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7.43 Nachtkonzert 1: Vom Wohltemperierten Klavier zum wohltemperierten Mikrofon


Nachtkonzert I

VOM WOHLTEMPERIERTEN KLAVIER

ZUM WOHLTEMPERIERTEN MIKROPHON

Klaviermusik - Lautsprechermusik - Klavier- und Lautsprechermusik Mittwoch, 7. 4. 1999, 21.30 Uhr Großer Saal

- Johann Sebastian Bach und die konkrete Musik

- Präparierte und technifizierte Klavierklänge: John Cage und Pierre Schaeffer

- Von der punktuellen Musik zur Tonbandmusik:

Olivier Messiaen, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, John Cage

- Von der Klaviermusik zur Klangkunst:

Ivo Malec, Helmut Lachenmann, Luigi Nono

- Computer-Klavier-Musik: Sabine Schäfer, Rytis Mazulis

- Maurice Ravel und die Computermusik: Ludger Brümmer

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Hörclip-Intro: Klavier X (Alexander Schwan)

KLAVIER CONTRA LAUTSPRECHER?

Pierre Schaeffer: BILUDE (1979)

WANDLUNGEN DES KLAVIERS:

WOHL-PRÄPARIERT - WOHL-MIKROPHONIERT

Das wohlpräparierte Klavier von John Cage als Vorahnung der Lautsprechermusik:

John Cage: ROOT OF AN UNFOCUS (1944)

Cage-Allusionen in früher Lautsprechermusik:

Pierre Schaeffer / Pierre Henry: PROSOPOPÉE I

(aus: SYMPHONIE POUR UN HOMME SEUL, 1949-1950)

WOHL-KONSTRUIERTE KLAVIER- UND LAUTSPRECHERMUSIK

Pierre Boulez: Aus NOTATIONS (1945) (Nr. 1-4)

Pierre Schaeffer: ETUDE VIOLETTE (aus: ETUDES DE BRUITS, 1948)

Olivier Messiaen: MODE DE VALEURS ET D´INTENSITÈS (1949)

Pierre Boulez: ETUDE I (1951)

Karlheinz Stockhausen: KLAVIERSTÜCK I (1952)

ETUDE (Konkrete Musik) (1952)

John Cage: WILLIAMS MIX (1952)

WANDLUNGEN DER KLAVIER- UND LAUTSPRECHERMUSIK

Ivo Malec: REFLETS (1961)

Helmut Lachenmann: WIEGENMUSIK (1963)

Luigi Nono: ... SOFFERTE ONDE SERENE... (1976)

DAS WOHL-TECHNIFIZIERTE COMPUTERKLAVIER

Sabine Schäfer: GLISSANDO CASCADES

(aus: STUDIES FOR COMPUTER CONTROLLED PIANO, 1991)

Rytis Mazulis: CLAVIER OF PURE REASON for computer piano (1992-1994)

COMPUTERTRANSFORMIERTE KLAVIERMUSIK

Maurice Ravel: LA VALLÉE DES CLOCHES (aus: MIROIRS, 1904-1905)

Ludger Brümmer: LA CLOCHE SANS VALLÉES (1993)

Bernhard Wambach, Klavier

Alexander Schwan, Klangregie

Pierre Schaeffer: Bilude (1979) (2´18)

Vier Metronomschläge geben den Takt, dann dringt Musik aus dem Lautsprecher. Anfangs klingt es so, als würde jemand ein Bach-Präludium auf dem Klavier spielen: Das Präludium in c-moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Erst nach einigen Takten merkt man, daß hier nicht eine konservierte Aufführung zu hören ist, sondern eine technisch manipulierte Aufnahme: Man hört Schnitte, nach denen sich das Klangbild der Musik verändert. Trotzdem geht die Musik des Bach-Präludiums weiter. Zunächst klingt es so, als wärde nach einigen Takten das Klavier von einem Cembalo abgelöst. Im weiteren Verlauf zeigt sich aber, daß es nicht darum geht, sondern um Montageeffekte: Die Schnitte, die eine Veränderung des Klangbildes anzeigen, folgen in immer rascheren Abständen aufeinander.

Immer mehr entfernen sich die zusammengeschnittenen Fragmente vom Klangbild einer Bach-Aufführung: Sie werden rhythmisch unscharf, ihr Klangbild wird dumpf und fremdartig, und scließlich sind statt Tönen Geräusche zu hören: Das Klavier verwandelt sich in ein präpariertes Klavier. Es kommt so weit, daß man im Rhythmus des Bach-Präludiums nur noch Geräusche hört oder daß dessen wohlvertraute Töne sich mit fremdartigen Geräuschen mischen. So entsteht neben der Musik der Töne eine Musik der Geräusche, und am Schluß des Stückes überlagern sich zwei vollkommen verschiedenartige Musiken: Musik von Bach und eine neuartige Geräuschmusik.

Das Stück heißt Bilude. Es ist ein bipolares Prélude - ein Präludium zu zwei verschiedenen Klangwelten. Die Klangwelt der traditionellen Tonkunst, wie sie das Musikleben bis ins 20. Jahrhundert hinein geprägt hat, wird repräsentiert durch die Klavier-Wiedrgabe des c-moll-Präludiums von Johann Sebastian Bach. In den zahlreichen, die traditionelle Musik verfremdenden oder zu ihr hinzugefügten Geräuschen zeigt sich die Handschrift eines anderen Autors: Pierre Schaeffer. Schaeffer macht deutlich, daß sich die klaren Tonstrukturen der Klaviermusik (und der hier gespielten Komposition von Bach) auf verschiedenen Wegen verwandeln oder sogar zerstören lassen: Wenn die Saiten des Klaviers in geeigneter Weise präpariert werden, können sich ihre Töne in Geräusche verwandeln, und es können neue, über die Grenzen der traditionellen Tonleitern und Intervalle hinausführende Klänge und Klangstrukturen entstehen. Noch stärker ändert sich das Bild,wenn die Musik sich nicht nur von den Tönen, sondern auch von den Rhythmen Bachs löst - mit eigenständigen, kontrastierend hinzugefügten Klängen: Metallisch scheppernd - klappernd - im Wechsel der Töne einer exotischen Flöte - mit stampfenden Geräuschen einer Dampflok. Diese Geräuschzuspielungen sind Ausschnitte aus konkreten Etüden, die Schaeffer in den späten vierziger und in den späten fünfziger Jahren komponiert hat: ästhetische Kontrapunkte zu Johann Sebastian Bach.

