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4.19 Nachtkonzert I - von wohltemperierten Klavier zum wohltemperierten Mikrofon


Nachtkonzert I

VOM WOHLTEMPERIERTEN KLAVIER

ZUM WOHLTEMPERIERTEN MIKROPHON

Klaviermusik - Lautsprechermusik - Klavier- und Lautsprechermusik

Mittwoch, 7. 4. 1999, 21.30 Uhr Großer Saal

KLAVIER CONTRA LAUTSPRECHER?

Pierre Schaeffer: BILUDE (1979)

WANDLUNGEN DES KLAVIERS:

WOHL-PRÄPARIERT - WOHL-MIKROPHONIERT

Das wohlpräparierte Klavier von John Cage als Vorahnung der Lautsprechermusik:

John Cage: ROOT OF AN UNFOCUS (1944)

Cage-Allusionen in früher Lautsprechermusik:

Pierre Schaeffer / Pierre Henry: PROSOPOPÉE I

(aus: SYMPHONIE POUR UN HOMME SEUL, 1949-1950)

WOHL-KONSTRUIERTE KLAVIER- UND LAUTSPRECHERMUSIK

Pierre Boulez: Aus NOTATIONS (1945) (Nr. 1-4)

Pierre Schaeffer: ETUDE NOIRE (aus: ETUDES DE BRUITS, 1948)

Olivier Messiaen: MODE DE VALEURS ET D´INTENSITÈS (1949)

Pierre Boulez: ETUDE I (1951)

Karlheinz Stockhausen: KLAVIERSTÜCK I (1952)

ETUDE (Konkrete Musik) (1952)

John Cage: WILLIAMS MIX (1952)

WANDLUNGEN DER KLAVIER- UND LAUTSPRECHERMUSIK

Ivo Malec: REFLETS (1961)

Helmut Lachenmann: WIEGENMUSIK (1963)

Luigi Nono: ... SOFFERTE ONDE SERENE... (1976)

DAS WOHL-TECHNIFIZIERTE COMPUTERKLAVIER

Sabine Schäfer: GLISSANDO CASCADES

(aus: STUDIES FOR COMPUTER CONTROLLED PIANO, 1991)

Rytis Mazulis: CLAVIER OF PURE REASON for computer piano (1992-1994)

COMPUTERTRANSFORMIERTE KLAVIERMUSIK

Maurice Ravel: LA VALLÉE DES CLOCHES (aus: MIROIRS, 1904-1905)

Ludger Brümmer: LA CLOCHES SANS VALLÉES (1993)

Karlheinz Stockhausen: Etude (Konkrete Musik) (Dezember 1952)

Im ersten Schritt einer Erforschung der Klangkomposition muß jede Moment eines Klanges innerhalb seines Zeitvelaufes festgelegt werden. Der Klang muß entsprechend organisiert sein wie die gesamte Organisation eines bestimmten Musikstückes. Mit diesem Postulat beginnt eine Einführung Stockhausens zur "Konkreten Etüde", die in einer Tonbandaufnahme mit französisch gesprochenem Text erhalten ist. Die Aufnahmen der Einführung und des Stückes selbst sind aufbewahrt im Archiv jenes Studios, in dem Stockhausen seinerseit seine erste Tonbandkomposition realisierte: in dem von PIERRE SCHAEFFER begründeten ersten elektroakustischen Studio der Welt, im Pariser Geburtsstudio der "musique concrète". Im publizierten Katalog dieses Studios, im "Répertoire acousmatique 1948-1950" (herausgegeben von der Gruppe I.N.A./G.R.M.) findet sich das Stück unter der Nummer 064 als letzte Produktion aus dem Jahre 1952 unter dem Titel ETUDE "AUX MILLE COLLANTS" (Etüde für 1000 Tonbandschnipsel) mit der Zeitangabe 1´13´´.

