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7.51 Musik - Sprache


Rudolf Frisius

MUSIK - SPRACHE

1.

"Eine Probe des noch Ungehörten: nicht nur bislang niegehörte Klänge, sondern auch Klangverbindungen, von denen sich nicht sagen ließ, ob sie vorherbestimmten Gesetzen von Komponisten folgten, oder ob sie einfach dem Zufall entsprungen waren. Und wenn von dieser neuen Sprache ein Bann ausging, so war sie doch auch befremdlich, um nicht zu sagen ungehörig. Handelte es sich überhaupt noch um eine Sprache?"1

Ist Musik eine Sprache? Gibt es Klangstrukturen, deren Sprachcharakter im Ungewissen bleibt - und können solche Klangstrukturen Musik sein?

Wohl niemand hat im 20. Jahrhundert diese Fragen radikaler gestellt als Pierre Schaeffer (1910-1955), der wichtigste Pionier und Theoretiker der technisch produzierten Hörkunst. Die "musique concrète", die er 1948 erfand, hat das Hören und die Theorie des Hörens so einschneidend verändert, daß auch grundlegende Fragen nach dem Sprachcharakter der Musik und nach dem Verhältnis zwischen Musik und Sprache sich neu stellen mußten. Alte Probleme kehrten wieder unter neuen Perspektiven: Musik als Sprache - Sprache als Musik; Musik und Sprache als Problem sei es der Integration, sei es der Konfrontation...

Schaeffer, der musikliebende Schriftsteller, der an literarischer Rezitation, am Hörspiel und an Musikaufnahmen interessierte Rundfunkingenieur, der politisch und kulturpolitisch engagierte Radiopraktiker, der undogmatische und phänomenologische Klangforscher: Er wußte sehr wohl, daß das Nachdenken über Musik und Sprache produktiv verunsichern kann, daß aber gleichwohl das Problem unzulässig verengt würde, wenn man Musik nur in der Relation zur Sprache - oder, umgekehrt, die Sprache nur in der Relation zur Musik bestimmen wollte. Schaeffer hat deutlich gemacht, daß beide Bereiche in Verbindung mit einem dritten bestimmt werden müssen: mit dem Geräusch. Sprache, Musik und Geräusch verweisen, wie Schaeffer feststellt, auf vollkommen unterschiedliche Dimensionen der Hörerfahrung und des Hörens:

"Wir sehen..., wie unterschiedlich unsere Hörabsichten sind: für die menschliche Sprache geht es darum, das Gesprochene zu verstehen - für die Vogelsprache ist es uns leider verwehrt; für die Musik weiß man sehr wohl, daß man sie um ihrer selbst willen hört und nicht aufgrund einer Mitteilung, die sie nur weitergeben könnte; das Geräusch enthält wie die Sprache ein Gesetz, das durch die Zeichen, die es liefert, auf eine Geschichte hinweist, die es erzählt."2

Schaeffer illustriert seine Definitionen mit einem Hörbeispiel, das gesprochene Sprache und Vogelgesang, Musik und Geräusche enthält: Eine Frauenstimme ruft und spricht. Eine Nachtigall singt. Einige Fragmente instrumentaler Musik sind zu höröen. Ein Auto fährt an und provoziert einen Unfall. - Jede dieser Aufnahmen läßt sich anders hören. Jede läßt sich überdies in anderer Weise gliedern, in Sinneinheiten zerlegen; Schaeffer erläutert dies in Verbindung mit Ausschnitten aus dem zuvor präsentierten Hörbeispiel:

"Für die Sprache wäre das Wort, als Sinnelement, die Einheit; für den exotischen Vogel würden wir den Triller vorschlagen; für die Musik den Ton, es sei denn, wir zögen den Akkord oder das Motiv vor."3

