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7.49.1 Schönberg: Jerusalem


Für Edith Kraus

Rudolf Frisius

JERUSALEM: IMAGINÄRE ERINNERUNG UND ERWARTUNG

Zu Arnold Schönbergs Chor "Dreimal tausend Jahre"

Dreimal tausend Jahre seit ich dich gesehn,

Tempel in Jerusalem, Tempel meiner Wehn!

Und ihr Jordanwellen, silbern Wüstenband,

Gärten und Gelände grünen, neues Uferland.

Und man hört es klingen leise von den Bergen her,

Deine allverschollnen Lieder künden Gottes Wiederkehr.

Diesen Text von Dagobert D. Runes, der seinem Gedichtband "Jordanland" entstammt, vertonte Arnold Schönberg in seiner Komposition "Dreimal tausend Jahre" für vierstimmigen gemischten Chor. Das Werk entstand 1949 (Schlußdatum der Partitur-Reinschrift: 20. April). Den Autor des Textes kannte Schönberg als Präsident des Verlags Philosophical Library New York, der damals die Publikation seiner Aufsatzsammlung "Style and Idea" vorbereitete. - Noch im Jahre der Entstehung wurde das Stück gedruckt und uraufgeführt. Die Partitur erschin in der Zeitschrift PRISMA (Jahrgang 1949, Nr. 4, Stockholm; in derselben Nummer wurde der Komponist auch anläßlich seines 75. Geburtstages mit einem Artikel von Ernst Krenek geehrt). Am 29. 10. 1949 fand in Fylklingen die Uraufführung statt. Es sang der Lilla Kammerköre unter der Leitung seines ständigen Dirigenten Eric Ericson.

"Dreimal tausend Jahre" ist ein wichtiges Dokument für Schönbergs Auseinandersetzung mit dem Judentum, die für sein Leben und Werk seit den frühen zwanziger Jahren zentrale Bedeutung gewonnen hat.

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"Dienen, dem Gottesgedanken zu dienen, ist die Freiheit, zu der dieses Volk auserwählt ist."

Dieser Textsatz, der sich in Schönbergs Libretto der unvollendeten Oper "Moses und Aron" als Bestandteil des geplanten, aber musikalisch nicht ausgeführten dritten Aktes findet, blieb unkomponiert. Er spricht von dem Glauben des jüdischen Künstlers an sein Volk an sein Volk und an dessen Gott, der es auch in schwersten Zeiten des Exils und der Verfolgung nicht zu Grunde gehen ließ. Schon 1923, 9 Jahre vor der Unterbrechung der musikalischen Komposition dieses Hauptwerkes (nach Vollendung der beiden ersten Akte), in der heftigen Kontroverse eines Briefwechsels mit Kandinsky, hatte Schönberg seine Situation als Jude in einer vom Antisemitismus vergifteten Gesellschaft schonungslos beschrieben. Am 20. April dieses Jahres schrieb er:

"Was ich im letzten Jahre zu lernen gezwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert und werde es nicht wieder vergessen. Daß ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern, daß ich Jude bin."

Noch deutlicher wurde Schönberg in einem Brief vom 4. Mai desselben Jahres, in dem er nicht mehr aussparte, was er zuvor noch verschwiegen hatte:

"Weil ich noch nicht gesagt habe, daß ich zum Beispiel, wenn ich auf die Gasse gehe und von jedem Menschen angeschaut werde, ob ich ein Jud oder ein Christ bin, weil ich da nicht jedem sagen kann, daß ich derjenige bin, den der Kandinsky und einige andere ausnehmen, während allerdings der Hitler dieser Meinung nicht ist." Schon damals hat Schönberg die Greuel der folgenden Jahrzehnte vorausgesehen:

"Wozu aber soll der Antisemitismus führen, wenn nicht zu Gewalttaten? Ist es so schwer, sich das vorzustellen?"

Trotzdem war Schönberg überzeugt, daß, nachdem

"sich das Judentum 20 Jahrhunderte lang ohne jeden Schutz gegen die ganze Menschheit erhalten hat",

das Volk der Juden auch weiterhin überleben werde,

"daß sie die Aufgabe erfüllen können, die ihnen ihr Gott angewiesen hat: Im Exil sich zu erhalten, unvermindert und ungebrochen, bis die Stunde der Erlösung kommt."

