispiel 9: wie 8, Anfahren)

Es folgen, nach einer Schnittstelle, Waggongeräusche, die in verschiedenen Aufnahmen aneinander montiert sind.

(Beispiel 10: wie 8, Waggongeräusche/Zusammenschnitt)

Im Folgenden werden Schnitt und Montage noch wichtiger - bis hinein in Details der rhythmisch organisierten, sich der Musik nähernden Kklanggestaltung. Man hört kurze Klangmuster von zwei verschiedenen, in "geschlossenen Rillen" (Beispiel 4) ostinatoartig gereihten Waggongeräuschen (a und b) in einer gleichsam musikalisch komponierten Montagestruktur. In einem ersten Entwurf hat Schaeffer hierbei noch eher abstraktes Montageschema vorgegebenen:

a-a-a-a b-b-b-b a-a-a b-b-b a-a b-b a b

(Beispiel 11: Demo zu 8: ursprüngliches Montageschema 4-4, 3-3, 2-2, 1-1)

Im ausgeführten Stück hat Schaeffer das starre Konstruktionsschema dieser Montagestruktur durch Verkürzung aufgebrochen, so daß es sich um so besser in den Zusammenhang der anderen Eisenbahngeräusche einfügt.

(Beispiel 12: wie : Waggongeräusche - verkürzte Montagestuktur 4-4, 3-3, 1 - Kolbenstöße)

Aus Schaeffers Aufzeichnungen geht deutlich hervor, daß die Ambivalenz zwischen "realistischen" und "musikalisierten" Geräuschen für ihn sehr wichtig war - eine Ambivalenz, die auch in später entstandenen Eisenbahnstücken anderer Komponisten wichtig geblieben ist und so immer wieder neue Lösungen ermöglicht hat.

1970 realisierte Bernard Parmegiani, ein Mitglied des von Schaeffer begründeten Experimentalstudios und seiner Forschungsgruppe GRM (Groupe de Recherches Musicales), ein Stück, das ebenfalls von Eisenbahngeräuschen ausgeht: Scheinbar "realistisch" beginnend, mit Zügen in voller Fahrt - jäh abstoppend (so plötzlich und unvermittelt, wie es in der Realität nicht möglich wäre) - nach einem Pfiff, in blitzartiger surrealistischer Verwandlung, gleich anschließend wieder in voller Fahrt - danach in ständig zunehmender klanglicher Differenzierung und Verwandlung: zunächst in scheinbarer Anpassung an die wechselnde Akustik verschiedener Außenaufnahmen, dann mehr und mehr sich der Musik nähernd, mit einem langen Ton, mit eingeblendeten rhythmischen Figuren, dann sogar mit einem tonalen Akkord. Die (pseudo-)realistischen Geräusche verwandeln sich also nach und nach in Musik im engeren Sinne, das Konkrete wird zunehmend abstrakt. (In einer Videofassung des Komponisten vollzieht sich dieser Prozeß auch im Bereich des Sichtbaren: Zunächst sieht man ein "realistisch" gefilmtes Gesicht, das der Hörer als Bild eines in der Eisenbahn Reisenden interpretieren kann; dann wird das Gesicht nach und nach elektronisch elektronisch - in einer Bildverarbeitung, die das ursprüngliche Konkrete mehr und mehr dem Abstrakten annähert.)

Beispiel 13: Bernard Parmegiani: L´oeil écoute, 1. Satz; 1970

Eisenbahngeräusche lassen sich mit musikalischen Ohren hören. Dies wußte auch die Popgruppe Ten Years After, als sie ihre Nummer Speed kills (aus dem Album Stonehenge) mit dem Accelerando einer anfahrenden Dampflok eröffnete und dieses dann, sobald "volle Fahrt" erreicht war, bruchlos in ein rasantes Schlagzeugsolo überblendete. - Ähnliche Prozesse der Verwandlung von Eisenbahngeräuschen in (Pop-)Musik hat auch Jacques Legeune realisiert. In seiner Komposition Parages (1974) gibt es einen Satz, in dem "realistische" Geräusche zunächst technisch verfremdet, dann in popmusikalische Schlagzeuggeräusche übergeleitet werden - in bruchlos sich fortsetzender rhythmischer Bewegung, auf die auch der Titel des Satzes anspielt: Rythme de parcous (Durchlaufender Rhythmus).

Beispiel 14: Jacques Lejeune: Rythme de parcours, aus Parages, 1974

Wiederum andere Perspektiven einer technisch produzierten Eisenbahnmusik lassen sich bei Jean Schwarz entdecken. In seiner Komposition And around findet sich ein Satz mit dem Titel Trains (Züge), in dem sich Aspekte einer "neo-realistischen" Gestaltung des Themas finden lassen.

Beispiel 15: Jean Schwarz: Trains, aus And around, 1984 (Anfang)

Michel Chion hat 1991 das Hörstück Crayonnés ferroviaires komponiert, in dem aufgenommene Eisenbahngeräusche mit Sprechtexten des Komponisten kommentiert werden - als vielseitig deutbare Sinnbilder konkreter Musik und der Ausdruckskraft aufgenommener Klänge, auch über das anekdotische Thema "Eisenbahn" hinaus.