Als Illustrationsbeispiele hierzu hört man den Ruf der Frauenstimme, eine kurze Figur aus dem Gesang der Nachtigall, instrumentale Töne und Tongruppen und schließlich das Anfahren des Autos (das Gasgeben). Diese Ausschnitte ergeben sich für Schaeffer aus einer Art "Suche nach dem Prinzip, ... wobei jede Kette uns nur spezifische Elemente gibt: das Element der Bedeutung, das sprachliche oder musikalische, oder das Element der kausalen Induktion."4

Man kann nach Schaeffers Meinung Klänge auf ihre Bedeutung befragen - seien es Konstellationen von Sprachlauten, seien es musikalische Strukturen und Texturen; wenn dies richtig ist, könnte es dafür sprechen, daß es Gemeinsamkeiten zwischen sprachlichem und musikalischem Hören gibt; daß Sprache und Musik anders gehört werden als ein Geräusch, das direkt auf einen realen Vorgang verweist (als Anzeichen, nicht als Träger einer codierten Bedeutung; natürlich spricht Schaeffer hier von Geräuschen nicht im Sinne der Physik, sondern im dramaturgischen Sinne, wie er etwa aus Theorie und Praxis des Hörspiels geläufig ist). Dies schließt nicht aus, daß Geräusche (seien sie physikalisch oder auch dramaturgisch definiert) auch unter sprachlichen oder musikalischen Aspekten gehört werden können - zum Beispiel gesprochene gesprochene Konsonanten oder ein angeschlagenes Tamtam. Genau das ist es, was Schaeffer vorrangig interessiert - stärker als das Umgekehrte, das "realistische", auf Vorgänge der Schallproduktion konzentrierte Hören gesprochener Sprache oder erklingender Musik. Schaeffer fragt, wie wir Geräusche dann hören, wenn wir unsere Aufmerksamkeit vom Vorgang der Geräuscherzeugung abwenden - sei es deswegen, weil er uns nicht interessiert; sei es deswegen, weil er uns nicht hinreichend bekannt ist (zum Beispiel bei einer Lautsprecher-Übertragung): Ist es möglich, daß Geräusche zum Sprechen gebracht werden und daß sie uns etwas zu sagen haben?

2.

Die Annahme, daß man in der Musik ebenso wie in der Sprache nach Bedeutungen fragen könnte - daß also wenigstens insoweit (unter Aspekten der Übermittlung und des Verstehens von Bedeutungen) die Musik als eine Art Sprache bezeichnet werden darf - diese Annahme hat Widerspruch provoziert, zum Beispiel in einem energischen Veto von Iannis Xenakis:

"Musik ist... keine Sprache. Es ist nicht ihre Aufgabe, mit ihren Tönen bestimmte Bedeutungsinhalte auszudrücken. Musik steht für sich, sie weist nicht über sich hinaus."5

So hat sich Iannis Xenakis 1980 im Gespräch mit Bálint András Varga geäußert, der im im Vorspann eines weiteren, 1989 geführten Gespräches, sich seinerseits zu einer ganz anderen Auffassung bekennt:

"Über die uralte Frage, ob Musik mehr bedeute als die Töne, aus denen sie besteht, haben wir buchstäblich die Klingen gekreuzt. Ich bleibe weiterhin bei dieser Auffassung, aber ich respektiere auch die Überzeugung des Komponisten, die sich auf eine Kombination ästhetischer, psychologischer und veranlagungsbedingter Motive gründet, daß dem nicht so sei."6

B. A. Varga geht in seinem Einspruch so weit, daß er - zumindest im Bezug auf seine eigene Hörerfahrung - die ästhetische Position, die Xenakis verbal bezieht, mit der Wirkung seiner Musik zu widerlegen versucht. Varga erwähnt, "den ungeheuren emotionalen Eindruck"6, den diese Musik bei ihm hinterließ; andererseits verhehlt er nicht, wie schwer es war, den Komponisten auf die Wirkung seiner Musik anzusprechen. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß Xenakis selbst in der hochexpressiven, Krieg und Tod beschwörenden Textvorlage seiner Komposition "Kassandra" dem Interpreten eine "gefühlvolle" Ausführung strikt verbietet:

