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6.2 Hörspiel


MGG Artikel "Hörspiel"

Zur Terminologie

a) Der Begriff "Hörspiel" bezeichnet ein aus technisch konservierten, produzierten oder verarbeiteten Klängen gestaltetes Hörereignis, das über Lautsprecher wiedergegeben und ohne Zusammenhang mit die Klangproduktion bedingenden oder begleitenden visuellen Vorgängen wahrgenommen wird. Im Unterschied zum Gegenbegriff "Schauspiel", der die Verbindung mit Hörbarem (z. B. mit gesprochener Sprache, Geräuschen und Musik) nicht ausschließt, betont der Begriff "Hörspiel" nicht den Primat des Hörens vor anderen Sinneswahrnehmungen, sondern die ausschließliche Konzentration auf das Hören. Dies ist die Konsequenz daraus, daß die Rezeption des Hörspiels (im Gegensatz zur Rezeption des Schauspiels) auf technische Produktions- und Rezeptionsbedingungen (insbesondere auf die Lautsprecherwiedergabe) festgelegt ist, die das gehörte Resultat von anderen Sinneswahrnehmungen, insbesondere von der Seherfahrung, isolieren.

b) Die technische produzierte Lautsprechermusik ("Unsichtbare Musik", "Akusmatische Musik") ist vom Hörspiel dadurch unterschieden, daß dessen Klangmaterial nicht nur durch innermusikalische Bestimmungen von Klangeigenschaften, Klangtypen und Formverläufe charakterisiert werden kann, sondern auch durch die musikübergreifende Unterscheidung zwischen den drei Grundbereichen der Hörspielgestaltung:

- Stimmlaute/klingende Sprache -

d. h. von Menschen, u. U. auch von anderen Lebewesen hervorgebrachte Hörereignisse, die nicht nur nach klanglichen Bestimmungen beschrieben werden können, sondern auch als Übermittler einer begrifflich fixierbaren, abstrahierbaren, in der Regel auch in eine andere Sprache übersetzbaren Information; im Kontext des Hörspiels ist Sprache allerdings nicht ablösbar vom realen Stimmklang, nicht reduzierbar auf schriftlich Fixierbares und/oder Übersetzbares

- Geräusche - d. h. Hörereignisse, die nicht nur nach klanglichen Bestimmungen wahrgenommen werden können, sondern auch als Hinweise auf (reale oder vorgestellte) Vorgänge; im Kontext des Hörspiels werden Geräusche also nicht akustisch definiert (als Hörereignisse unbestimmter Tonhöhe), sondern dramaturgisch (im Verweis auf Ereignisse der musikübergreifenden sinnlichen Erfahrung)

- Musik - d. h. Hörereignisse, die primär nicht als Übermittlung von Bedeutungen oder als Hinweis auf Vorgänge gehört werden, sondern um ihrer selbst willen; Musik als Bestandteil eines Hörspiels impliziert einerseits, in der Beschränkung auf dramaturgische Funktionen beispielsweise der Gliederung oder Untermalung, eine Verengung des Musikbegriffes, andererseits, in der integrativen Öffnung der Möglichkeiten zur klingenden Sprache und/oder zum Geräusch, dessen Erweiterung

c) Die Möglichkeiten der integrativen Kopplung von Sprache, Geräusch und Musik gelten als konstitutiv nicht nur für das Hörspiel, sondern auch für die Akustische Kunst, die als Oberbegriff sowohl der (gleichwertig mit klingender Spracher und/oder Geräuschen kombinierbaren) experimentellen Musik als auch des (integrativ von einer potentiellen Gleichwertigkeit der klingenden Sprache, des Geräusches und der Musik ausgehenden) experimentellen Hörspiels definiert werden kann.

d) Aus den technisch geprägten Produktions- und Rezeptionsbedingugnen des Hörspiels ergibt sich, daß potentiell alle über Lautsprecher verbreitbaren Hörereignisse als Material für eine Hörspiel-Realisation in Betracht gezogen werden können - unabhängig davon, ob sie den Bereichen Stimme/Sprache, Geräusch oder Musik zugeordnet werden. Von der gleichwertigen Berücksichtigung dieser drei Bereiche kann abgesehen werden zugunsten einer Auswahl (Verzicht auf einen oder zwei Bereiche, z.B. im sprachlich-literarischen Hörspiel oder im Geräusch-Hörspiel) oder einer hierarchischen Abstufung (z. B. im traditionellen literarischen Hörspiel mit szenisch-illustrativen Geräuschen, mit szenisch gliedernder und/oder untermalender Musik).