Die religiöse Bestimmung des Volkes Israel erschloß sich für Schönberg sowohl in der Rückbesinnung als auch im Blick auf die Zukunft. Noch wenige Monate vor seinem Tode hat er davon gesprochen, daß dieser Rückblick auf die Zukunft auch sein Verhältnis zu Israel schon früh geprägt hat. Am 26. April 1951 schrieb er an den Präsidenten der Israel Academy of Music in Jerusalem, die ihn zu ihrem Ehrenpräsidenten ernannt hatte:

"Ihren Freunden... so wie Ihnen selbst... habe ich erzählt, wie es seit mehr als vier Dekaden mein sehnlichster Wunsch ist, einen eigenen, israelitischen Staat errichtet zu sehen. Und noch mehr als das: ein dort residierender Bürger dieses Staates zu werden."

Den Wunsch der Heimkehr in ein zuvor nie betretenes, nur in der kollektiven Erinnerung lebendiges Land konkretisiert Schönberg in der Vertonung eines Gedichtes aus dem Zyklus der "Jordanlieder" von Dagobert D. Runes: "Dreimal tausend Jahre". Im Text des von Schönberg ausgewählten Gedichtes geht es um die Vergegenwärtigung des lange Zurückliegenden, aber gleichwohl in kollektiver Erinnerung über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg lebendig Gebliebenen. Besonders deutlich wird dies im ersten und letzten Vers. Schönberg macht dies deutlich, indem er die (im Sopran eingeführte) Hauptmelodie des Anfangs, die Keimzelle der gesamten Komposition, am Schluß des Stückes wieder aufgreift. Die imaginäre Erinnerung an den Jahrtausende alten Tempel verwandelt sich so in die Erinnerung an Melodien der Vergangenheit, die in anderer Weise lebendig geblieben sind und "Gottes Wiederkehr" verkünden: Musik des Tempels in Jerusalem - seine "allverschollnen Lieder". (In einer später korrigierten Fassung hatte Schönberg noch von "längst vergessnen" geschrieben; in der definitiven Fassung wird das Moment der Vergegenwärtigung um so deutlicher.)

Der Weg zurück in die Vergangenheit und der umgekehrte Weg der Vergegenwärtigung - die Idee des Rückblicks und die Idee der Rückkehr ins Heute: Beides verbindet sich schon in den ersten musikalischen Entwürfen, die Schönberg notiert hat: Für die sechs Silben der ersten drei Wörter erfindet er eine aus sechs Tönen gebildete Melodie:

Dreimal tausend Jahre...

Diesem melodischen Aufbruch folgt die melodische Rückkehr: Eine Sopran-Melodie mit 5 Tönen, in der die letzten 5 Töne der vorausgegangenen Melodiezelle in rückläufiger Folge wiederkehren, so daß die Melodie schließlich wieder zu ihrem Ausgangston zurückfindet:

Dreimal tausend Jahre seit ich dich gesehn

1 2 3 4 5 6 g1 a1 fis1 e1 f1-h1 5 4 3 2 1 f1 e1 fis1 a1 g1

Die Idee der Verbindung von imaginärer Erinnerung mit der Rückkehr in die Gegenwart und mit der Vorausschau in die Zukunft wird in Schönbergs Chorstück musikalisch symbolisiert: Als vorwärts und anschließend wieder rückwärts führende Tonfolge. Dieser Ablauf findet sich nicht nur im Sopran, sondern auch in zwei weiteren Stimmen - beispielsweise im Tenor, dessen fünf Melodietöne sich aus der Vertauschung von Melodietönen des Soprans ergeben:

Dreimal tausend Jahre seit ich dich gesehn

2 5 1 3 4 a f g fis fis e 3 1 5 21 fis g g f f-a

Die Altstimme ist aus anderen, den Tonvorrat von Sopran und Tenor ergänzenden Tönen gebildet - allerdings in ähnlicher Linienführung wie im Sopran: Zunächst wellenförmig in kleineren Intervallen, dann abschließend mit einem etwas größeren Intervall:

Dreimal tausend Jahre...

d1 c1 des1 es1 es1 as

Die 6 Töne der Sopran-Melodie (und die 5 Töne der Tenor-Melodie, die sich aus deren Umstellung ergeben) werden so um weitere 5 Töne ergänzt, so daß sich insgesamt 11 Töne ergeben. Ein weiterer, zwölfter Ton findet sich im ersten Takt des Basses - im Wechsel mit einem höheren Ton, der später, am Schluß des Taktes, auch als Schlußton der Alt-Melodie erscheint:

Dreimal tausend Jahre...