"Die Interpretation soll jeden Gefühlsausdruck vermeiden, denn dadurch entsteht die Gefahr, den Text von Aischylos mit zeitgenössischen Klischees zu überlagern."7

Die Auseinandersetzung mit Tod und Krieg sieht Xenakis nicht nur im Kontext seiner eigenen Vergangenheit, seines Kampfes und seiner schweren Verwundung im griechischen Krieg und Bürgerkrieg; er bezieht sie auch auf die unmittelbare Gegenwart: "Kriege, gigantische ideologische Umwälzungen überall auf der Welt. Wo Sie auch hinschauen, in Asien, in Afrika, auch in Südamerika, sind Menschen in Not... Die Veränderungen, die sich jetzt... vollziehen, sind von einem Ausmaß, das die Menschheit noch nicht gekannt hat. Denken Sie nur an die Krise und den Zusammenbruch der Ideologien und Systeme in Osteuropa."8

Seine Einstellung zu Krieg und Tod hat Xenakis unmißverständlich auf eine pilosophische Grundüberzeugung bezogen, die er schon frühzeitig, zunächst in scheinbar reiner Abstraktion, als Leitspruch seines Instrumentalwerkes "Achorripsis", formuliert hat:

"Ich habe Heraklit neu entdeckt; er sagt, es gebe keinen Unterschied zwischen Leben und Tod. Wahrscheinlich meint er damit, daß beides gleichwertig sei. Existenz ist nichts, was voranschreitet, ebensowenig wie Nichtexistenz... Bevor ich geboren wurde, gab es nichts. Gegenwärtig existiere ich, und ich weiß, daß ich existiere, das ist alles. Nach dem Tod werde ich verschwinden und die Welt wird wieder aufhören zu sein. Das Wissen um das Nichts ist für ein Lebewesen ungeheuer faszinierend, aber es relativiert auch das Leben selbst; es bedeutet die Gleichwertigkeit von Sein und Nichtsein."9

Die Massenstrukturen und die Kompositionsverfahren des von Formeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelenkten Zufalls, die Iannis Xenakis seit den fünfziger Jahren in seiner Musik verwendet, präsentieren sich in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts als entschiedene Alternativen zu den Strukturen einer sprachähnlichen, sich aus kleinsten, wohl defininierten und deteminierten Elementen Schritt für Schritt aufbauenden Musik, wie sie für tradierten Konzeptionen abendländischer Musik bis in die zwölftönige und serielle Musik hinein verbindlich gewesen waren. Anregungen für seine produktive Kritik an sprachähnlicher Musik hat Xenakis nicht nur aus der Natur empfangen (etwa dann, wenn er dem Gesang der Zikaden zuhörte), sondern sie ergaben sich auch aus seiner Konfrontation mit der politischen Realität (seit den Jahren des Zweiten Weltkrieges, in denen er an blutig niedergeschlagenen Athener Massendemonstrationen gegen die deutschen Besatzungssoldaten teilgenommen hatte). Seit den fünfziger Jahren hat Xenakis in den Strukturen seiner "stochastischen Musik" diese Erfahrungen konstruktiv reflektiert. Erst seit den sechziger Jahren finden wir in seiner Musik nicht nur hermetisch antisprachlichen Konstruktivismus, sondern auch Verbindungen zu sprachlichen Strukturen - vor allem dann, wenn er Sing- oder Sprechstimmen einbezieht, wenn er Texte musikalisiert, mit instrumentalen oder elektroakustischen Klängen begleitet, wenn er gegen seine Leugnung des Sprachcharakters der Musik gleichsam selbst Einspruch erhebt - etwa in Vertonungen griechischer Tragödientexte, in Musik zum Gedenken an politische Gefangene, in Vertonungen von Texten über Krieg und Tod.