e) Hörspiele werden in der Regel in Rundfunkstudios produziert und in Radiosendungen verbreitet. In diesem Falle sind sie für ein räumlich getrenntes ("disperses"), aber gleichzeitig angesprochenes Publikum bestimmt (was Orson Wells 1938 sensationelle Massenwirkungen bei der radiophonen live-Simulation einer Weltraum-Invasion ermöglichte). Die Möglichkeiten der technischen Reproduktion sowie der massenweisen Vervielfältigung und Verbreitung von Hörspielen waren und sind begrenzt im Maße ihrer institutionellen Bindung an das Radio und insbesondere an damit zusammenhängende technische, urheberrechtliche und wirtschaftliche Gegebenheiten. Dies schloß schon in der Frühzeit des Radio und des Hörspiels, in den zwanziger Jahren, nicht die Verwendung von vorproduzierten Schallplatten aus, die während live übertragener Hörspielaufführungen auf live bedienten Schallplattenspielern abgespielt wurden. Andererseits wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, live-Sendungen von Hörspielen auf Schallplatten mitzuschneiden und sie so technisch reproduzierbar zu machen. (Versuche der Konservierung auf Film-Ton-Band blieben damals vereinzelte Ausnahmen.) Dennoch blieb die massenhafte Reproduktion von Hörspielen und ihre Verbreitung auf dem Tonträgermarkt von den zwanziger Jahren bis zu den frühen neunziger Jahren ein Ausnahmefall (ungeachtet der Tatsache, daß die technische Faktur der Hörspiele ihrer Verbreitung über Tonträger nicht weniger angemessen ist als der Übertragung im Radio; schon aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind kommerziell vertriebene Phonographen-Aufnahmen erhalten geblieben, die in den Konstellationen von Stimme/Sprache, Geräusch und Musik bereits die Dramaturgie von Hörspielen der zwanzigen und frühen dreißiger Jahre vorwegnehmen). Die Archivierung von Hörspielen und Schallplatten (seit den zwanziger Jahren) und Tonbändern (seit den frühen fünfziger Jahren) hat am Primat ihrer radiophonen Verbreitung nur wenig geändert.

f) In Analogie zum Schauspiel wird das Hörspiel in der Regel als zusammenhängendes Stück längerer Dauer angenommen; für Ausnahmen von dieser Regel gibt es besondere Bezeichnungen (z. B. "Kurzhörspiele" oder - im WDR-Repertoire der frühen siebziger Jahre - "Hörspots" oder - in einer als Anthologie angelegten WDR-Produktion von Gerhard Rühm - "Kurze Hörstücke").

g) Die Unterscheidung zwischen den Bereichen Stimme/Sprache, Geräusch und Musik setzt voraus, daß aufgenommene Klänge durch technische Verarbeitung nicht so stark verfremdet werden, daß die eindeutige gehörsmäßige Zuordnung zu einem dieser Bereiche unmöglich oder unsicher würde (z. B. im Falle geräuschhaft verfremdeter Musik, von durch technische Verfremdung dem Geräusch oder der experimentellen Musik angenäherten Sprache oder von durch spezielle Modulationen, z. B. unter Verwendung eines Vocoders, der Sprache angenäherten Geräusch- oder Musikaufnahmen). Sobald durch Mikromontage oder weitgehende klangliche Verfremdung die Herkunft von Sprach- oder Geräuschaufnahmen unkenntlich wird, ist die Möglichkeit einer klaren Abgrezung zwischen Hörspiel/Akustischer Kunst einerseits und Musik andererseits in Frage gestellt.

h) Technisch produzierte Hörkunst kann sich als Hörspiel oder Akustische Kunst lösen von Werkstrukturen und Vermittlungsbedingungen sowohl der traditionellen Literatur als auch der traditionellen Musik. Die Werke existieren primär als klangliche Realisation - nicht als Texte oder Notationen, die der live-Aufführung bedürften, um hörbar zu werden. Selbst dann, wenn Autoren von schriftlichen Vorlagen ausgehen wie etwa John Cage in "Roaratorio" (1979) oder Mauricio Kagel in fast allen seinen seit 1969 entstandenen Hörspielen, kommt in der Regel das definitive Hörwerk erst dadurch zustande, daß der Komponist selbst nach Maßgabe seiner schriftlichen Vorlage die Realisation durchführt (entsprechend der vor allem im HörSpielStudio bzw. im Studio für Akustische Kunst des WDR seit 1969 dominierenden Schwerpunktsetzung "Komponisten als Hörspielmacher").

i) Musik als abgrenzbarer Bestandteil eines Hörspiels tendiert zur Begrenzung auf traditionelle Funktionen, die ihrerseits vergleichbar sind mit traditionellen, aus der Stummfilm-Begleitimprovisation entwickelten Funktionen der Filmmusik. Musik im umfassenden Sinne - als universelle Klangkunst, die auch Stimm- und Sprachlaute sowie Umweltgeräusche in ihre Strukturen zu integrieren vermag - tendiert nicht zur additiven Einbindung in, sondern zur integrativen Verschmelzung mit Hörspiel und Akustischer Kunst.
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