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7.22.2 Fritsch: Play 7


Johannes Fritsch: PLAY 7 (1993)

Über seine 1993 entstandene Komposition PLAY 7 schreibt Johannes Fritsch:

"Das Stück steht in der Reihe meiner ´pädagogischen´ Arbeiten (unter dem Eindruck der derzeitigen Hindemit-Euphorie kommt mir das Wort etwas schwer aufs Papier!): Stücke, Improvisationskonzepte, Übungen für mehr oder weniger professionelle Musiker (oder auch Schauspieler) - experimentell in dem Sinne des Feedback-Leitmotivs ´Erforschung musikalischer Komjmunikationsformen´".

Das Stück ist komponiert für Flöten (mindestens 12, höchstens 24 Süpieler), Zither und 2 Anklungs. Die Tonhöhen für die Flötenspieler sowie die Einsatzpunkte für die Zither und die beiden Anklungs (indonesische Rasselinstrumente) sind auf verschiedenen Notenblättern notiert. Einsatzpunkte für die Anklungs markieren (nach dem Partitur-Vorwort des Komponisten) jeweils "eine einmalige, ruckartige Bewegung des Instruments." Für die Zither notiert Fritsch einfache rhythmische Motive sowie die Saiten, auf denen sie gezupft werden sollen. Die Flötenstimme wird in langsamem Tempo "quasi unisono auf einfachen Holzflöten mit 6 Löchern gespielt".

Die Konzeption des Stückes erläutert Fritsch auf verschiedenen Ebenen:

- autobiographisch (mit Erinnerungen an das von Fritsch und seinen freunden seit den 70er Jahren betriebene Feedback-Studio):

"Die Zither ist eine Art Zitat aus der Vergangenheit der Firma Feedback (irgendjemand hat sie mal liegen lassen, sie ist ziemlich kaputt), die Anklungs sind (wie auch die Flöten) billig aus dem Teehaus Sahnder bezogen"

- musikethnologisch:

"Alle Instrumente stehen für einen oder mehrere Kulturkreis(e), ihre Durchdringung in einem Weltmusikzusammenhang"

- aufführungspraktisch:

Fritsch betont die besondere Bedeutung einer Ebene

"der kulturübergreifenden, gleichsam musikalischen Gestaltung, eine Art Kunstmusikzusammenhang, der in der gemeinsamen Probenarbeit den Mitwirkenden auch ohne Schwierigkeiten klarzumachen war."

Die (Pseudo-)Unisono-Melodie der Flöten geht aus vom tiefsten, im leisen Glissando mehrmals gespielten Ton. Zu den einzelnen, durch Pausen getrennten Tönen treten nach einigen Takten kurze Phrasen, in denen sich erste Ansätze rhythmischer und intervalliger Gestaltung zeigen - zunächst Gruppen mit wenigen, langsam aufeinander folgenden Tönen, deren Intervalle im Glissando verschliffen werden. Es ergeben sich erste Auf- und Abwärtsbewegungen im Tonraum, später auch Verzierungen. - Im größeren Zusammenhang der Abfolge vieler einzelner Phrasen erkennt man, wie Tonvorrat und Tonumfang der Melodie sich Schritt für Schritt erweitern, bis schließlich der höchste (sechste) Ton erreicht ist; anschließend beginnt der schrittweise Abbau der hohen Melodietöne, bis die Melodie schließlich, verebbend in zahlreichen Wiederholungen, wieder in ihrer tiefsten Lage abschließt.

Die begleitet mit Akzenten von 2 Anklungs (in rhythmischen Gruppen mit abnehmender Tonzahl:

3-3, 3-3; 3-2: 2-2, 2-2) und mit Gruppen gezupfter (Zither-)Töne (mit von Phrase zu Phrase sich steigerndem Tonvorrat).

mathias spahlinger: vorschläge

konzepte zur ver(über)fläussigung der funktion des komponisten

1993 veröffentlichte Mathias Spahlinger 28 Textkompositionen unter dem Titel "vorschläge - konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten". Die Texte sind in der Partitur nach ihren Titeln alphabetisch geordnet, von a ("attacca") bis z ("zikaden"). In einer "vorüberlegung" schreibt der Komponist": die vorschläge können in jeder beliebigen auswahl, reihenfolge und kombination, auch synchron, ausgeführt werden. einzelne konzepte können betstandteile von anderen sein oder andere beinhalten. insbesondere jede form der variantenbildung und weiterentwicklung ist erwünscht." Unter dem letzten Text steht die Bemerkung: "wird fortgesetzt" - die Deklaration der variabel interpretierbaren und kombinierbaren Texte als work in progress. Titel und Untertitel verweisen auf die Absicht des Komponisten, die Exklusivität seiner individuellen musikalischen Verantwortung aufzubrechen und Möglichkeiten zu entwickeln, um Mitwirkende, viellleicht auch Hörer zur aktiven Mitwirkung an kompositorischen Entscheidungsprozessen anzuregen.

In seinen Texten versucht Spahlinger die Formulierung von Spielregeln, "in denen ihre selbstaufhebung, ihre verflüssigung und verüberflüssigung angelegt ist." Was er vorschlägt, könnte nach seiner Vorstellung von den Mitwirkenden auch abgewandelt oder invollständiger Eigenständigkeit dialektisch entwickelt werden: "spielregeln für musik, seien sie vom komponisten als anregung vorgegeben oder aufgrund von oder ohne eine anregung gemeinsam entwickelt, sollten nicht am resultat orientiert sein, nichts haben von strikt zu befolgender verkehrsordnung, sondern in jedem augenblick ihrer ausführung zur disposition stehen. die regel soll beeinflußbar, veränderbar, ja abschaffbar sein."