Eine Frage drängt sich auf: Ist es vorstellbar, daß Iannis Xenakis den Sprachcharakter der Musik negiert und es gleichwohl für möglich hält, in seiner Musik etwas über die Bedeutung von Leben und Tod auszusagen? Müßte man nicht eigentich davon ausgehen, daß Xenakis den Sprachcharakter der Musik noch viel radikaler in Frage stellt als Pierre Schaeffer, der auch seine neuartigen Klangobjekte noch sprachähnlich zu klassifizieren, mit den Begriffen charakteristischer "Klangtypen" zu belegen versuchte? Ergibt sich nicht andererseits eine paradoxe Affinität zwischen den Ansätzen von Schaeffer und Xenakis - etwa in der Weise, daß beide eigentlich doch auf die Gültigkeit dessen hoffen, was sie so radikal in Frage stellen?

3.

Kann Musik - nicht zuletzt auch Neue Musik - etwas aussagen, das über ihre immanenten Materialstrukturen und Formzusammenhänge hinausweist - sei es als Sprache, sei es in der Verbindung mit Sprache, sei es in der Kombination beider Möglichkeiten?

Schon Thasybulos G. Georgiades hat darauf hingewisen, daß im Kontext der abendländischen Musikgeschichte sich diese Frage unter verschiedenen Aspekten verschieden beantworten läßt. Er schreibt: "Man kann... das Werden der abendländischen Musik von verschiedenen Seiten her betrachten. Zwei einander entgegengesetzte Gesichtspunkte lassen die Musik a) als isoliertes, autonom-ästhetisches Phänomen, als tönende Gestalt, b) als etwas im allgemeinen Geistig-Menschlichen Verwurzeltes erscheinen. Die erste Betrachtungsweise läßt sich durchführen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Struktur des musikalischen Satzes richtet. Zu der zweiten bietet uns das Verfolgen des Zusammenhangs zwischen Musik und Sprache den besten Zugang."10

Georgiades konzentriert sich einerseits auf Entwicklungen von Satztechnik und Deklamation, andererseits auf das Geistig-Menschliche in der christlichen Tradition: Er untersucht die abendländische Musikentwicklung an Beispielen der Vertonung des Messetextes. Seine Vorstellung allgemein verbindlicher geistig-religiöser Inhalte, die Anlaß zur Entwicklung individuell verschiedener Ansätze künstlerischer Ausgestaltung bieten können, hat weiter gewirkt bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: Am 16. August 1995 gelangte in Stuttgart ein "Requiem der Versöhnung" zur Uraufführung, an desssen Vertonung 14 Komponisten aus 12 Ländern mitgewirkt hatten. Nur wenige der beteiligten Komponisten hatten erkennen lassen, daß in der heutigen Situation die Festlegung auf einen für alle verbindlichen, zur musikalischen Vertonung bestimmten Text durchaus problematisch erscheinen kann - vor allem Luciano Berio, der statt des geistlichen Textes ein Gedicht von Paul Celan verwendete, und Wolfgang Rihm, der sich auf textlosen Gesang mit aus der Ferne, aber heftig einfallender Schlagzeugbegleitung konzentrierte. Bei nicht wenigen anderen Komponisten, die in ihrer produktiven Skepsis nicht so weit gegangen waren, wurde deutlich, daß das Einverständnis mit einer traditionellen Textvorlage auch zum Einverständnis mit traditionellen Verfahren der Textvertonung führen kann. Bei Krzystof Penderecki führte dies so weit, daß er vor der Aufführung seines neotonalen Requiemsatzes die Frage aufwarf, in welcher Tonart wohl seine Kollegen ihre Beiträge geschrieben hätten - und erst dann sich daran erinnerte, daß im 20. Jahrhunderts (auch in seinen eigenen Werken aus früherer Zeit) die Festlegung auf eine Tonart ja keineswegs mehr selbstverständlich ist. - Im Stuttgarter Gemeinschaftsprojekt erwies sich die Übereinstimmung mit überlieferten musikalischen und musiksprachlichen Traditionen (wozu auch Traditionen der etablierten Avantgarde gehören können), trotz aller postmodernen stilistischen Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge, als eine stark prägende Kraft - eine Kraft, deren Ungebrochenheit um so erstaunlicher erscheinen kann, wenn derselben römisch-katholischen Textvorlage beispielsweise ein sonst der Boulez-Nachfolge verpflichteter Franzose (Marc-André Dalbavie), ein einst in der DDR eng mit Paul Dessau verbundener Deutscher (Paul-Heinz Dittrich) und ein Japaner (Joji Yuasa) folgen. - Die Auseinandersetzung mit Traditionen der christlichen Kirchenmusik (vor allem des gregorianischen Chorals) artikuliert sich in diesem Requiem als Wille zur Versöhnung in einer Welt, die sich in vielen Erfahrungsbereichen von diesen und ähnlichen Traditionszusammenhängen bereits weit entfernt hat.