Beispiel 16: Michel Chion: Crayonnés ferroviaires, 1991 (Anfang)

Christian Zanesi hat das Thema der fahrenden Züge unter veränderten Perspektiven neu entdeckt: In seiner Komposition Grand Bruit (1994) wollte er Eisenbahngeräusche nicht additiv, mit Schnitten, Montagen und Mischungen präsentieren, sondern als zusammenhängenden Vorgang. Während Schaeffer seine Stücke aus winzigen Stücken aus einzelnen Klangsplittern (z. B. Klangmustern aus Waggongeräuschen) zusammengesetzt hatte, hat Zanesi sein Stück aus einem einzigen großen Klangblock geformt - aus der zusammenhängenden Aufnahme einer Fahrt in der Metro, bei der der Passagier, also auch der mit dem Mikrophon bewaffnete Komponist, für längere Zeit eingesperrt ist in einen Waggon als Klangkäfig - ähnlich wie der Embryo in den Mutterleib. Hier entwickelt sich musique concrète aus der Realität nicht durch Zergliederung und umstrukturierende Neu-Zusammenstellung ("Komposition"), sondern aus der kontinuierlichen Umgestaltung eines vorgegebenen Zusammenhanges.

(Beispiel 17: Christian Zanesi: Grand Bruit, Anfang)

Eisenbahngeräusche lassen sich hören und interpretieren als Dokumente neuen Hörens und Komponierens. Für Pierre Henry, den zusammen mit Pierre Schaeffer wichtigsten Pionier und seit den Anfangsjahren produktivsten Komponisten der musique concrète, waren diese Eisenbahngeräusche wichtig als prägende Geräusche schon in seiner Kindheit: Er lebte in einem großen Garten, in dem man von fern die Geräusche der Eisenbahn hören konnte. Eisenbahngeräusche finden sich in seiner Musik in vielen Formen - sei es als mythische Relikte in der modernen Alltagswelt (Orphée, Neufassung 1958; hier finden sich Eisenbahnklänge in Verbindung mit im Studio "gespielten" konkreten Klängen, und Henry zitiert diese Episode später in einer autobiographischen Sequenz seines Hörspiels Journal de mes sons); sei es in klanglicher Umsetzung visueller Eindrücke (in dem 1984 entstandenen Hörspiel La Ville/Die Stadt, das angeregt wurde durch Walther Ruttmanns Film Berlin, die Sinfonie der Großstadt in einer nachträglichen Unterlegung der ursprünglich autonomen Hörspielmusik unter diesen Stummfilm rückt die Hörspielsequenz Trains an den Anfang und begleitet Ruttmanns Bilder einer nach Berlin führenden Eisenbahnfahrt).

Am Thema "Eisenbahn" läßt sich eindrucksvoll belegen, wie vielseitig und unorthodox die kompositorische Auseinandersetzung mit der klingenden Realität sich über Jahrzehnte hinweg entwickeln kann.

3.2 Maschinenmusik

Technisch produzierte Musik kann sich artikulieren als klingender Spiegel der technisch geprägten Umwelt. Vor allem Maschinen- und Fabrikgeräusche, wie sie Edgard Varèse in den Tonband-Interpolationen zu seinem 1954 uraufgeführten Orchesterstück Déserts verwendet, sind exemplarisch für die Klangwelt, die er jenseits der exakt notierbaren Tonhöhen und Rhythmen suchte: Eine Welt der ständig im Inneren bewegten Massen, Farben und Helligkeiten von Klängen und Klangenergien; Musik als Absage an die fixierten, starren, klar voneinander abgrenzbaren Parameter-Werte.

(Beispiel 18: Edgard Varèse: Déserts, 1954; Ausschnitt aus der ersten Tonband-Interpolation)

Was in den Tonband-Interpolationen von Edgard Varèse noch auf einzelne Klangsplitter beschränkt war und, auch im Tonbandpart, häufig noch mit Fragmenten rein instrumentaler Herkunft verbunden blieb, hat später bei anderen Komponisten stärkere Bedeutung gewonnen im Kontext weiter ausgreifender zusammenhängender Formprozesse: Philippe Carson verabeitet in seiner Komposition Turmac unterschiedliche, durch charakteristische Filterungen umgestaltete und neue profilierte Geräusche aus einer Zigarettenfabrik bald in quasi-harmonischen Klang-Grundierungen, bald in wechselnden, gleichsam melodisch-gestalthaft profilierten Einzelgeräuschen. Hier zeigen sich erste Ansätze einer Loslösung konkreter Musik von der aus dem Stummfilm übernommenen Montage-Ästhetik - Ansätze der Entwicklung bruchloser Kontinuität, wie sie später auch Luc Ferrari in vielen Sequenzen oder sogar in vollständigen Sätzen und Stücken seiner anekdotischen Musik weiterführen sollte und wie sie seit den siebziger Jahren, mit neuen technischen Möglichkeiten der Spannungssteuerung, auch in rein elektronischer Musik entscheidende Bedeutung gewonnen haben. Carsons Musik kann also belegen, wie die Zuwendung zur realen Hörwelt erste Anstöße zu Entwicklungen hat geben können, die über ihren ursprünglichen Kontext hinaus wirksam geworden sind und, vom Konkreten ausgehend, hineinwirkten in wichtige Bereiche der abstrakten Klang- und Formgestaltung.

(Beispiel 19: Philippe Carson: Turmac, 1961, 1. Satz)

1967 entstand eine Produktion von Francois Bayle, in der Maschinengeräusche zum sinnfälligen Symbol neuer musikalischer Tendenzen werden: In Hommage à Robur, einem Satz aus der von Jules Verne inspirierten Komposition Espaces inhabitables, erscheinen Maschinengeräusche wie jähe Einbrüche aus einer neuartigen, energiegeladenen Welt der bald explodierenden, bald frei ausströmenden Klänge.

(Beispiel 20: Francois Bayle, Hommage à Robur, 3. Satz aus Espaces inhabitables, 1967, Ausschnitt)

4. Musik mit Stimmen

4.1 Vogelstimmen

Die älteste Produktion der musique concrète, in der ausschließlich Stimmlaute verwendet werden, ist eine Vogelmusik. Das Klangmaterial, den aufgenommenen Gesang einer Nachtigall, hat Pierre Schaeffer einem Sendezeichen des italienischen Rundfunks entnommen. Daher der Titel: L´oiseau RAI (Der Vogel RAI). In diesem Stück verwendet Schaeffer ein kurzes Fragment, in dem vorwärts und rückwärts Aufgenommenes aneinandergeklebt ist - bald in originaler Form, bald mit veränderten Ablaufgeschwindigkeiten: sei es langsamer und tiefer, als Zeitlupe; sei es höher und schneller, als Zeitraffer.