Die Klänge, Klangstrukturen und Musiken, die Pierre Schaeffer der Musik Johann Sebastian Bachs entgegenstellt, sind radikale Antithesen zu einer in vielen Jahrhunderten entwickelten kompositorischen Tradition, die ausgeht von der (zunächst abstrakten) Tonvorstellung des Komponisten und von ihrer Notation mit abstrakten Zeichen, nach deren Maßgabe dann später das konkrete Klangbild der Musik in einer Aufführung entstehen kann. Pierre Schaeffer verfährt genau umgekehrt: Er geht nicht von der abstrakten Vorstellulng aus, sondern vom konkreten Klang, den er im Studio vorfindet oder selbst produziert. Erst aus dem praktischen U mgang mit den Klängen entwickeln sich in seiner Musik die kompositorischen Strukturen.

Diese Musik entsteht nicht aus dem Primat einer vorgegebenen Idee, sondern aus der Auseinandersetzung mit einer zunächst unübersehbaren Vielfalt von Klängen, wie sie uns in der alltäglichen Hörwelt begegnen können oder wie sie sich aus verschiedenartigen Techniken der Verarbeitung im Studio ergeben. So entsteht "konkrete Musik" - Musik der Vielfalt des scheinbar Unvereinbaren, der paradoxen und überraschenden Konstellationen und Verbindungen aufgenommener Klänge aus verschiedenen Erfahrungsbereichen.

Am 1. November 1979 wurde in Paris ein kurzes Stück von Pierre Schaeffer aus der Taufe gehoben, das die konkrete Musik gleichsam im Disput mit der abstrakten präsentiert: Zunächst hört man vier Metronomschläge, in deren Tempo dann anschließend ein Pianist traditionell notierte Musik zu spielen beginnt: das c-Moll-Präludium aus dem 1. Teil von J. S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier". Schon nach zwei Takten ändert sich das Klangbild: Der Pianist hält an, und die beiden folgenden Takte des Stückes sind, jetzt im Cembaloklang, vom Tonband zu hören. (Per Bandschnitt wird der Hörer gleichsam vom modernen Klavierklang zurück in die Bachzeit versetzt.) Danach geht es im taktweisen Wechsel zwischen Klavier und Tonband weiter, mit neuen Klangkontrasten - bald zurückkehrend zum Klang des Flügels, bald im verfremdeten Klavierklang. Der Pianist gerät zunehmend in Konflikt mit der Tonbandpartie, die sich mehr und mehr von "natürlichen" Instrumentalklängen entfernt - nicht nur im verfremdeten, klanglich und rhythmisch "verwackelten" Klavierklang, sondern auch mit präparierten Klavierklängen oder sogar mit der Alltagswelt entstammenden Geräuschen und mit Zitaten aus Schaeffers konkreter Musik: mit Klängen klappernder Stäbe, eines Metalltellers, einer afrikanischen Sanza, einer mexikanischen Flöte und schließlich einer Lokomotive. Schaeffer verwandelt Bachs Prélude in ein Bilude, dessen wehmütiger Untertitel "Eternels regrets" mit melancholischer Ironie auf Nahes und Fernes anspielt: Live gespielte "abstrakte" (notierte) Musik verbindet sich mit konkreten Klängen, die vom Tonband kommen und sich im Verlauf des Stückes mehr und mehr aus der rhythmischen Strenge des Klavierparts herauslösen - in ironisch gebrochener Metamorphose des wohltemperierten in ein "übel"präpariertes Klavier. Die Tonbandpartie läßt erkennen, wie Bachs abstrakte Klangstrukturen in der Begegnung mit konkreten Klängen sich von innen heraus zersetzen.

John Cage: Root of an Unfocus für präpariertes Klavier (1944) (4´)

Root of an Unfocus ist eine rhythmische Struktur, die der rhythmischen Struktur des Tanzes von Merce Cunnigham entspricht, für den sie geschrieben wurde. Das Stück hat einen dramatischen Charakter, und die Präparation des Klaviers ist nicht aufwendig.

Zu präparieren sind Saiten für 8 verschiedene Klaviertöne mit Schrauben zwischen der 2. und 3. Saite am Ende (cis3, h2, ais2, h1), mit einem langen Bolzen, der den Resonanzkörper am Ende der Seite berührt (h, B), ferner, bei zwei Tönen (f, d), einerseits mit Bolzen zwischen der 2. und 3. Saite, einen Zoll vom Dämpfer entfernt, andererseits zwischen der 1. und 2. Saite mit einer Wetterleiste aus faserigem Material, 1/2 Zoll vom Dämpfer entfernt.

Der erste Teil des Stückes bildet sich aus einem mehrmals wiederholten siebentaktigen Rhythmus (hoher Anfangsakzent - unregelmäßige Repetitionen in tieferer Lage). Im 2. Teil kommen raschere, hämmernde oder tremolierende Figuren hinzu. Im Zentrum dieses Teiles stehen unregelmäßige Repetitionen und heftige Tremolandi - Figuren, wie sie später auch Pierre Schaeffer und Pierre Henry im ersten Satz ihrer Sinfonie pour un homme seul als "Elément Cage" präsentierten. Im 3. Teil überlagern sich ein (quasi-)melodisches Ostinato und Tremolobegleitung.