Das für Soli, Chor und Orchester bestimmte internationale Stuttgarter Requiem-Projekt läßt sich beschreiben als geistliches Gegenstück zu einem um einige Jahre älteren Gemeinschaftswerk, das ein "weltlich"-politisches Thema in elektroakustischen Klangstrukturen verschiedener Komponisten konkretisierte: 1989, auf dem renommierten internationalen Festival der Lautsprechermusik in Bourges, war dort ein internationales Gemeinschaftsprojekt zur Uraufführung gekommen, das eigentlich an 1789, das Jahr des Beginns der französischen Revolution, erinnern sollte - und das dann, vor allem in Beiträgen aus den (damals noch) kommunistischen Ländern, unversehens zum Dokument aktueller politischer Entwicklungen wurde. Die französischen Initiatoren des Projektes, Christian Clozier und Francoise Barrière, hatten sicherlich, wie es sich übrigens auch aus ihren eigenen kompositorischen Beiträgen erschließen läßt, mit mehr oder weniger affirmativen, die revolutionäre Tradition bejahenden Bekenntnis- und Festmusiken gerechnet. Da das Projekt aber inhaltlich durchaus offen ausgeschrieben worden war, konnte mehr und anderes als das vordergründig Erwartete entstehen: Musik als Symbol nahe bevorstehender gesellschaftlicher Umwälzungen - besonders sinnfällig in dem (in ebenso listiger wie damals vollkommen überraschender Prophetie die deutsche "Wende" ankündigenden) Beitrag "Mein 1789" des Ostberliner Komponisten Georg Katzer. Im Vergleich der Beiträge verschiedener Länder aus Ost und West zeigte sich - auch im Umgang mit den von den Veranstaltern vorgeschlagenen Texten (z. B. Auszügen aus mehreren Menschenrechts-Deklarationen aus jener Zeit, die bald hörspielartig akustisch inszeniert, bald in akustische Klangflächen integriert, bald in technischer Verarbeitung musikalisiert wurden) - eine reiche Vielfalt ästhetischer und politischer Ansätze und zugleich in vielen Fällen ein waches Gespür für sich anbahnende neue (musikalische und, vor allem, musikübergreifende) Entwicklungen. Die Planung und Durchführung des Projekts war flexibel genug, dies zu ermöglichen.