(Beispiel 21: Pierre Schaeffer: L´oiseau RAI, 1950

Ausgangsmaterial: Klänge vorwärts und rückwärts -

Abwärtstransposition (langsamer und tiefer, Zeitlupe) -

Aufwärtstransposition (schneller und höher, Zeitraffer)

Im Wechsel der Klänge und der klanglichen, Veränderungen entwickelt sich das Stück - ähnlich wie eine Fuge, in der das Thema in verschiedenen Tonlagen erscheint.

(Beispiel 22: Pierre Schaeffer: L´oiseau RAI, 1950)

1963 realisierte Francois Bayle eine Vogelmusik zur Untermalung quasi-surrealistischer Vogelbilder von Robert Lapoujade. Drei Sätze aus dieser Vogelmusik hat er später auch als selbständige Musik veröffentlicht. Der erste Satz heißt L´oiseau chanteur (Der Singvogel). Hier erscheinen Aufnahmen eines exotischen Vogels (des brasilianischen Totenvogels Uirapuru), die sich, gleichsam im Wettstreit, mit aufgenommenen und zusammenmontierten Instrumentalklängen verbinden: Es wird deutlich, daß die Instrumente nicht so hoch und schnell spielen können, daß sie dem natürlichen Vogelgesang gewachsen wären. Die groteske Wettbewerbssituation wird noch verstärkt dadurch, daß auch technisch manipulierte (teils mit Rückwärtseffekten arbeitende, teils im Zeitraffer den hohen und raschen Vogellauten angenäherte) menschliche Stimmlaute mit einbezogen sind. Gleichwohl bleiben die menschlichen Musiker den Singvögeln unterlegen. Ihnen ergeht es nicht besser als Wagners Siegfried im Wettstreit mit dem Waldvogel.

(Beispiel 23: Francois Bayle: L´oiseau chanteur, 1963)

1970 realisierte Francois Bayle eine Komposition, die den organischen Klangfluß des natürlichen Vogelgesanges mit rein elektronischen Mitteln neu erschafft: L´Oiseau Zen - eine Synthese organischer, an europäischer Kunst (auch an bildender Kunst, etwa an Bildern von Paul Klee) geschulter Klang- und Formentwicklung mit einem quasi-orientalischen Kolorit neuartiger elektronischer Klänge, mit quasi-melodischen, als stilisierter Vogelgesang ausgestalteten Figuren, die aufgesetzt sind auf eine quasi-harmonische, bordunartige Klanggrundierung.

(Beispiel 24: L´oiseau Zen, 1970)

Vogelmusik, die Francois Bayle 1970 im Klangbild von "Figur und Grund" (figure et fonds) ausgestaltete, hat 14 Jahre später Jacques Lejeune in einem vielschichtig-synthetischen Vogelkonzert ausgeformt: In Nuit des oiseaux (Nacht der Vögel), in dichten Mischungen von sich wiederholenden und verwandelnden Klangmustern.

(Beispiel 25: Jacques Lejeune: Nuit des oiseaux, 1984)

Jean-Claude Risset hat Vogellaute eingeschmolzen in ein farbenreiches Panorama von Naturklängen, das seine 1985 entstandene Komposition Sud eröffnet und später in atmosphärisch ähnliche Computerklänge übergeht.

(Beispiel 26: Jean-Claude Risset: Sud, 1985)

4.2 Stimmlaute, Sprachlaute

4.2.1 Stimmlaute als Klangzellen

Wie stark sich konkrete Musik von herkömmlicher, mit traditionsgeprägten Instrumenten und Stimmen geprägter Musik unterscheidet, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der menschlichen Stimme: Traditionelle Vokalmusik ist in Tönen komponiert, die in Tonfolgen oder Akkorden beliebit bewegt, im Tonraum hinauf- oder hinabgeführt werden können, ohne daß dies die Identität der klanglichen Substanz wesentlich beeinträchtigt. Anders ist es mit aufgenommenen Tönen: Wenn sie in Aufwärts- oder Abwärtstranspositionen, in Zeitraffer- oder Zeitlupen-Effekten aufwärts oder abwärts bewegt werden können (wie es erstmals in den frühen fünfziger Jahren durch das in Pierre Schaeffers Studio entwickelte Transpositionsgerät Phonogen möglich geworden ist), dann ändert sich, zumindest bei größeren Intervallen, die Klangsubstanz erheblich, womöglich bis zur weitgehenden Unkenntlichkeit: Abstrakt vorgestellte Gesangstöne behalten ihre Identität eher als aufgenommene Gesangstöne. Die meisten Ordnungsvorstellungen der traditionellen Tonkunst und ihrer neueren Weiterentwicklungen erweisen sich also in der konkreten Musik als mehr oder weniger fragwürdig: Ein Denken in Skalen, Bewegungsrichtungen oder Sequenzierungen, aber auch in Tonreihen und ihren strukturellen Abwandlungen ist dem komplexen Klangmaterial der musique concrète nicht mehr angemessen.

In den frühen fünfziger Jahren, als in Schaffers Studio nicht nur (durch die Umstellung von der Schallplatte auf das Tonband) rhythmisch minutiöse Bandschnitte möglich geworden waren, sondern auch (durch die Entwicklung des Phonogens) gleitende oder chromatisch exakt abgestufte Transpositionen, entstanden zwei Tonbandstücke mit aufgenommenen Stimm- und Gesangslauten, in denen die Neuheit der verwendeten Klangmaterialien mit geradezu provozierender Deutlichkeit hervortritt: Monique Rollin variierte in Motet (1952) aufgenommene Gesangstöne entsprechend dem Notentext einer mittelalterlichen Motette.