John Cage

Pierre Schaeffer/Pierre Henry: Sinfonie pour un homme seul - Prosopopée I (2´55)

Die Sinfonie pour un homme seul ist das erste großangelegte Werk der musique concrète, das 1950 uraufgeführt wurde. Die ursprüngliche Idee des Werkes zielte auf eine Medienkomposition, in der der "homme seul", der einzelne, vereinsamte Mensch, nicht nur als Adressat vorgestellt war, sondern auch als Klangquelle: Im Zentrum standen Klänge, die ein einzelner Mensch hervorbringen kann, z. B. Schritte, Rufe, Atmen usw. In einem zweiten Schritt der Ausarbeitung kamen instrumental erzeugte Geräusche hinzu, vor allem Klänge des präparierten Klaviers (die sich von den präparierten Klavierklängen bei John Cage häufig durch ihre stärkere Geräuschhaftigkeit und vor allem durch ihre technische Verarbeitung unterscheiden). Das Neuartige dieses Werkes wird schon in den ersten Klängen des ersten Satzes (Prosopopée I) deutlich:

Zu Beginn dreimaliger Wechsel: Klopfgeräusche (schnelles Türenschlagen, langsame Schritte) - Stimmen (ein Schrei, dann zwei kurze Sprachfetzen, immer leiser). Danach umrahmen Instrumental-Fragmente eine Passage mit präpariertem Klavier (die von den Autoren als "élément Cage" bezeichnet wird und an dessen Komposition Roof of an Unfocus für präpariertes Klavier erinnert und die andererseits mit den vorausgegangenen Klopfgeräuschen verwandt erscheint). Nach kurzen Einschüben (Sprache, Musik, halliges Geräusch) erscheinen wieder Klänge des präparierten Klaviers, im mehrmaligen Wechsel mit einer sich wandelnden, gesummten oder gepfiffenen Melodie. Nach einer Steigerung mit Klavierklängen folgt die Wiederkehr des halligen Schreis, mit dem das Stück begann.

Charakteristisch für diese Musik ist ihr vieldeutiger Assoziationsreichtum, der sich auch in ganz unterschiedlichen Wirkungen auf die Autoren selbst widerspiegelt. Für Schaeffer selbst beispielsweise waren die markanten Klopfzeichen zu Beginn dieses ersten Satzes nicht nur markante Eröffnungssignale wie zu Beginn einer Theatervorstellung, sondern auch traumatische Erinnerungen an nächtliche Razzien der Gestapo während der Resistance-Zeit. Henry dachte bei dem (zunächst von Schaeffer allein entworfenen) Anfang der Symphonie an Eindrücke aus alten Filmen. Die Klänge dieser Musik zeigen ein unverwechselbares Gepräge, das sich der Beschreibung mit traditionellen musiktheoretischen Begriffen vollständig entzieht - wie ein akustisches Pendant zu verschiedenen sorgfältig inszenierten Einstellungen und Sequenzen in einem künstlerisch ambitionierten Stummfilm. Selbst eine eingängige Melodie, die mehrmals zu hören ist, interessiert hier nicht in ihrer einfachen Linienführung und in ihrem regelmäßigen Taktaufbau, sondern im stets wechselnden Klangbild: Die unsichtbaren Klänge gewinnen ihr unsichtbares Gesicht.

Pierre Boulez: NOTATIONS pour piano (1945) (Nr. 1-4) (3´)

1945, in seinem 20. Lebensjahr, schrieb Pierre Boulez die Komposition Notations für Klavier. Der Aufbau des Werkes ergab sich als Konsequenz einfacher konstruktiver Überlegungen:

Keimzelle der gesamten Komposition ist eine Zwölftonreihe. Analog zu ihren zwölf Tönen entwickelt Boulez zwölftaktige Strukturen in zwölf verschiedenen Varianten. So entsteht ein Zyklus aus zwölf zwölftaktigen Stücken. In ihnen von Stück zu Stück alternierend zwischen transparenten, prägnant gestalteten und kompakten, dichten, massiven Bildungen - präsentiert sich die Reihe gleichsam in zwölf verschiedenen Perspektiven, beispielsweise in den ersten vier Stücken in folgender Weise:

1. in wechselnden melodischen und harmonischen Gestalten;

2. mit den gesamten Tonraum in markanten Sprüngen durchziehenden Tonbewegungen,

die eingerahmt werden von Tontrauben und aufschießenden Glissandi;

3. im Wechselspiel von Melodie und begleitenden Harmonien;

4. in kontrastierenden Tonlagen und melodischen Bewegungsformen

(mit einer Schritt für Schritt sich aufbauenden Melodie

und ständig wiederholten, dabei fortwährend rhythmisch veränderten Begleitmustern);

An mehreren Stellen des Zyklus ist noch die ursprüngliche Absicht erkennbar, in jedem der zwölf Stücke einen anderen der zwölf Reihentöne besonders herauszustellen (z. B. als Anfangston, so daß Stück 1 von Ton 1 ausgeht, Stück 2 von Ton 2 usw.). Wesentlicher für den Höreindruck ist in der Abfolge der Stücke der ständige Wechsel zwischen transparenten, reduzierten und kompakten, dichten Stücken.