B B B as as B

In der Baßmelodie findet sich in einfachster Form, mit drei Tönen eines einzelnen Taktes, ein Gestaltungsprinzip, das in größeren Dimensionen (6 bzw. 5 Tönen in 2 Takten) auch die drei übrigen Stimmen prägt: Eine Folge mit vorwärts und rückwärts laufenden Tönen, die ausgeht vom Ausgangston und später wieder zu ihm zurückkehrt.

Im folgenden Takt wird die Baßmelodie weitergeführt mit 5 Tönen, die im ersten Takt bereits in der Altstimme zu hören waren:

... seit ich dich gesehn

d c des es es-as

So ergibt sich bei der Vertonung des ersten Verses in zwei Takten ein enges Netz intervallischer, melodischer und rhythmischer Beziehungen - sei es zwischen gleichzeitig erklingenden Melodiezellen, sei es im Nacheinander von einem Takt zum anderen. Die musikalische Verwandtschaft führt über die äußerliche Verschiedenheit der Textworte hinweg zur Grundidee des gesamten Textes: Zur Idee der Verbindung mit Volke Israel und seinem Gott - zu einer Idee, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmt. Als musikalisches Symbol dieser Idee erscheint die Sopran-Melodie und die aus ihren vor- und rückwärts laufenden Tönen gebildete zweitaktige Phrase, aus der mit Abwandlungen und Ergänzungen alle vier Stimmen der ersten beiden Takte gebildet sind. Aus diesen zwei vierstimmigen Takten wiederum entwickelt sich das gesamte Stück: Mit veränderten Bewegungsrichtungen (Umkehrungen) und mit vertauschten Stimmen in den beiden folgenden Takten - mit veränderten melodischen Profilen im weiteren Verlauf (wobei Tonsprünge jetzt nicht als Ziel, sondern als Ausgangspunkt der melodischen Entwicklung erscheinen) - in der kanonischen Überlagerung zuvor getrennter Melodiezellen, verbunden mit melodisch knapperen, ebenfalls aus der ersten Keimzelle entwickelten Gegenstimmen - in der Rückkehr zu den ersten Melodietönen.

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Dreimal tausend Jahre seit ich dich gesehn,

Tempel in Jerusalem, Tempel meiner Wehn!

Zwei zweigliedrige Verse eröffnen ein kurzes Gedicht, das Erinnerung und Vergegenwärtigung, räumlich und zeitlich Nahes und Fernes anspricht: Die Vergegenwärtigung des zeitlich weit Zurückliegenden; des Vergangenen, aber nicht Vergessenen - des über Jahrtausende hinweg kellektiv Erinnerten; die Wiederannäherung an das räumlich weit Entfernte, an die Heimat und ihre heilige Stadt; die lang ersehnte Heimkehr zum "Tempel in Jerusalem".

Am Schluß des Gedichtes verwandelt sich die Sehnsucht nach der Überwindung zeitlicher und räumlicher Ferne in den Ausdruck religiöser Hoffnung:

Deine allverschollnen Lieder künden Gottes Wiederkehr.

Dem Anfang, den ersten beiden Versen des Gedichtes, folgt, in zwei weiteren Versen, die Schilderung des in der Heimat Israel Gesehenen:

Und ihr Jordanwellen, silbern Wüstenband,

Gärten und Gelände grünen, neues Uferland.

Dem Schluß, dem letzten Vers des Gedichtes, geht ein Vers voran, der in der Heimat Gehörtes beschreibt: Musik.

Und man hört es klingen leise von den Bergen her

Diese Gliederung des Gedichtes hat Arnold Schönberg in Musik gesetzt: Eine Gliederung, die dem ersten Teil mit zwei Verspaaren gleiches Gewicht gibt wie dem zweiten Teil mit zwei einzelnen Versen. Schönberg verdeutlicht diese Gliederung dadurch, daß er den zweiten Teil durch häufigere Textwiederholungen verlängert.

Die zentralen Ideen des Textes (zeitliche und räumliche Hinwendung zum zeitlich weit Vergangenen und zum räumlich weit Entfernten - räumliche und zeitliche Rückwendung zur realen und ideellen Heimat und ihrer Zukunft heute) spiegelt sich in Schönbergs Musik wider: In melodischen Gestaltungen, die sich zunächst von einem Ausgangston (dem Symbol des Jetzt und Hier) entfernen und dann wieder, in rückläufiger Abfolge, zu ihm zurückkehren.