(Beispiel 27: Monique Rollin: Motet, 1952)

Pierre Henry ging in seinen Vocalises (1952) noch einen Schritt weiter. Er konzentrierte sich auf eine rigorose serielle Montage mit denaturierten einzelnen Gesangstönen (in extremen Aufwärts- und Abwärtstranspositionen).

(Beispiel 28: Pierre Henry: Vocalises, 1952)

Die Vokal-Montagen von Monique Rollin und Pierre Henry sind vokale Homunkulus-Musiken. Konkretes, aus Äußerungen der menschlichen Stimme gewonnenes Ausgangsmaterial wird hier mit drastischen Methoden malträtiert - manipuliert nach abstrakten Kompositionsregeln der mittelalterlichen bzw. der seriellen Musik, gegen die sich die ihnen unterworfenen Materialien heftig zu sträuben scheinen. Hier zeigt sich ein offenkundiges Spannungsverhältnis zwischen konkreten Klängen und abstrakten Kompositionsprinzipien ebenso drastisch wie in den konkreten Etüden, die zwei führende Komponisten der seriellen Musik in Schaeffers Studio realisierten: Pierre Boulez (Etudes I, II 1951/52) und Karlheinz Stockhausen (Etude, 1952). Stockhausen zog daraus schon 1953 die Konsequenz, daß er sich auf rein synthetisch erzeugte, elektronische Klänge konzentrierte - ein neutrales, in Parameterwerten exakt ausmeßbares Klangmaterial, das sich für abstrakte serielle Manipulationen weitaus besser eignete. Zwei rein elektronischen Werken (Elektronische Studien I und II, 1953 und 1954) folgten allerdings schon seit 1956 größere Produktionen mit Ansätzen der Synthese zwischen elektronischer und elektronischer Klanggestaltung - zunächst in der Verbindung gesungener und elektronischer Klänge (Gesang der Jünglinge, 1956); später, in den sechziger Jahren, unter Einbeziehung vorgefundener Musikaufnahmen (Telemusik, 1966), auch in Verbindung mit Geräuschen und Sprechtexten (Hymnen, 1965-1967); seit den siebziger Jahren, in Sirius (1975-1977) und in verschiedenen Teilen des 1977 begonnenen musiktheatralischen Zyklus Licht, in vielfältigen Kombinationen serieller Tonstrukturen mit realistischen oder surrealistischen Geräuschaufnahmen oder Geräuschmontagen.

Was Monique Rollin und Pierre Henry 1952 in analoger Studiotechnik begannen, hat sich in der Folgezeit in verschiedenen Richtungen weiter entwickelt: In radikalen elektronischen Verfremdungen aufgenommener Stimmklänge bei Pierre Henry (Haut Voltage, 1956); in differenzierten Verarbeitungen aufgenommener Vokalklänge bei Luciano Berio, Bernard Parmegiani, Philippe Carson, Edgardo Canton und anderen; schließlich 1985, bei mehreren Vertreten einer jüngeren Generation, auch in rein digitaler Verarbeitung: Die Pariser Kollektivsuite Germinal ist eine Zusammenstellung aus kurzen Einzelstücken verschiedener konkreter Komponisten, in denen jeweils eine kurze Klangzelle, ein "germ", an den Anfang gestellt und anschließend in einer Klangstudie vielfältig variiert wird - beispielsweise die Babylaute eines kleinen Jungen (David Teruggi: Léo le jour) oder der gesprochene Name "Don Quixote" (Alain Savouret: Etude numérique, aux syllabes).

(Beispiele 29, 30: Aus Germinal, 1985

a) Beispiel 29: Daniel Teruggi: Léo le jour (Musik aus Babylauten)

b) Beispiel 30: Alain Savouret: Etude numérique, aux syllabes

(Musik aus dem gesprochenen Namen "Don Quixote"))

4.2.2 Verfremdete Stimmen

Am Beispiel aufgenommener Stimmlaute kann deutlich werden, wie radikal sich konkretes Klangmaterial verändern läßt - selbst in Techniken, die sich noch mit Verfahren der traditionellen Kompositionslehre vergleichen lassen.

Aufgenommene Stimmlaute haben andere Besonderheiten als aufgeschriebene Sprechtexte oder in Noten fixierter Gesang. Dies zeigt sich dann besonders deutlich, wenn die Aufnahmen technisch verändert werden - sei es in "absoluter", d. h. Tonhöhe und Ablaufgeschwindigkeit gleichzeitig modifizierender Transposition (Zeitlupe oder Zeitraffer) oder in anderen Veränderungen des Klangstoffes, sei es in Änderungen des Klangverlaufes, unter denen eine der zugleich einfachsten und sinnfälligsten die Rückwärts-Wiedergabe ist. Das Besondere dieser Technik kann man sich verdeutlichen, indem man sie vergleicht mit rückläufigen Wiederholungen in notierter Musik etwa bei Machaut und Bach, bei Haydn und Beethoven, bei Schönberg, Berg und Webern, bei seriellen Komponisten wie z. B. dem jungen Stockhausen. Von solchen traditionellen Krebs-Symmetrien unterscheiden sich rückwärts wiedergegebene Aufnahmen, vor allem von Stimm-, Sprach- und Gesangslauten, dadurch, daß hier nicht nur die Tonfolgen zeitlich umgekehrt werden, sondern auch die mikroskopischen Details im Inneren der Klänge selbst. So erklärt es sich, daß schon mit einfachsten technischen Möglichkeiten weitreichende klangliche Veränderungen möglich werden. Dies zeigt sich schon in Beispielen aus der Frühzeit der konkreten Musik, beispielsweise in der Symphonie pour un homme seul, einer 1949-1950 entstandenen Gemeinschaftsproduktion von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. In diesem Stück gibt es Passagen mit rätselhaften Stimmklängen, die ihr Geheimnis enthüllen, wenn man sie (zum Beispiel auf einem Tonbandgerät) in umgekehrter Richtung abspielt. Dann kann es geschehen, daß plötzlich verständliche Sprache vernehmbar wird - etwa ein Gedicht, das ein Mann und eine Frau rezitieren (im simultanen, aber asynchronen Vortrag desselben Textes).