Neuartiges ergibt sich in vielen Details dieses Zyklus aus der überraschenden Konfrontation von scheinbar völlig heterogenen, wenn nicht sogar unvereinbaren Anregungen und Einflüssen:

Boulez kombiniert hier die klassische Zwölftontechnik (im Sinne Schönbergs, Bergs und Weberns, deren Musik in Frankreich seit 1945 durch René Leibowitz bekannt geworden ist) mit rhythmischen Prozeduren im Geiste seines Lehrers Olivier Messiaen. In der Konfrontation durchaus heterogener melodisch-harmonischer und rhythmischer Gestaltungsprinzipien entstehen produktive Wechselwirkungen, die die Musik des jungen Boulez über ihre ursprünglichen Vorbilder hinausführen und allen Details ihr unverwechselbares Gepräge geben: Im Zuschnitt der melodischen Linien

in den vielfältig changierenden Farbwerten der Akkorde in der allgegenwärtigen rhythmischen Flexibilität in plastischen Formgestaltungen sei es mit jähren Kontrasten, sei es mit markant zielgerichteten Prozessen.

Das Werk, das nach der Uraufführung (Paris 1945) für längere Zeit in Vergessenheit geraten schien, hat sich gleichwohl als bedeutsam erwiesen nicht nur für die allgemeine Musikentwicklung (die Modernisierung und konstruktive Radikalisierung der Zwölftonmusik),sondern insbesondere auch für die kompositorische Entwicklung von Boulez selbst. Zwei Stücke des Zyklus (Nr. 5 und 9) erscheinen später, kammermusikalisch apart orchestriert, in seiner 1958 uraufgeführten "Improvisation I sur Mallarmé", dem zuerst vollendeten Teilstück seines monumentalen Mallarmé-Zyklus "Pli selon Pli". 1978 ließ Boulez den vollständigen Klavierzyklus erneut aufführen (wiederum im Pariser Rundfunk), und danach begann er damit, einzelne Stücke für Orchester umzuarbeiten. Die ersten vier Stücke gelangten 1980 zur Uraufführung, die Umgestaltung eines weiteren (Nr. 7) wurde erst in den späten neunziger Jahren abgeschlossen. So hat sich ein knapper, konstruktiv geschlossener und wahrscheinlich relativ rasch komponierter Zyklus kurzer Solostücke verwandelt in ein größer dimensioniertes "work in progress", dessen (in der Abfolge nunmehr als variabel behandelte) Einzelstücke aus den Klaviervorlagen nicht einfach durch Orchestrierung, sondern vielmehr durch kompositorische Umgestaltung mit vielfältigen Multiplikationen und Transformationen der einzelnen strukturellen Zellen abgeleitet sind. Der originale Klavierzyklus, der einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer neuen Etappe der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts markiert, hat also letztlich nicht nur im damaligen Stadium neue Wege eröffnet, sondern sich später auch als lebenskräftiger Keim neuer Verwandlungen erwiesen, die sogar die ursprüngliche Komposition selbst wieder in Frage stellten und sie umfunktionierten zum Keim neuartiger, über bisher Bekanntes hinausführender musikalischer Zusammenhänge.

Pierre Schaeffer: Etude violette (1948) (3´18)

1948 realisierte Pierre Schaeffer in einem Pariser Versuchsstudio die ersten Produktionen konkreter Musik. In seinen Etudes de bruits (Geräusch-Etüden) experimentierte er mit der Aufnahme und technischen Verarbeitung verschiedenartiger Klangmaterialien, darunter auch von Klavierklängen. In einer auf den 4. Juni datierten Tagebuchnotiz hat Schaeffer Beispiele dafür gegeben, wie er damals mit Klavierklängen umging: Er bat Pierre Boulez, ein gegebenes Thema in verschiedenen Stilen zu harmonisieren (klassisch, romantisch, impressionistisch, atonal usw.). Mit der Verarbeitung der aufgenommenen Fragmente versuchte er melodische Kontinuität auf der Basis des natürlichen (damals von ihm noch nicht durch Präparierung verfremdeten) Klavierklanges zu erreichen. Andererseits war durch verschiedenartige Methoden der technischen Verfremdung des Aufgenommenen (z. B. Verhallung und Rückwärts-Wiedergabe) dafür gesorgt, daß neuartiges, im herkömmlichen Instrumentalspiel nicht erreichbares Klangmaterial entstand.

Olivier Messiaen: Mode de valeurs et d´intensités (1949) (3´25)

Die 1949 in Darmstadt entstandene Klavieretüde Mode de valeurs et d´intensités ist ein Schlüsselwerk der Musik nach 1945: Hier sind erstmals alle Töne isoliert nach verschiedenen Parametern (Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke, Anschlagsart) fixiert und so in "punktueller" Isolierung nebeneinander gestellt. Diese Komposition hat jüngere Komponisten, vor allem Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, stark beeindruckt und wesentliche Impulse geben für die Etablierung der punktuellen seriellen Musik in den frühen fünfziger Jahren (und damit auch für die frühesten Beispiele seriell konstruierter Tonbandmusik).

Pierre Boulez: Etude I (1951) (2´25)

Die Etude I ist einer der ersten Tonbandkompositionen mit konkreten Klängen. (Zuvor, in den Anfangsjahren der musique concrète, waren, da es im Pariser Versuchsstudio noch keine Magnetophone gab, die Klänge auf Schallplatten aufgenommen und verarbeitet worden.) Die Komposition ist ein seriell strukturiertes Werk, das von einem einzigen, dem afrikanischen Musikinstrument Sanza entlockten Klang ausgeht.

Karlheinz Stockhausen: Klavierstück I (1952) (3´26)

Die Konzeption der ersten vier Klavierstücke Stockhausens fällt in das Jahr 1952 und ist eng verbunden mit Stockhausens damals auch in anderen Kompositionen angewendeten Prinzipien der punktuell-seriellen Tonraummusik, die sich verbinden mit ersten Ansätzen einer flexibleren Tonorganisation, die Stockhausen später als Gruppenkomposition bezeichnet hat.