Dieses Gestaltungsprinzip wird klar erkennbar schon in den ersten beiden Takten der Oberstimme. Diese folgen dem zweiteiligen Aufbau dieses Verses: Mit 6 Tönen (1-2-3-4-5-6) für den ersten Teil mit sechs Silben, der Anrufung des zeitlich Fernen:

Dreimal tausend Jahre...;

in rückläufiger Abfolge der letzten fünf Töne (5-4-3-2-1) für den zweiten Teil, der das lyrische Ich benennt:

... seit ich dich gesehn.

Töne und Intervalle der Sopran-Melodie dieser Textworte prägen - konzentriert auf einen gringeren Tonvorrat, mehrfach wiederholt mit vielfältigen melodisch-rhythmischen Abwandlungen - auch den Schlußteil des Chorstückes, in dem die drei letzten, inhaltlich zentralen Textworte ausgestaltet sind:

... künden Gottes Wiederkehr.

Im Schlußabschnitt des Stückes wiederholt sich in konzentrierterer Form, was zuvor, in größeren zeitlichen Dimensionen, schon beim Wechsel vom ersten zum zweiten Teil zu erkennen war: Die am deutlichsten hervortretenden Melodien erscheinen zunächst in den Oberstimmen (im ersten Teil zunächst im Sopran, später im Alt mit dem Sopran als besonders profilierter Gegenstimme), und erst später gewinnen die Unterstimmen an Bedeutung - besonders deutlich zu Beginn des 2. Teiles, wenn zuvor getrennt gehörte Melodiezellen des Soprans sich in Tenor und Baß überlagern: als Umkehrungskanon, der dann erst im Folgenden von den beiden Oberstimmen weitergeführt wird - als Vorbereitung des Schlußabschnittes, in dessen Anfangstakten, ähnlich wie zu Beginn des Stückes, wieder der Sopran deutlich hervortritt. Im Schlußabschnitt wandert die Hauptstimme erneut von höherer in tiefere Lage - diesmal vom Sopran in den Tenor. So werden melodische Zusammenhänge zwischen zwei Stimmen deutlich, deren enge Verwandtschaft sich zuvor schon im ersten Takt des Stückes abgezeichnet hat: Die Melodietöne des ersten Taktes im Sopran, die der Tenor am Schluß des Stückes nachdrücklich aufgreift, sind (in erster, noch durch Umstellung und melodischer Konzentration weitgehend verdeckter Form) schon im ersten Takt des Tenors, als eng verwandte Gegenstimme zum Sopran, zu erkennen.

Die melodischen Zusammenhänge, die das gesamte Stück vom ersten bis zum letzten Takt durchziehen, zeichnen sich in erster Andeutung bereits in den vier Stimmen des ersten Taktes ab: Der Tenor bringt 5 der 6 Melodietöne des Soprans in tieferer Lage und in veränderter Abfolge. Die Altstimme ist gleichsam als Gegenstück zum Tenor gebildet: Auch sie bildet sich, wie die Melodie des Tenors, in der Konzentration auf 5 Tönen - allerdings nicht aus den Tönen des Soprans, sondern aus durchweg anderen Tönen. Daß trotz unterschiedlicher Töne beide Stimmen untereinander und mit dem Sopran verwandt sind, zeigt sich an ihrer Weiterführung im folgenden Takt: In Sopran, Alt und Tenor erscheinen zuvor gehörte Töne jetzt in rückläufiger Abfolge. - Die Baßstimme ist in ähnlicher Weise, mit vorwärts und rückwärts laufender Tonfolge, im ersten Takt gebildet, während sie im zweiten Takt sich aus einer Tonfolge entwickelt, die zuvor, im ersten Takt, in der Altstimme zu hören war.

Im gesamten vierstimmigen Satzbild des Stückes wird deutlich, daß das in den beiden Anfangstakten Eingeführte in den beiden folgenden Takten in veränderter Form wiederkehrt. Besonders deutlich wird dies in der Sopranstimme, die melodisch (und anfangs auch rhythmisch) aus der Umkehrung ihrer beiden Anfangstakte gebildet, so daß das räumlich Entfernte unmißverständlich in der Gegenüberstellung zum (zuvor benannten) zeitlich Entfernten angesprochen wird:

Dreimal tausend Jahre seit ich dich gesehn,

Tempel in Jerusalem, Tempel meiner Wehn!