(Beispiele 31, 32: Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul, 1949-1950

a) Beispiel 31 Musikausschnitt: Zwei verfremdete Stimmen

b) Demonstration: Voriger Ausschnitt wiedergegeben in umgekehrter Richtung:

In der krebsgängigen Wiedergabe werden eine Frauenstimme und eine Männerstimme erkennbar,

die simultan, aber asynchron dasselbe französische Gedicht rezitieren)

Krebsgängig wiedergebene Stimmaufnahmen haben häufig unverwechselbare klangliche Besonderheiten, die über die bloße zeitliche Umkehrung hinaus reichen. Das vorwärts und das rückwärts Wiedergegebene hört man häufig nicht einfach im Verhältnis zeitlicher Symmetrie, sondern als klanglich durchaus verschieden.

(Beispiele 33, 34: Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul, 1949-1950

a) Musikausschnitt, Anfang des Scherzo, Beispiel 33: Geräusche - verfremdete Stimmen

b) Beispiel 34 in umgekehrter Ablaufsrichtung, Beispiel 34:

Verfremdete Geräusche - originaler Stimmklang; englische Sprache, z. T. auch Gesang wird erkennbar)

Das Scherzo der Symphonie pour un homme seul beginnt mit einer Passage, in der natürliche, vorwärts wiedergegebene Klänge sich mit verfremdeten, rückwärts wiedergegebenen Stimmen verbinden (Beispiel 33). Wenn man dieses Beispiel in umgekehrter Verlaufsrichtung abhört, ergibt sich das umgekehrte Verhältnis: Man hört verfremdete, rückwärts wiedergegebene Geräusche und originalgetreue, vorwärts wiedergegebene (also identifizierbare und verstehbare) Stimm- und Sprachlaute (Beispiel 34).

Im Regelfalle läßt sich feststellen, daß bei einer rückwärts wiedergegebenen Sprachaufnahme die Sprachverständlichkeit verloren geht, während der Stimmklang noch weitgehend identifizierbar bleibt. (Dies erkennt man beispielsweise in einzelnen Passagen aus Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge, bei denen auch in der Rückwärtswiedergabe die Singstimme des zwölfjährigen Jungen, mit dem Stockhausen die gesungenen Texte aufgenommen hat, noch erkennbar bleibt). Wenn man statt der Verlaufsrichtung (vorwärts oder rückwärts) die Verlaufsgeschwindigkeit (Zeitlupe oder Zeitraffer) ändert, ergeben sich andere Wirkungen: Die Sprache kann, zumindest bei kleinen Transpositionsintervallen, verständlich bleiben; in jedem Falle aber ändert sich der individuelle, identifizierbare Klang der Stimme. Es gibt im Zeitraffer verfremdete Stimmaufnahmen, die man erst wieder heruntertransponieren muß, wenn man beispielsweise feststellen will, ob es sich um Männer- oder Frauenstimmen handelt.

(Beispiele 35, 36: Stimmaufnahme im Zeitraffer - Rekonstruktion des ursprünglichen Klangbildes

a) Beispiel 35: Musikausschnitt aus Symphonie pour un homme seul, Intermezzo

b) Beispiel 36: Tieftransposition von Beispiel 35: Stimmen werden sprachlich verständlich)

4.2.3 Stimmen der Massen - Einzelstimmen

In der Symphonie pour un homme seul spielt die menschliche Stimme eine wichtige Rolle. Meistens ist es die einzelne, unverwechselbar individuelle Stimme. Erst im letzten Satz Strette tritt deren vokales Gegenbild in den Vordergrund: der Schrei der Masse.

(Beispiel 37: Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Symphonie pour un homme seul, Strette

Ausschnitt mit Schrei einer Menschenmenge)

Kollektive und individuelle Stimmäußerungen sind wichtige Gestaltelemente der konkreten Musik - nicht nur in ihrer Frühzeit, sondern auch in späteren Entwicklungsphasen: 1968 komponierte Bernard Parmegiani mit Bidule en ré ein Stück, das - als modernes Gegenstück zu einer frühen Produktion konkreter Musik (zu Bidule en ré, der 1950 entstandenen ersten Gemeinschaftsproduktion von Pierre Schaeffer und Pierre Henry) den Beginn einer neuen Entwicklungsphase der musique concrète markiert. Im Mittelteil dieses Stückes konfrontiert Parmegiani den Schrei der Masse mit vielen kurzen, minutiös geschnittenen und in rasanter Geschwindigkeit aufeinander folgenden individuellen Stimmäußerungen - gleichsam dem technisch manipulierten Abbild endlosen Geplappers.

(Beispiel 38: Bernard Parmegiani: Bidule en ré, 1968, 2. Teil

Schreie - Mikromontagen individueller Stimmlaute)

4.2.4 Sich verwandelnde Wörter

Aufgenommene Stimm- und Sprachlaute eröffnen dem konkreten Musiker andere Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten als dem Komponisten traditioneller Vokalmusik: Er gestaltet die klingende Sprache selbst - auch in den feinsten Nuancierungen, die sich in traditioneller Notenschrift gar nicht erfassen lassen. So können sich neue Möglichkeiten selbst dann ergeben, wenn mit sprachlichen Bedeutungen gearbeitet wird.