Innerhalb der vier ersten Klavierstücke zeigt sich eine enge strukturelle Verwandtschaft vor allem zwischen den ersten drei Klavierstücken (während das vierte eine strukturelle Sonderstellung einnimmt). Zuerst, im Frühjahr 1952, entstand das extrem kurze dritte Klavierstück, dessen Struktur von Dreitongruppen ausgeht; danach das weiter ausgreifende, mit zwei Fünftongruppen arbeitende zweite Klavierstück (in dem die letzten zwei zum chromatischen Total noch fehlenden ganz am Schluß, sehr leise und in extrem tiefer Lage) erscheinen und schließlich das noch größer dimensionierte, auf zwei Sechstongruppen basierende und den gesamten Tonraum mit dichten Passagen und Akkordballungen ausfüllende erste Klavierstück. Stockhausen selbst hat am Beispiel dieses Stückes später erklärt, wie sich die punktuelle Isolierung einzelner Töne und Parameter in "Gruppenformen" überwinden läßt: Man hört nicht mehr von Ton zu Ton wechselnde "punktuelle" Parameterbestimmungen, sondern charakteristische Gruppierungen, in denen ein bestimmter Parameterwert (z. B. die Lautstärke) konstant gehalten wird. So wird es möglich, daß eng verwandte Töne eine Gruppe bilden (z. B. die weiträumig aufsteigenden Töne zu Beginn des Stückes), während mehrere benachbarte und miteinander verwandte Gruppen in Ähnlichkeitsbeziehungen auf einer höheren Ebene einen Gruppenverband bilden (z. B. die ersten sechs Gruppen des Stückes), und aus der Abfolge mehrerer Gruppenverbände ergibt sich schließlich das vollständige Stück - im Wechsel von aufeinanderfolgenden oder in dichten Blöcken übereinandergeschichteten Tönen.

Karlheinz Stockhausen: Etude (Konkrete Musik) (Dezember 1952) (1´13)

Im ersten Schritt einer Erforschung der Klangkomposition muß jeder Moment eines Klanges innerhalb seines Zeitverlaufes festgelegt werden. Der Klang muß entsprechend organisiert sein wie die gesamte Organisation eines bestimmten Musikstückes. Mit diesem Postulat beginnt eine Einführung Stockhausens zur "Konkreten Etüde", die in einer Tonbandaufnahme mit französisch gesprochenem Text erhalten ist. Die Aufnahmen der Einführung und des Stückes selbst sind aufbewahrt im Archiv jenes Studios, in dem Stockhausen seinerseit seine erste Tonbandkomposition realisierte: in dem von PIERRE SCHAEFFER begründeten ersten elektroakustischen Studio der Welt, im Pariser Geburtsstudio der "musique concrète". Im publizierten Katalog dieses Studios, im "Répertoire acousmatique 1948-1950" (herausgegeben von der Gruppe I.N.A./G.R.M.) findet sich das Stück unter der Nummer 064 als letzte Produktion aus dem Jahre 1952 unter dem Titel ETUDE "AUX MILLE COLLANTS" (Etüde für 1000 Tonbandschnipsel) mit der Zeitangabe 1´13´´.

Stockhausens Etude gehört in die Reihe einiger seriell strukturierter Tonbandkompositionen, die in den frühen fünfziger Jahren im Pariser Studio für konkrete Musik entstanden sind; schon vorher entstanden waren die Etudes I et II von Pierre Boulez (1951) sowie die Kompositionen Antiphonie (1951) und Vocalises (1952) von Pierre Henry. In allen diesen Werken geht es um die Entwicklung kohärenter und homogener Materialstrukturen. Dieses Ziel nennt auch Stockhausen in seiner Einführung zur ETUDE. Er geht noch weiter, indem er Homogenität zwischen den Details der Klangorganisation und dem Gesamtzusammenhang der Werkorganisation fordert, und er fährt fort: Es darf also nicht mehr möglich sein, daß der Klang im Laufe seiner zeitlichen Entfaltung in unbestimmter Weise seine Klangfarbe oder seine Lautstärke verändert. Das bedeutet, daß man die Natur des Klanges dekomponieren muß. (Wir sprechen hier von einem aufgenommenen Klang.) Man muß den Klang außerhalb des Zeitverlaufes stellen, sich seinem individuellen Leben von Null aus nähern. Sein individuelles Leben in der Zeit verbleibt immer außerhalb des Werkes. Der Klang muß das Resultat einer künstlerischen Absicht sein.

Der Versuch, eine Komposition vom klanglichen Detail bis hin zum formalen Gesamtzusammenhang konsequent aus einer einzigen Werkidee abzuleiten, führt zur Distanzierung von den bekannten Möglichkeiten der Vokal- und Instrumentalmusik und zur Komposition im elektronischen Studio. So wie einst in der Zwölftonmusik SCHÖNBERGs und seiner Schüler der Komponist für jedes neue Werk eine neue, unwiederholbare Intervallstruktur erfinden mußte, sollte jetzt der Komponist integral-serieller Musik für jedes neue Werk neues, nach unwiederholbaren Organisationsprinzipien hergestelltes Klangmaterial schaffen. Dieser auf technischem Wege produzierte Klang ist einerseits Keim eines größeren Werkzusammenhanges, andererseits abgeleitet aus einer ursprünglichen, alle Dimensionen der Komposition regulierenden Werkidee: Wenn man noch weiter geht, muß man sagen, daß die musikalische Situation nur eine Konsequenz erlaubt: Für jedes musikalische Werk gibt es nur einen bestimmten Klang oder eine bestimmte Gruppe von Klängen. Dieser Klang oder diese Gruppe von Klängen wird determiniert durch die Idee des Werkes, d. h. durch seine gesamte Organisation. Die Grenze der Organisation reicht weiter als die Grenze des intellektuellen oder sinnlichen Hörens.