Auch die anderen Stimmen werden in ähnlicher Weise weitergeführt wie bisher - mit vorwärts und rückwärts laufenden Tonfolgen, mit Stimmtausch und melodischen Umkehrungen im Vergleich mit den Anfangstakten: Im engen melodischen Zusammenhang, aber mit veränderten Bewegungsrichtungen und mit neuen Tönen.

Die beiden folgenden Verse sind weiträumiger auskomponiert - besonders sinnfällig in den beiden letzten Textworten, die in allen vier Stimmen wiederholt werden:

... neues Uferland.

Schon in den ersten Takten der Vertonung dieses zweiten Verspaares zeigt sich eine deutlich veränderte Melodik - vor allem in den beiden Oberstimmen, die mit markanten Sprüngen (Quarte bzw. Quinte aufwärts) beginnen (während im Anfangstakt des Stückes die Melodie von kleinen Schritten ausging Sprünge dort in abschließender Funktion zu hören waren: am Schluß des ersten Taktes in beiden Oberstimmen). Bei der Anrufung des Heimatlandes und seiner Landschaft ändert sich die melodische Struktur: Während zuvor der Sopran als Hauptstimme im Vordergrund stand, tritt jetzt der Alt stärker hervor, dem sich der Sopran als ergänzende Gegenstimme anschließt. So wird der neue Text in neuen musikalischen Konstellationen eingeführt:

Und ihr Jordanwellen, silbern Wüstenland

Im folgenden Vers tritt wieder der Sopran als Hauptstimme in den Vordergrund; in seinem letzten Melodietakt, einer bekräftigenden Wiederholung der beiden letzten Textworte dieses Verses, sind wieder markante Sprünge (Quinte, Quarte) zu hören - ähnlich wie zuvor, am Anfang dieses Abschnittes, im Alt. So wird deutlich, daß der Text nicht nur bildlich ergänzend, sondern auch in der Rückerinnerung auf den vorausgehenden Vers bezogen ist:

Gärten und Gelände grünen, neues Uferland

Während im ersten Teil die beiden Oberstimmen dominieren, stehen zu Beginn des zweiten Teiles die beiden Unterstimmen im Vordergrund: Tenor und Baß bringen in polyphoner Überlagerung (als Umkehrungskanon) Melodien, die zu Beginn des Stückes zunächst nacheinander zu hören waren (im 1. bzw. 3. Takt des Soprans, als Symbole des zeitlich und räumlich Fernen). Diese deutlichen Erinnerungen an Bekanntes verbinden sich mit schattenhaft leisen Staccato-Tönen in den beiden Oberstimmen. In dieser polyphonen Struktur, mit musikalischen Erinnerungen an das räumlich und zeitlich Entfernte, wird das in der Erinnerung Gegenwärtige besungen: Die aus alten Zeiten stammende, aber heute erklingende Musik:

Und man hört es klingen leise von den Bergen her...

Die folgenden Textworte werden unterschiedlich ausgedeutet:

... deine allverschollnen Lieder

Diese Textworte erklingen znächst als Fortsetzung des unmittelbar Vorausgegangenen: Der zuvor in den beiden Unterstimmen begonnene zweitaktige kurze Umkehrungskanon wird, nochmals verkürzt (auf die Länge eines einzigen Taktes), in den beiden Oberstimmen weitergeführt. Gleichzeitig artikulieren sich Baß und Tenor, die beiden bis dahin streng kanonischen Stimmen, in rhythmischer Imitation - teilweise mit Tönen, die zuvor, als Musik zum vorausgegangenen Vers, in den beiden Oberstimmen zu hören waren. - Später kommen die Oberstimmen hinzu mit Anklängen an ihre zuvor gehörten, den 2. Teil eröffnenden Begleitfiguren im leisen Staccato: Als Darstellung ("... Lieder") der zuvor ("... man hört es klingen") angekündigten Musik. Diese melodische Rückerinnerung bereitet vor auf die Rückerinnerung an noch weiter Zurückliegendes: Auf die Wiederkehr der Anfangstöne, die dann anschließend die Musik zum letzten Vers prägen.

So erscheinen auch im größeren Formzusammenhang des Stückes größere melodische und polyphone Komplexe in Beziehungen des Fortschreitens und der Rückkehr, der Erinnerung und Hoffnung, wie sie auch die einzelnen melodischen Zellen und den gesamten Text prägen: Als Erinnerung an den Gott Israels, der sich den Vorfahren geoffenbart hat und von dessen Wiederkehr in geduldiger Hoffnung Text und Musik sprechen.



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