Stockhausens Etude gehört in die Reihe einiger seriell strukturierter Tonbandkompositionen, die in den frühen fünfziger Jahren im Pariser Studio für konkrete Musik entstanden sind; schon vorher entstanden waren die Etudes I et II von Pierre Boulez (1951) sowie die Kompositionen Antiphonie (1951) und Vocalises (1952) von Pierre Henry. In allen diesen Werken geht es um die Entwicklung kohärenter und homogener Materialstrukturen. Dieses Ziel nennt auch Stockhausen in seiner Einführung zur ETUDE. Er geht noch weiter, indem er Homogenität zwischen den Details der Klangorganisation und dem Gesamtzusammenhang der Werkorganisation fordert, und er fährt fort: Es darf also nicht mehr möglich sein, daß der Klang im Laufe seiner zeitlichen Entfaltung in unbestimmter Weise seine Klangfarbe oder seine Lautstärke verändert. Das bedeutet, daß man die Natur des Klanges dekomponieren muß. (Wir sprechen hier von einem aufgenommenen Klang.) Man muß den Klang außerhalb des Zeitverlaufes stellen, sich seinem individuellen Leben von Null aus nähern. Sein individuelles Leben in der Zeit verbleibt immer außerhalb des Werkes. Der Klang muß das Resultat einer künstlerischen Absicht sein.

Der Versuch, eine Komposition vom klanglichen Detail bis hin zum formalen Gesamtzusammenhang konsequent aus einer einzigen Werkidee abzuleiten, führt zur Distanzierung von den bekannten Möglichkeiten der Vokal- und Instrumentalmusik und zur Komposition im elektronischen Studio. So wie einst in der Zwölftonmusik SCHÖNBERGs und seiner Schüler der Komponist für jedes neue Werk eine neue, unwiederholbare Intervallstruktur erfinden mußte, sollte jetzt der Komponist integral-serieller Musik für jedes neue Werk neues, nach unwiederholbaren Organisationsprinzipien hergestelltes Klangmaterial schaffen. Dieser auf technischem Wege produzierte Klang ist einerseits Keim eines größeren Werkzusammenhanges, andererseits abgeleitet aus einer ursprünglichen, alle Dimensionen der Komposition regulierenden Werkidee: Wenn man noch weiter geht, muß man sagen, daß die musikalische Situation nur eine Konsequenz erlaubt: Für jedes musikalische Werk gibt es nur einen bestimmten Klang oder eine bestimmte Gruppe von Klängen. Dieser Klang oder diese Gruppe von Klängen wird determiniert durch die Idee des Werkes, d. h. durch seine gesamte Organisation. Die Grenze der Organisation reicht weiter als die Grenze des intellektuellen oder sinnlichen Hörens.

Stockhausens Tonband-Einführung in die ETUDE mündet in eine Reihe kommentierter Klangbeispiele ("Erster Versuch", hierzu fünf Beispiele) und in das vollständige Stück ("Beispiel 6: Versuch einer Etüde"):

- Beispiel 1: 6 Klänge des präparierten Klaviers mit verschiedenen Klangfarben

- Beispiel 2: Der Einschwingvorgang wird abgeschnitten. Die Klangfarbe von Klang 3 bleibt konstant.

Der Rhythmus bleibt konstant (78 Anschläge pro Sekunde).

- Beispiel 3: Permutation von 6 verschiedenen Klangfarben, konstanter Rhythmus.

- Beispiel 4: Interpolation von sehr verschiedenen Klangfarben und Rhythmen

- Beispiel 5: 6 Pseudo-Transpositionen des Resultates.

- Beispiel 6: Versuch einer ETUDE.

Zu Beispiel 5 gibt die Einführung eine zusätzliche technische Information: Es ist nötig, für jede Transposition eine neue rhythmische Organisation durchzuführen, damit das Gleichgewicht zwischen den Zeiteinheiten gewahrt bleibt.

Zu Beispiel 6 gibt die Einführung einen Hinweis, der erstmals Zusammenhänge zwischen Mikro- und Makro-Rhythmik aufzeigt, wie sie später in Stockhausens elektronischer Musik, vor allem in den KONTAKTEn, entscheidende Bedeutung gewinnen sollten: Die Organisationsformen der Rhythmen und Klangfarben jedes Grundklanges entsprechen in Mikro-Abständen der Organisation der verschiedenen Höhen und der verschiedenen Rhythmen in der ETUDE.