Stockhausens Tonband-Einführung in die ETUDE mündet in eine Reihe kommentierter Klangbeispiele ("Erster Versuch", hierzu fünf Beispiele) und in das vollständige Stück ("Beispiel 6: Versuch einer Etüde"):

- Beispiel 1: 6 Klänge des präparierten Klaviers mit verschiedenen Klangfarben

- Beispiel 2: Der Einschwingvorgang wird abgeschnitten. Die Klangfarbe von Klang 3 bleibt konstant.

Der Rhythmus bleibt konstant (78 Anschläge pro Sekunde).

- Beispiel 3: Permutation von 6 verschiedenen Klangfarben, konstanter Rhythmus.

- Beispiel 4: Interpolation von sehr verschiedenen Klangfarben und Rhythmen

- Beispiel 5: 6 Pseudo-Transpositionen des Resultates.

- Beispiel 6: Versuch einer ETUDE.

Zu Beispiel 5 gibt die Einführung eine zusätzliche technische Information: Es ist nötig, für jede Transposition eine neue rhythmische Organisation durchzuführen, damit das Gleichgewicht zwischen den Zeiteinheiten gewahrt bleibt.

Zu Beispiel 6 gibt die Einführung einen Hinweis, der erstmals Zusammenhänge zwischen Mikro- und Makro-Rhythmik aufzeigt, wie sie später in Stockhausens elektronischer Musik, vor allem in den KONTAKTEn, entscheidende Bedeutung gewinnen sollten: Die Organisationsformen der Rhythmen und Klangfarben jedes Grundklanges entsprechen in Mikro-Abständen der Organisation der verschiedenen Höhen und der verschiedenen Rhythmen in der ETUDE.

Einheit Organisation des Klanges / Organisation der Etude = 1 / 216

John Cage: Williams Mix (1952) (4´13)

Die tape music von John Cage und seinen Freunden entwickelte sich 1952 einerseits im deutlichen Kontrast zur frühen musique concrète, andererseits teilweise verwandt mit minutiösen Montagetechniken, wie sie sich in den ersten (seriell inspirierten) konkreten Tonbandmontagen etwa von Pierre Henry, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen finden.

Cage präsentiert in seiner Komposition Williams Mix kein Resultat spontaner, unmittelbar vom Ohr kontrollierter Montage, sondern eine von vielen möglichen Realisationen seiner vorgegebenen Partitur. Diese Partitur, die durch Zufallsmanipulationen zustandekam, beschreibt nicht das genaue Klangresultat, sondern ist eine Anweisung zur Bandmontage. Vorgegeben sind Typ und Eigenschaften der Klänge, die Anzahl der Spuren (8) sowie Länge und Form der zusammenmontierten Tonbandstücke.

Ivo Malec: Reflets (Spiegelungen) (1961) (2´31)

Der Höreindruck wird bestimmt von unregelmäßig wiederkehrende Elementen: dumpf hallende Schläge (manchmal als Zupfklänge auf tiefen Klaviersaiten identifizierbar), ein oszillierender Zweiklang in verschiedenen Lagen, leise knisternde Geräusche. Malec unterschied bei der Komposition zwischen Material-Auswahl (meist Instrumentalaufnahmen), Material-Exposition (in der Originalgestalt) und Material-Wiederholung nach einem strengen Ablaufschema.

Helmut Lachenmann: Wiegenmusik (3´43)

1963 geschrieben. Zugrunde lag eine Klangvorstellung als Resultat von periodisch bzw. kontinuierlich sich auffüllenden Intervall-Konstellationen. Es ergab sich ein Gefüge aus vielfach verzweigten Arpeggio-Fiuren, hinter denen sich durch verschiedene Formen von tenuto-Ausfilterungen bzw. Pedalisierungen eigene harmonische Ebenen verselbständigen.

Die ritardando-Tendenz erlaubt die Assoziation: "Kind im Einschlummern", quasi als Psychogramm abgewandelt.

Luigi Nono: Über elektronische Musik

Die Musik hat für ihre Klangverwirklichung immer jene, in verschiedener Weise bestimmten Mittel, die aus einer bestimmten historischen Situation in der Entwicklung der technisch-sprachlich-strukturellen Möglichkeiten folgen, verwendet. Natürlich geben diese neuen Möglichkeiten den Anstoß zu neuen Konzepten.

Dies geschieht auch heute, besonders im Zusammenhang mit den elektronischen Mitteln.

Die neue elektronische Dimension ist heute wirklich im lebendigen zeitgenössischen Musikleben, mit den verschiedenen Möglichkeiten der Verwendung und Entwicklung, die immer noch vor sich gehen, eine vollendete Tatsache.

Die jüngste Geschichte der elektronischen Praxis faßt sich in der sich aus ihr ergebenden Musik zusammen. Weshalb besteht man auf der Bezeichnung "experimentelle Musik"? Vielleicht aus einer faulen Unterordnung unter ästhetische Kategorien, die heute eine Verzögerung, wenn nicht sogar einen offenen Widerstand gegen das Verständnis der neuen schöpferisch-gestalterischen Fähigkeiten des Menschen darstellen?

Oder vielleicht auf Grund eines falschen Humanismus, der die angebliche heutige technische Materialität verachtet?

(Luigi Nono 1961)

zitiert nach Jürg Stenzl (Hrsg.): Luigi Nono - Texte, Studien zu seiner Musik.

Zürich und Freiburg 1975, S. 149

Luigi Nono: .....sofferte onde serene... (1976) (13´38)

Während sich meine Freundschaft mit Maurizio Pollini wie auch meine staunende Kenntnis seines Klavierspiels vertiefen, hat ein harter Todeswind das "unendliche Lächeln der Wellen" in meiner und Pollinis Familie hinweggefegt.

Diese gemeinsame Erfahrung hat uns in der Trauer des unendlichen Lächelns der ".....durchlittenen heiteren Wellen..." einander noch näher gebracht.

Die Widmung: "Für Maurizio und Marilisa Pollini"meint auch das.