1995 präsentieren sich die Donaueschinger Musiktage unter dem übergreifenden Thema "Musik und Sprache". Ästhetisch normierende Vorgaben, etwa die Festlegung auf einen einheitlichen, zur arbeitsteiligen Vertonung bestimmten Text oder auf ein der politischen Aktualität verpflichtetes Thema, gibt es in der Programmkonzeption nicht. Wichtiger ist die offene Präsentation einer Vielzahl offensichtlich unterschiedlicher Ansätze - von inhaltsbezogenen Kompositionen ("Musik als Sprache") bis zu unterschiedlichen Textvertonungen und zu Realisationen experimenteller Lautpoesie. Hier geht es nicht um vordergründige Vereinheitlichung der ästhetischen Orientierung, sondern um die Dokumentation einer möglichst reichhaltigen Vielfalt - und dies nicht nur in vokal-instrumentaler Musik, sondern auch in live-elektronischen Aufführungsformen, in Klanginstallationen und in der Präsentation "Akustischer Kunst", wie sie sich seit den siebziger Jahren auch in exemplarischen Produktionen des Szuka-Preises als Alternative zur Musik mit herkömmlichen Klangmitteln präsentiert. Das Thema betrifft sowohl "sprechende Musik" als auch Musik, deren instrumentale Klänge sich mit Sprachlauten verbinden. Das Verhältnis zwischen Musik und Sprache wird thematisiert in einer musikalischen Situation, die keine eindeutig expemplarischen Lösungen im Kontext einer "Schule" oder im oeuvre eines einzelnen Komponisten erwarten läßt - anders als in den fünfziger Jahren, als Karlheinz Stockhausen unter dem Aspekt "Musik und Sprache" unterschiedliche ästhetische Konkretisierungen serieller Kompositionstechniken bei Pierre Boulez ("Le Marteau sans Maitre"), Luigi Nono ("Il Canto Sospeso") und in seiner eigenen Musik ("Gesang der Jünglinge") untersuchte; anders auch als in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, als Pierre Boulez das Verhältnis zwischen Musik und Sprache neu zu bestimmen versuchte (zunächst, in "Poésie pour pouvoir", unter Einbeziehung geprochener Sprache und elektronischer Klänge; später, in "Pli selon Pli", in der Verbindung des Sologesangs mit dem Orchester). Das Thema "Musik und Sprache" präsentiert sich in der Mitte der neunziger Jahre nicht als zentrales Problem der kompositorischen Standortbestimmung, sondern eher als eine von mehreren Möglichkeiten, Bilanz zu ziehen unter einem bestimmten Aspekt (dem in Donaueschingen zuvor, im Jahre 1994, der komplementäre Aspekt vorausgegangen ist: "Poesie der Abstraktion - Musik jenseits der Sprache"). Ästhetische Offenheit und Pluralität verbindet sich so mit der strukturierenden Kraft eines bündelnden Themas, das zu aktuellen Bilanzierungen einlädt - zu Erkundungen der Sprache der Musik, der Musik der Sprache, vielfältiger Möglichkeiten der Konfrontation oder Koordination von Sprache und Musik.

4.