Die Texte lassen sich einzeln, aber auch in unterschiedlichen Konstellationen der Auswhal und Zusammenstellung aufführen. In mehreren Fällen sind sie durch Querverweise oder durch verwandte Überschriften miteinander in Beziehung gebracht.

Mathias Spahlinger versucht, in seinen Textkompositionen die traditionelle Arbeitsteilung zwischen dem Komponisten, dem Interpreten und dem Hörer zu überwinden. Vor allem geht es ihm darum, Entscheidungen zu delegieren, die in einer traditionellen Komposition ausschließlich der Komponist zu treffen hätte. Seine "Vorschläge" sind so konzipiert, daß sich Situationen ergeben können, die zu unvoraussehbaren, von allen Mitwirkenden gleichwertig beeinflußten klanglichen Resultaten führen. Jeder soll die Chance erhalten, gemeinsam mit anderen Klänge zu erfinden und auf Klänge zu reagieren. In den meisten Stücken sind nicht einmal die Klangmittel festgelegt; sie können vokal oder instrumental, mit konventionell oder unkonventionell gespielten Instrumenten oder mit zu Instrumenten umfunktionierten Alltagsgegenständen realisiert werden, in manchen Fällen auch mit technischen Geräten.

Spahlinger trägt überdies dem Umstand Rechnung, daß musikalische Erfindung nicht nur aus spontaner Intuition entstehen kann, sondern auch aus der Reaktion auf Bekanntes oder auf dessen Verarbeitung. In individuation 1 schlägt er vor, daß der Umgang mit dem walkman, der die Menschen normalerweise als Musikhörer isoliert, umfunktioniert wird zu stimmlos-musikalischer Kommunikation: Jeder Mitwirkende hört auf einem walkman "selbstgewählte oder unbekannte musik", er soll würfeln, um herauszufinden, ob er leise mitsingen/mitsummen oder verstummen soll. In diesem Stück geht es um verschiedene Dimensionen des Hörens: Was höre ich? Wie reagiere ich auf Gehörtes - und auf das, was wahrscheinlich andere hören, sowie auf deren Reaktionen auf konservierte oder live produzierte, auf fremde und selbsterzeugte Klänge.

schriftlich ist ein Vorschlag, Musik zu erfinden im gemeinsamen Notieren und Realisieren: Zettel mit variabel interpretierbaren Notationen werden realisiert oder zur Realisation an andere weitergereicht. Wer einen solchen Zettel erhält, kann die Notation ausführen (sogleich oder zu einem späteren Zeitpunkt) oder pausieren oder etwas anderes spielen; anschließend gibt er das Notierte - oder einen anderen Zettel - weiter: Notation wird zu einem Vorschlag, den man konkretisieren, aber auch abändern oder durch einen eigenen Vorschlag ersetzen kann; jeder Mitwirkende kann selbst Notiertes oder die Notation eines anderen ausführen, d. h. sich emanzipieren sowohl in kompositorischen als auch in interpretatorischen Aufgaben. Diese Emanzipation bezieht sich auch auf die vorgegebenen Spielregeln und soll so weit führen, "daß nicht voraussehbar sein soll (weil dies der entscheidungsfreiheit der einzelnen überlassen bleibt), ob diese regeln im einzelnen moment gelten sollen oder nicht".

Spahlinger berücksichtigt in verschiedenen Texten auch Eigengesetzlichkeiten des Klangmaterials und seiner Klangkonstellationen sowie die individuellen Determinanten kollektiver Musikerfindung und kollektiven Musizierens. Zum Thema individuation hat er drei Texte verfaßt. Der erste Text geht aus von der Verarbeitung von zugleich individuell und real (über walkmen) Gehörten), der dritte thematisiert für jeden Mitwirkenden "klänge, fragmente oder zitate", "die für sie/für ihr in einen ganz bestimmten persönlichen erfahrungs- oder funktionszusammenhang gehören, wovon die anderen nichts wissen können (oder sollen)". Im zweiten Text ("individuation II (feed back)) hat Spahlinger eine Idee von Terry Riley ("ear peace": ein Stück für instrumentale Aktionen, die für das Publikum sichtbar sind, aber unhörbar bleiben) "verwandelt, zum Publikum hin geöffnet":

"für jede aufführung neu" zu wählen ist "eine leicht nachzuahmende aktion, die töne, klänge, geräusche hervorbringt, die nur von den ausführenden selbst wahrgenommen werden können". Sie soll "auf eine die nachahmung anregende weise dem publikum vorgeführt werden." Wenn dieses Stück nicht live aufgeführt, sondern in einer Rundfunksendung oder auf Tonträger wiedergegeben und gehört wird, entpuppt sich seine subversive Paradoxie: Wenn etwas für den Hörer vernehmbar wird, entlarvt es sich schon dadurch als Verletzung der Regel, die der Komponist aufgestellt hat. Wer dieses Stück tatsächlich kennenlernen will, muß die Rolle des Medienkonsumenten aufgeben und selbst zum Erfinder und Realisator von Musik werden. In diesem Stück zeigt sich exemplarisch, was auch für andere Texte dieses Zyklus gilt - zumal dann, wenn sie über Tonträger wiedergegeben und gehört werden: Das Hörbare verweist auf Dimensionen musikalischer Erfahrung, die sich nicht alein im Hören vorhandener Musik erschließen können, sondern die Impulse geben, tradierte Abgrenzungen des Hörens vom Erfinden und klanglichen Realisieren von Musik zu überwinden.

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