In mein Heim auf der Guidecca in Venedig dringen fortwährend Klänge verschiedener Glocken, sie kommen mit unterschiedlicher Resonanz, unterschiedlichen Bedeutungen, Tag und Nacht, durch den Nebel und in der Sonne.

Es sind Lebenszeichen über der Lagune, über dem Meer.

Aufforderungen zur Arbeit, zum Nachdenken, Warnungen.

Und das Leben geht dabei weiter in der durchlittenen und heiteren Notwendigkeit des "Gleichgewichts im tiefen Inneren", wie Kafka sagt.

Pollini: Klavier live, erweitert sich mit Pollini: Klavier auf Tonband bearbeitet und komponiert.

Weder kontra-stierend noch kontra-punktierend.

Pollinis im Studio hergestellte Aufnahmen, vor allem Einsätze, sein außerordentlich artikulierter Anschlag, verschiedene Intervallfelder, sind später auf dem Tonband verarbeitet worden, ebenfalls im Studio di Fonologia der RAI in Mailand mit Hilfe von Marino Zuccheri.

Daraus ergeben sich zwei Klangebenen, die oft verschmelzen und dabei die mechanische Fremdheit des Tonbandes aufheben.

Zwischen ihnen beiden sind die Beziehungen in der Klangbildung untersucht worden; darunter auch die Verwendung des Vibrierens der Pedalschläge - vielleicht besondere Anklänge "im tiefen Inneren".

Es sind nicht "Episoden", die sich in der Abfolge erschöpfen, sondern "Erinnerungen" und "Gegenwärtigkeiten", die sich überlagern, die sich indes als Erinnerungen, als Gegenwarten, mit den "heiteren Wellen" vermischen.

Luigi Nono (deutsche Übersetzung: Catherine Stenzl)

Sabine Schäfer: Glissando Cascades (aus: Studies for computer controlled piano, 1991) (3´20)

Ein wichtiger Aspekt der technisch geprägten Klangkunst von Sabine Schäfer ist seit 1990 die Auseinandersetzung mit Selbstspielklavieren. Zunächst testete sie in Wien bei der Firma Bösendorfer einen Konzertflügel mit einer eingebauten Elektronik, die die Mechanik des Instrumentes steuert: einen Computerflügel. Für die genauere Ausarbeitung erwies es sich als notwendig, die Zusammenhänge zwischen eingegebenen Daten (etwa für Lautsrärke und Dauer) und musikalischen Resultaten genauer experimentell zu untersuchen. Zusammen mit dem niederländischen Musikwissenschaftler Alcedo Coenen führte Sabine Schäfer 1991 vergleichende Untersuchungen an Selbstbauklavieren verschiedener Firmen durch - z. B. Ermittlungen der jeweils maximalen Geschwindigkeiten (von Läufen oder Tonrepetitionen) oder Akkorddichten, von Möglichkeiten der Realisierung extrem kurzer und extrem langer Töne. Im Vergleich zeigten sich besondere Möglichkeiten des Computerflügels, z. B. beim extrem leisen und schnellen Abspielen von Skalen. Auch die Möglichkeiten der raschen Repetition wurden getestet - und zwar nicht nur im Vergleich verschiedener Instrumente, sondern auch in der Abhängigkeit von Tonhöhe und Tondauer (wobei höhere, lautere und längere Töne bessere Repetitionsmöglichkeiten boten). Besonders sinnfällige, dem konventionellen live-Klavierspiel deutlich überlegene Möglichkeiten des Computerflügels ergeben sich beim gleichzeitigen Anschlag vieler Tasten, also in sehr dichten Akkorden; so können beispielsweise auf dem Computerflügel bis zu 32 Tasten gleichzeitig angeschlagen werden, was - zumal in Kombination mit live gespielten Akkorden - in extrem kompakten harmonischen Massierungen ausgenutzt werden kann.

Aus den technischen Möglichkeiten des Computerflügels ergeben sich neue Möglichkeiten der kompositorischen Gestaltung, z. B.:

- Ausführbarkeit von Passagen in extrem hoher Geschwindigkeit und mit vielen Tönen, gleichzeit auch in extrem großen Intervallabständen (also unabhängig von manuellen Möglichkeiten);

- große Differenzierungen in den Bereichen Metrum und Tempo;

- hohe dynamische Präzision (z. B. bei der Überlagerung oder Abfolge extrem unterschiedlicher Lautstärken);

- polyphone Komplexität, auch mit schichtweise verschiedenen Bestimmungen der Tempi, der dynamischen Werte, der Lagen und Dichten.

Charakteristisch für Sabine Schäfers Arbeit mit dem Computerflügel ist einerseits die Suche nach vollkommen neuen, im live-Klavierspiel nicht darstellbaren Klangmöglichkeiten, andererseits der Versuch, Klangstrukturen auf dem Computerflügel mit anderen Klangmaterialen zu verbinden - z. B. mit live-Klavierspiel oder mit elektronischen Klängen. In ihren Studies for computer controlled piano steht die erste Möglichkeit im Vordergrund. Das Werk gliedert sich in 3 Teilstücke: Glissando Cascades, Chords and Repetitions, Hommage à Steve Reich. Im ersten Teil (Glissando Cascades)

dominieren komplexe Glissando-Texturen; von live-Passagen unterscheiden sie sich durch ihre genau kontrollierte Dynamik (vor allem im leisen Bereich) und ihre dichten Schichtungen. Diese erste Studie des Zyklus beginnt mit raschen Läufen im Wechsel zwischen zwei verschiedenen Lagen. Später kommen deutlich artikuliete tiefere Lagen und plastische Lautstärkekontraste hinzu. Es entwickelt sich eine facettenreiche, komplexe Musik, die über die Möglichkeiten einer virtuosen live-Interpretation weit hinausführt.