Im Verhältnis zwischen Sprache und Musik stellen sich immer wieder Fragen nach der hierarchischen Abstufung, aber auch nach Möglichkeiten der Ergänzung, der stellvertretenden Ersetzung, des beziehungsreichen Kontrastes, der Verstärkung oder der Kontrapunktierung. In vielen Epochen erscheint als Gradmesser dieses Verhältnisses die Beziehung zwischen vokaler und instrumentaler Musik. Obwohl diese Beziehung nur einige der grundlegenden Affinitäten zwischen Sprache und Musik betrifft (und zwar von Fall zu Fall verschiedene - je nachdem, auf welche musikgeschichtliche Epoche oder auf welchen Aspekt im oeuvre eines Komponisten oder sogar innerhalb desselben Musikstückes man sich bezieht), ist ihre genauere Bestimmung und Differenzierung wichtig - sei es, daß Vokalität und Instrumentalität sich sogar in verschiedenen Notation unterscheiden (wie in der altgriechischen Musik), sei es, daß eine ursprünglich vom Gesang ausgehende Musik sich so weiter-entwickelt, daß sie wichtige Weichen für die Entwicklung der Instrumentalmusik stellt (wie im gregorianischen Choral und in der von Verfahren seiner mehrstimmigen Um- und Weiterverarbeitung ausgehenden vokalen, vokal-instrumentalen und rein instrumentalen Musik in verschiedenen Epochen der abendländischen Musikgeschichte). Eigenständige Ansätze der Instrumentalmusik lösten sich in der abendländischen Musikentwicklung der Neuzeit von vokalen Vorstellungen bald im simulaten Kontrast (z. B. in der Überlagerung essentiell verschiedener Vokal- und Instrumentalpartien, wie man sie etwa seit den Anfängen der Oper im sogenannten "Generalbaßzeitalter" findet), bald in vollständiger Loslösung vom Vokalen (in bestimmten Ausprägungen der instrumentalen Solo- und Solokonzert-Literatur). Eigenständige, etwa von Tanzrhythmen der von charakteristischen Spoielfiguren ausgehende Instrumentalmusik begann, sich in anderen Bahnen zu entwickeln. Andererseits bildeten sich Tendenzen heraus, die divergierenden Entwicklungen der vokalen und instrumentalen Musik entgegenzuwirken versuchten - etwa bei Johann Sebastian Bach, in dessen Kompositionstechniken sich vielfältige neuartige Übergangs- und Vermittlungsformen zwischen vokaler und instrumentaler Schreibweise finden, wobei einerseits die vokale Schreibweise sich instrumentalisiert (in einer das gesamte Satzbild erfassenden Konstruktion, bei der Bach das Vorbild der Niederländer mit den Erfahrungen der von ihnen inspririerten Instrumentalmusik verbindet), andererseits die instrumentale Schreibweise sich als Fortschreibung des Vokalen interpretieren läßt (zum Beispiel dann, wenn im Credo der h-moll-Messe ein dem gregorianischen Choral entnommenes Fugenthema nicht nur vokal, sondern auch in eigenständigen, an markanten Stellen über den Umfang der Singstimmen hinaus führenden Insrumentalstimmen verarbeitet wird; die Wesensverwandtschaft zwischen Gesangs- und Instrumentalpolyphonie bestimmte selbst noch das konstruktiv-spekulative Spätwerk Bachs so unverkennbar, daß noch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Dieter Schnebel produktiv darauf reagieren konnte in vokalen Bearbeitungen von Kontrapunkten der "Kunst der Fuge").

Die Verwandlung von Gesungenem in Gespieltes, von Gespieltem in Gesungenes, von gesungener Sprache in rein instrumentaler Musik in sprechende oder sprachähnliche Musik: Diese und andere Metamorphosen prägen die musikgeschichtliche Entwicklung vor allem in den letzten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung. Selbst zur Zeit der Wiener Klassik, in einer Blütezeit der absoluten Instrumentalmusik, haben Rhythmik und Melodik der konstruktiv prägenden Themen sich allenfalls in extremen Ausnahmefällen (z. B. in den radikalsten Instrumentalfugen des späten Beethoven) vom Ideal der "Singbarkeit" gelöst: Die meisten klassischen Themen kann man nicht nur auf vollkommen verschiedenen Instrumenten spielen (etwa auf der Violine und auf dem Klavier; vom obligatorischenWechsel der Themen zwischen beiden Instrumenten, wie er für klassische Violinsonaten typisch ist, haben erst spätere Komponisten, vor allem Robert Schumann und César Franck, sich distanziert), sondern auch (mit)singen. Rhythmische und melodische, akkordische und polyphone Strukturen sind in klassischer Musik meistens so angelegt, daß Musik die Töne und Tongruppen gleichsam zum Sprechen bringt - am deutlichsten im Schlußsatz von Beethovens neunter Sinfonie, aus deren Ansatz später Richard Wagner eine neue Konzeption der Integration von Musik und Sprache im szenischen Kontext eines integralen Gesamtkunstwerkes entwickeln sollte. Allerdings konnten sich die avancierten Komponisten des 19. Jahrhunderts nicht darauf verständigen, ob hier Sprache mit Text und Gesang sich verbinden oder eine im Bereich des Instrumentalen verbleibende Musik zum Sprechen gebracht werden sollte. Der erste Weg, der Weg der Verwandlung von Musik in klingende Sprache, wurde maßgeblich für die von der Wiener Klassik ausgehende Vokal- und Opernmusik von Richard Wagners "Fliegendem Holländer" bis zu Alban Bergs "Wozzeck". Der zweite Weg, der Weg der Verwandlung deutbarer Sprache in sprechende Musik, hat zur klassischen und romantischen Programmusik geführt, deren Konzeptionen auch in der Musik des 20. Jahrhunderts immer noch eine wichtige Rolle spielten und spielen (bis hin zur Musik mit "heimlichen", d. h. nicht gesungenen, sondern nur deklamationsgerecht von Instrumenten gespielten Texten, wie man sie in Vorahnungen schon bei J. S. Bach findet, und wie sie später, unter programmatischen Aspekten, von Berlioz und Liszt bis zur "Lyrischen Suite" von Alban Berg zentrale Bedeutung gewinnen sollten; neuere Spuren dieser Entwicklung einer Programmusik der verschwiegenen Texte lassen sich auch in der Musik späterer Jahrzehnte nachweisen, z. B. bei B. A. Zimmermann, K. Stockhausen und M. Kagel).