Michel Chion hat 1974 ein Requiem als Tonbandmusik realisiert. In dieser Komposition findet sich eine durchaus eigenwillige Ausgestaltung des Sanctus - mit bis ins Extreme gesteigerten Stimmlauten und elektroakustischen Klängen, die sich weit entfernen von tradierten Wohlklangsidealen geistlicher Vokalmusik, die den Text apokalyptisch verrätseln und in Frage stellen. Musik artikuliert sich hier jenseits des konventionell gesprochenen Textwortes: als nonverbale Kommunikation des Verbalen, die den Inhalt des Gesprochenen zugleich konkretisiert und produktiv in Frage stellt.

(Beispiel 39: Michel Chion: Requiem 1974, Sanctus)

1979 hat Francois Bayle gezeigt, welche radikalen Veränderungen des Stimmklanges sich bei seiner radikalen Umformung ergeben können. Er hat wenige Wörter auf Tonband gesprochen und diese dann anschließend so weitgehend transformiert, daß der menschliche Stimmklang kaum noch erkennbar bleibt, daß er allenfalls noch durch seine subtile Klangenergie sich vom breiten elektroakustischen Klangfluß abhebt.

(Beispiele 40, 41: Sprache und ihre digitale Verarbeitung im Kontext elektroakustischer Klänge

a) Demonstration (Beispiel 40): Sprechstimme Francois Bayle

( Arbeit mit den Wörtern "toupie dans le ciel", d. h. "Kreisel im Himmel)

b) Musikbeispiel unter Verwendung von Beispiel 40:

Francois Bayle: Eros noir aus Erosphère

5. Musik zweiten Grades

Konkrete Musik kann nicht nur aus Geräusch- und Stimmaufnahmen entstehen, sondern auch aus vorgefundener Musik - beispielsweise aus verschiedenen Nationalhymnen (wie in Karlheinz Stockhausens Hymnen, 1965-1967, wo alle Hymnen außer der Hymne der UdSSR ausschließlich ausgehend von Aufnahmen, also als konkretes Klangmaterial verarbeitet werden) oder aus verschiedenen Werken eines einzigen Komponisten (z. B. die neun Symphonien Beethovens, die Pierre Henry in verschiedenen Fassungen unter dem Titel La dixième Symphonie de Beethoven zusammencollagiert hat).

Bernard Parmegiani hat 1969 unter dem Titel Popeclectic ein Stück realisiert, in dem Fragmente aus verschiedenen Stilbereichen, z. B. Popfragmente und das Thema eines Klavierkonzerts von Camille Saint-Saens, miteinander verbunden und in einen übergreifenden Klangprozeß eingeschmolzen sind. In unbekümmerter Weise wechseln hier die Klangmontagen zwischen U- und E-Musik. In diesem Stück realisiert sich überdies die Verbindung von Geräuschen mit Fragmenten vorgefundener Musik als Musik auf höherer Ebene: als Musik zweiten Grades.

(Beispiel 42: Bernard Parmegiani: Popeclectic, 1969)

6. Klänge - Klangstrukturen - Formprozesse

Die verwirrende Vielfalt des Klangmaterials der konkreten Musik scheint allen Versuchen zu spotten. Wenn diese Klänge in einem imaginären Klangtext zusammengespielt und einer Versuchsperson vorgespielt werden, dann zeigen sich paradoxe Schwierigkeiten, sie hörend zu differenzieren und zu bewerten.

(Beispiel 43: Pierre Schaeffer: L´aura d´Olga,. Klangtest-Szene)

In Pierre Schaeffers Hörspiel L´aura d´Olga (1961) gibt es eine Klangtest-Szenein der ein Mann einer Frau verschiedene Klänge zur Auswahl vorführt. Die einzelnen Klänge bleiben hier voneinander isoliert, sodurch ihre individuellen Besonderheiten um so deutlicher hervortreten: Jeder Klang hat sein eigenes Gepräge, seine eigenen Besonderheiten. Solche Klänge lassen sich nicht so leicht "komponierten" wie verschiedene Töne, die zu Melodien, Stimmen und Akkorden zusammengestellt werden und in größeren strukturellen Zusammenhängen dann ihre individuellen Besonderheiten weitgehend verlieren. Wenn konkrete Klänge als Klangobjekte miteinander verbunden werden, ergeben sich grundsätzlich andere strukturelle Zusammenhänge als in traditionellen Motiven oder Melodien, Akkorden oder Harmoniefortschreitungen.

Der erste Satz der 1959 entstandenen Etude aux objets von Pierre Schaeffer führt den Titel Objets exposés (Exponierte Objekte). Das gesamte Klangmaterial besteht aus kurzen Ausschnitten aufgenommener Klänge, die als eigenständige, oft vom ursprünglichen klanglichen Kontext weitgehend losgelöste Klangobjekte behandelt sind. Die Schnittstellen zwischen verschiedenen Klangobjekten sind in der ausgeführten Komposition noch so deutlich erkennbar, daß man sie an vielen Stellen durch eingeschnittene Zwischenansagen kenntlich machen kann. So artikuliert sich Musik als Aneinanderreihung verschiedener Klangobjekte.

(Beispiel 44: Pierre Schaeffer: Etude aux objets, 1. Satz Objets exposés Anfang

Die ersten vier Klangobjekte, mit Zwischenansagen)

Schaeffers Denken in unterschiedlichen Klangobjekten hat viele andere Komponisten beeinflußt - beispielsweise Luc Ferrari in seiner ersten, 1958 entstandenen Tonbandkomposition Etude aux sons tendus (Beispiel 45) und später in seiner größer dimensionierten, verschiedene Klangobjekte wie Personen einander konfrontierenden Komposition Visage V , 1959 (Beispiel 46).