Rytis Mazulis: CLAVIER OF PURE REASON for computer piano (1992-1994) (9´12)

"Clavier of Pure Reason" wurde konzipiert als Komposition für Computerklavier. Dieses Werk, eine Stretta für einen Pianisten mit 48 Händen, verwendet eine durchgängige Imitationstechnik. Die mit einer einzigen Klangfarbe realisierte polyphone Textur entspricht einer Dreiecks-Symmetrie, d. h. sie ist in analoger Weise horizonal, vertikal und diagonal organisiert.

Die Partitur der Komposition "Clavier..." präsentiert nur einen Teil des musikalischen Materials (nämlich 12 Stimmen). Ein notiertes Fragment kann zweimal oder öfter erklingen. Auch die vertikale Multiplikation der Stimmen ist möglich: dasselbe zwölfstimmige Material würde wieder im 13. Takt eingeführt (die gesamte Musik in der Transposition um 3 Halbtöne aufwärts), im 25. Takt (Transposition 6 Halbtöne aufwärts) und im 37. Takt (Transposition 9 Halbtöne aufwärts).

Rytis Mazulis

Ludger Brümmer: La cloche sans vallées (1993) für 2-Kanal-Tonband (22´00)

Die Technik des cantus firmus, in dem eine alte, schon existierende gregorianische Melodie als Grundlage einer neuen Komposition erscheint, ist das Vorbild für La cloche sans vallées.

Die Überlegung in diesem Stück, eine bereits existierende Komposition für eine neue Musik heranzuziehen, geht davon aus, eine fremde Struktur über das Ausgangsmaterial zu legen, um damit Spannungen zwischen der Originalstruktur der Komposition und der vom Algorithmus (Struktur, die aus einem Set von Regeln generiert ist) erzeugten Struktur herzustellen. Alle so entstandenen Klänge bestehen aus der Verarbeitung und aus Veränderungen eines einzigen Samples, d. h. eines im Computer gespeicherten Klanges. Dieser Klang wird im zeitlichen Ablauf neu strukturiert, in Klangkörner zerlegt und neu mit Hilfe von algorithmischen Regeln zusammengesetzt.

Das in La cloche sans vallées benutzte Sample ist die Komposition für Klavier La vallée des cloches aus dem Zyklus Miroirs von Maurice Ravel. Der Zusammenhang zwischen Quellstück und algorithmischer Ebene ist nicht von beliebiger Natur, sondern wird durch bestimmte Parameterbeziehungen geschaffen. Diese stammen entweder aus dem Quellstück (z. B. Tonhöhenfolgen) oder sie werden durch die formale Konzeption des Stückes erreicht. In der absoluten Mitte der Komposition (Coda abgetrennt) erklingt ein Zitat als Miroir erst vorwärts, dann rückwärts als Krebs. Ebenso weist die gesamte Struktur der Form des Stückes - ähnlich wie in La vallée des cloches - symmetrische Charakteristika auf.

Die wichtigste kompositorische Idee der algorithmischen Strukturen zu diesem Stück stellt das Ritardando bzw. Accelerando dar. Es kontrolliert nicht nur kleine Zeitabschnitte, sondern bestimmt die gesamte Form des Werkes. Die ersten 560 Sekunden der Komposition erklingen in 7 Stufen, jeweils beschleunigt und dadurch gleichzeitig verkürzt, bis sie zu einem kurzen Knall zusammengeschrumpft sind. Aus diesem Knall der implodierten Zeit expandiert eine neue Struktur, die ihren Inhalt preisgibt, indem sie sich zeitlich langsam ausdehnt und in eine andere Zeitdimension führt, um schließlich in einem Abschlußzitat zu enden. Dieses Zitat aus dem Mittelstück von La vallée des cloches begleitet sich selbst in einer Quarttransposition. Durch die zeitliche Verkürzung in der Begleitung der Transposition entstehen Felder neuer Harmonik und melodischer Verläufe. Die Quarte als zentrales Intervall in Ravels Komposition findet hier in der neu entstandenen Komposition eine exponierte Bedeutung. Beim Hören des Stückes entsteht eine Mischung aus unterschiedlichen Zeitkonzepten. Der Zuhörer erkennt entweder die algorithmische Ebene, also die Klänge des elektronischen Stückes, oder die Ebene des Ausgangsstückes oder gar beide gleichzeitig. Der Ausgangsklang hat dabei die Funktion eines dem Hörer eventuell bekannten Bezugspunktes, der über verschiedene Parameterkonstellationen des Algorithmus im Computer neu definiert wird.

Dabei wird aber nicht nur die Klangfarbe durch Tonhöhentranspositionen manipuliert, sondern auch der zeitliche Ablauf der Originalkomposition. Diese Technik ist mit der zeitlichen Kollagetechnik im Medium Film vergleichbar, in der eine kontinuierliche zeitliche Struktur durch den Wechsel zwischen Handlungszeit und Vergangenheit / Zukunft zu einer neuen Abfolge zusammengesetzt wird. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Zeitpositionen des Quellklanges in La cloche sans vallées findet in den musikalischen Algorithmen in viel kleineren Zeiteinheiten als im Film statt. Die Klangpartikel sind bis zu 0,002 Sekunden kurz, und erst die Aneinanderreihung vieler dieser Partikel erzeugt einen durchgängigen Klang. Dadurch gewinnt die Strukturierung der Zeit selbst einen eigenständigen Klangcharakter, der sich zwar in Abhängigkeit zum Quellklang entwickelt, gleichzeitig jedoch eine selbständige Struktur erzeugt.

La cloche sans vallées wurde 1993 am "Center for Computer Research in Music and Acoustics" (CCRMA), Stanford University Kaliforinien, mit Hilfe von Commom Lisp Music (William Schottstadt) und Common Music (Heinrich Taube) hergestellt.

Ludger Brümmer
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