Musik als klingende Sprache (Vokalmusik, Musiktheater) - Sprache als bedeutungsträchtige, aber wortlose Musik (Programmusik im weitesten Sinne): Beide Möglichkeiten erscheinen bald koexistierend, bald in konfliktträchtigen Konstellationen, bald in Affinitäten (z. B. in der rhythmischen und musikalischen Differenzierung - in Sprachrhythmus und Sprachmelodie sowie in ihren musikalischen Korrelaten), bald in wechselseitiger konstruktiver oder semantischer Ergänzung oder Kontrapunktierung. Die Probleme, die sich hierbei ergeben, können sich im Kontext der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts dann neu stellen, wenn die Musik sich in wesentlichen Aspekten von älterer Musik unterscheidet - zum Beispiel deswegen, weil sie nach Alternativen zur traditionellen Tonalität sucht oder - noch weitergehend - deswegen, weil sie sich von den tradierten Bedingungen der Live-Produktion gelöst und auf die Möglichkeiten der technischen Reproduktion und Produktion von Klängen eingestellt hat.

1 Pierre Schaeffer: Musique concrète - Von den Pariser Anfängen um 1948 bis zur Elektroakustischen Musik heute. Aus dem Französischen übertragen von Josef Häusler. Stuttgart 1974, S. 7

2 Pierre Schaeffer: Tois microscillos d´exemples sonores de Guy Reibel assisté de Beatriz Ferreyra illustrant le TRAITE des OBJETS MUSICAUX et présentés par l´autour, Paris 1967; Begleitheft: Kommentar zu Plattenseite V, Hörbeispiel 82.1

3 Schaeffer, a. a. O., Kommmentar zu Hörbeispielen 82.2-82.4

4 Schaeffer, a. a. O., Hb. 82.1-82.5

5 Bálint András Varga: Gespräche mit Iannis Xenakis. Aus dem Englischen von Peter Hoffmann unter Mitarbeit von C. L. Sandor. Zürich-Mainz 1995, S. 81

6 B. A. Varga, a. a. O., S. 130

7 Iannis Xenakis: Kassandra. Interpretationsanweisung in der Partitur (Ed. Salabert; hier zitiert in der deutschen Übersetzung von Peter Hoffmann in Varga, a. a. O., S. 17678)

8 Varga, a. a. O., S. 133

9 Varga, a. a. O., S. 156

10 Thrasybulos G. Georgiades: Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Musik. Heidelberg 1954, S. 2 f.



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