(Beispiele 45, 46: Luc Ferrari:

a) Beispiel 45: Etude aux sons tendus, 1958, vollständig

b) Beispiel 46: Visage V, 1959, Ausschnitt)

In den sechziger Jahren arbeitete Pierre Schaeffer bei der Ausformung seiner Klanglehre eng mit Guy Reibel zusammen, der vor allem bei der Produktion der Hörbeispiele mitgewirkt und später die gewonnene Erkenntnisse auf neue Ansätze der musikalischen Erfindung (in origineller Integration von Improvisation und Komposition) übertragen hat. Auch in den Tonbandkompositionen Reibels haben die Ansätze Schaeffers deutliche Spuren hinterlassen. In seinen Variations en étoile verbindet er eine exakt fixierte Tonbandpartie mit einer live-Schlagzeugpartie, die frei improvisatorisch gestaltet werden kann. Die Tonbandpartie geht von wenigen Grundelementen aus, die aus knarrenden und klappernden Klängen schwingender Stäbe gewonnen wurden (Beispiel 47). Die Ausgangsklänge werden in Aufwärts- und Abwärtstranspositionen weiter verarbeitet (Beispiel 48). Die ausgeführte Tonbandpartie geht von den Ausgangsklängen aus und entwickelt sie anschließend in verschiedenen Variationen, bei denen jeweils unterschiedliche technische Prozeduren der klanglichen Verwandlung angewendet werden, wobei zunächst die Tonbandpartie isoliert bleibt und der Schlagzeuger erst später einsetzt (Beispiel 49).

(Beispiele 47-49: Guy Reibel: Variations en étoile

a) Beispiel 47: Ausgangsklänge von schwingenden Stäben

b) Beispiel 48: Abwärts- und Aufwärtstranspositionen von Ausgangsklängen

c) Beispiel 49: Anfang der Komposition

(anfangs Tonband allein; später kommt der Einsatz des live gespielten Schlagzeugs hinzu)

In den sechziger und siebziger Jahren wurde das seit den frühen fünfziger Jahren entwickelte Denken in typisierten Klangobjekten (tonisch, d. h. der Tonhöhe nach eindeutig bestimmt - geräuschhaft - variabel; Impuls - Dauereignis - Klangkette) allmählich abgelöst durch ein Denken in kontinuierlichen Formprozessen, das sich einerseits aus neuen Verwendungsweisen aufgenommener Geräusche, andererseits aus neuen technischen Möglichkeiten (der Arbeit mit komplexen Schaltungen und mit gleitenden Veränderungen ihrer vielfältigen Einstellungen) entwickelte. Ein sinnfälliges Dokument des neuen prozeßhaften Denken ist die Beschreibung, die Francois Bayle von seiner kurzen, 1979 entstandenen Modellkomposition Histoire agitée gibt: Montierte und zu Schleifen geklebte Klänge und Klangverbindungen werden in dieser kurzen, klanglich und in ihrer Formgestaltung überaus prägnanten Komposition mit Hilfe einer Rückkopplungsschaltung so verarbeitet, daß sie schließlich eingeschmolzen in einen kontinuierlichen Klangprozeß der ständigen Verwandlung und Verdichtung wahrgenommen werden.

(Beispiele 50-58: Francois Bayle: Histoire agitée

a) Anfang der Komposition, kommentiert vom Komponisten: Beispiel 50

b) Ausgangsmaterialien auf Bandschleifen Beispiele 51-56:

4 Schleifen mit auf unterschiedlichen Gegenständen, z. B. Gläsern und einem Kaminbesen,

erzeugten Klängen: Beispiele 51-54;

2 Schleifen mit vokalen Reaktionen des Komponisten auf die vorgenannten Klänge: Beispiele 55-56;

ein Zäsurklang (mit Rückwärtswiedergabe): Beispiel 57;

c) vollständige Komposition: Beispiel 58)

Francois Bayle geht aus von der Formidee zweier sich überlagernder Formprozesse, deren Kontinuität mehrfach durch eingeschnittene Zäsurklänge aufgebrochen wird. Diese Formidee hat er nach Abschluß der Histoire agitée in einem neuen Stück mit anderen Klangmaterialien nochmals aufgenommen: In der Histoire calme überlagern sich eine konkrete und eine elektronische Klangschicht.

(Beispiel 59-61: Francois Bayle: Histoire calme

a) Beispiel 59: Klangschicht I Anfang

b) Beispiel 60: Klangschicht II vollständig

c) Beispiel 61: Vollständiges Stück mit Überlagerung beider Klangschichten

(Kürzung des Schlusses der Klangschicht II)

Intensives Interesse an kontinuierlich fließenden Klang- und Formentwicklungen ist erkennbar nicht nur bei Francois Bayle, sondern auch bei vielen anderen, insbesondere bei jüngeren Komponisten. Dies verweist auf wichtige technische und kompositorische Wandlungen in der jahrzehntelangen Entwicklung der konkreten Musik.

7. Kompositorische Wandlungen

Die musique concrète entstand 1948 in einem Studio, das zunächst für mehrere Jahre (bis 1953) das weltweit einzige seine Art blieb und später, von den fünfziger Jahren bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein, neben anderen elektroakustischen Studios einen prominenten Platz behauptet und sich unter verschiedenen Aspekten kontinuierlich weiter entwickelt hat: in seiner technischen Ausrüstung, in der Klangforschung und in Produktionen von Komponisten verschiedener Generationen.