Einheit Organisation des Klanges / Organisation der Etude = 1 / 216

Karlheinz Stockhausen: Klavierstück I (1952)

Die Konzeption der ersten vier Klavierstücke Stockhausens fällt in das Jahr 1952 und ist eng verbunden mit Stockhausens damals auch in anderen Kompositionen angewendeten Prinzipien der punktuell-seriellen Tonraummusik, die sich verbinden mit ersten Ansätzen einer flexibleren Tonorganisation, die Stockhausen später als Gruppenkomposition bezeichnet hat.

Innerhalb der vier ersten Klavierstücke zeigt sich eine enge strukturelle Verwandtschaft vor allem zwischen den ersten drei Klavierstücken (während das vierte eine strukturelle Sonderstellung einnimmt). Zuerst, im Frühjahr 1952, entstand das extrem kurze dritte Klavierstück, dessen Struktur von Dreitongruppen ausgeht; danach das weiter ausgreifende, mit zwei Fünftongruppen arbeitende zweite Klavierstück (in dem die letzten zwei zum chromatischen Total noch fehlenden ganz am Schluß, sehr leise und in extrem tiefer Lage) erscheinen und schließlich das noch größer dimensionierte, auf zwei Sechstongruppen basierende und den gesamten Tonraum mit dichten Passagen und Akkordballungen ausfüllende erste Klavierstück. Stockhausen selbst hat am Beispiel dieses Stückes später erklärt, wie sich die punktuelle Isolierung einzelner Töne und Parameter in "Gruppenformen" überwinden läßt: Man hört nicht mehr von Ton zu Ton wechselnde "punktuelle" Parameterbestimmungen, sondern charakteristische Gruppierungen, in denen ein bestimmter Parameterwert (z. B. die Lautstärke) konstant gehalten wird. So wird es möglich, daß eng verwandte Töne eine Gruppe bilden (z. B. die weiträumig aufsteigenden Töne zu Beginn des Stückes), während mehrere benachbarte und miteinander verwandte Gruppen in Ähnlichkeitsbeziehungen auf einer höheren Ebene einen Gruppenverband bilden (z. B. die ersten sechs Gruppen des Stückes), und aus der Abfolge mehrerer Gruppenverbände ergibt sich schließlich das vollständige Stück - im Wechsel von aufeinanderfolgenden oder in dichten Blöcken übereinandergeschichteten Tönen.

Ludger Brümmer: La cloche sans vallées (1993) für 2-Kanal-Tonband

Die Technik des cantus firmus, in dem eine alte, schon existierende gregorianische Melodie als Grundlage einer neuen Komposition erscheint, ist das Vorbild für "La cloche sans vallées."

Die Überlegung in diesem Stück, eine bereits existierendeKomposition für eine neue Musik heranzuziehen, geht davon aus, eine fremde Struktur über das Ausgangsmaterial zu legen, um damit Spannungen zwischen der Originalstruktur der Komposition und der vom Algorithmus (Struktur, die aus einem Set von Regeln generiert ist) erzeugten Struktur herzustellen. Alle so entstandenen Klänge bestehen aus der Verarbeitung und aus Veränderungen eines einzigen Samples, d. h. eines im Computer gespeicherten Klanges. Dieser Klang wird im zeitlichen Ablauf neu strukturiert, in Klangkörner zerlegt und neu mit Hilfe von algorithmischen Regeln zusammengesetzt.

Das in La cloche sans vallées benutzte Sample ist die Komposition "La vallée des cloches" aus dem Zyklus Miroirs von Maurice Ravel. Der Zusammenhang zwischen Quellstück und algorithmischer Ebene ist nicht von beliebiger Natur, sondern wird durch bestimmte parameterbeziehungen geschaffen. Diese stammen entweder aus dem Quellstück (z. B. Tonhöhenfolgen) oder wie werden durch die formale Konzeption des Stückes erreicht. In der absoluten Mitte der Komposition (Coda abgetrennt) erklingt ein Zitat aus Miroirs erst vorwärts, dann rückwärts als Krebs. Ebenso weist die gesamte Struktur der Form des Stückes - ähnlich wie in La vallée des cloches - symmetrische Charakteristika auf.



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