Die erste Entwicklungsphase wurde maßgeblich geprägt von der konkreten Klangpoesie der Pioniere Pierre Schaeffer und Pierre Henry, seit 1951 (dem Jahr der Einführung von Tonbandgeräten, die minutiös geschnittene Montagestrukturen ermöglichten) vorübergehend auch durch radikalen seriellen Konstruktivismus in Produktionen u. a. von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, vereinzelt sogar bei Pierre Henry; in der amerikanischen tape music entsickelten sich seit 1952 ähnlich differenzierte Techniken der Mikromontage, z. B. in Williams Mix von John Cage). Die konkrete Musik geriet in Konflikt mit abstrakt-konstruktivistischen Tendenzen, die seit 1953 sich durchsetzten im Bereich der Elektronischen Musik und des auf sie ausgerichteten Kölner Rundfunkstudios, in dem u. a. Herbert Eimert, Karlheiz Stockhausen (die sich erst in späteren Jahren kompositorisch mit konkreten Klängen befaßten), zeitweilig (in den späten fünfziger Jahren) auch György Ligeti und Mauricio Kagel arbeiteten. In den späten fünfziger Jahren öffnete auch Pierre Schaeffer sein Pariser Studio für jüngere Komponisten aus verschiedenen Ländern, z. B. den Kroaten Ivo Malec, den Griechen Iannis Xenakis, die Franzosen Luc Ferrari und Francois Bernard Mache. Etwas später kamen auch Francois Bayle und Bernard Parmegiani hinzu, die in der Folgezeit mehrere Jahrzehnte lang die produktive Arbeit des Studios maßgeblich prägen sollten - als führende Vertreter einer "akusmatischen" Musik der unsichtbaren Klänge aus dem Lautsprecher mit ihren neuartigen Farben, Bewegungstypen und großformalen Prozessen. In den Klangbildern, Klangfresken und Klangflüssen ihrer Musik erscheinen auch scheinbar "realistische" Geräusche vollständig verwandelt - eingeschmolzen in energetische Klangströme; dies unterscheidet ihre Werke von den Produktionen jüngerer Komponisten, die seit den siebziger Jahren im Pariser Studio aktiv geworden sind und die sich in stärkerem Maße auch wieder für unverhüllt illustrative Klangwirkungen interessiert haben: Jean Schwarz, Jacques Lejeune und Michel Chion. Seit den achtziger Jahren sind noch jüngere Komponisten hinzugekommen, die sich wieder stärker für Klangentwicklungen jenseits des Illustrativen interessiert haben, z. B. Denis Dufour (Beispiel 62) und Philippe Mion, Daniel Teruggi, Christian Zanesi und Francois Donato (Beispiel 63).

(Beispiel 62: Denis Dufour: Chrysalide)

(Beispiel 63: Francois Donato: Rhythmus aus Annam Servam)

8. Konkret oder abstrakt?

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die konkrete Musik eine ähnlich schwierige Rolle gespielt wie die atonale Musik in der ersten Jahrhunderthälfte. Während damals immer wieder die Rückkehr zur Tonalität gefordert wurde, ging es später um die Rückkehr zur Vokal- und Instrumentalmusik - sei es in herkömmlicher live-Aufführungspraxis, wie sie auf den etablierten Foren der Neuen Musik immer noch dominiert; sei es in mehr oder weniger weit reichenden Modernisierungen mit Hilfe der live-Elektronik.

Ästhetische Kontroversen vor allem zwischen konkret-empirischen und abstrakt-konstruktivistischen Ansätzen haben die Konkrete Musik in den fünfziger Jahren zeitweilig in Widerstreit mit der Elektronischen Musik gebracht, während seit den achtziger Jahren ähnliche Divergenzen vor allem in unterschiedlichen Verwendungsweisen der Computertechnologie hervorgetreten sind: Konkret orientierte Musiker interessierten sich vor allem für computergesteuerte Verwandlungen vorgegebener Klänge, während eher abstrakt Denkende sich auf computergenerierte synthetische Klangproduktion konzentrierten.

Nicht immer blieben die Gegensätze zwischen konkreten und abstrakten Konzeptionen unversöhnlich: Nach Verbindungen oder gar Synthesen zwischen konkreten und elektronischen, zwischen im Studio produzierten und live aufgeführten aufgeführten Klängen haben seit den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur Bruno Maderna, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio, Henry Pousseur und Luigi Nono gesucht, sondern auch konkrete Musiker wie Pierre Schaeffer, Pierre Henry, Francois Bernard Mache, Francois und Guy Reibel; auch Iannis Xenakis, der sich in einigen Tonbandkompositionen, z. B. Diamorphoses, Concret PH und Orient Occident, den Positionen der musique concrète und der Arbeit mit Klangobjekten genähert hat, kann in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Andererseits haben sich in der konkreten Musik auch verschiedene Ansätze abstrahierender Klanggestaltung und der Arbeit mit rein synthetisch erzeugten Klängen und Klangstrukturen herausgebildet. Sogar Ansätze der mehr oder weniger abstrahierenden Notation der konkreten Klang- und Musikstrukturen hat es immer wieder gegeben - schließlich sogar sogar, in der CD-Rom Musigraphies, in digitalisierter Form der Notation (von Werken Bayles im Vergleich mit andersartigen, hier ebenfalls neu entwickelten Mitlese- Notationen alter und folkloristischer Musik). Die unverwechselbaren Besonderheiten der konkreten Musik bleiben auch in abstrakteren Zusammenhängen so lange gewahrt, als die empirische Orientierung am Klang selbst und an den Möglichkeiten seiner technischen Fixierung und Verarbeitung als Ausgangsposition erhalten bleibt. So war und ist die Konkrete Musik aktuell als Antwort auf die Frage, wie sich, auch in Phasen postmoderner Wechselhaftigkeit oder Beliebigkeit, Musik weiter entwickeln kann unter den spezifischen Gegebenheiten der Hörerfahrung im technischen Zeitalter.

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