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6.3 Improvisation im 20. Jahrhundert


IMPROVISATION IM 20. JAHRHUNDERT

1. ZUR TERMINOLOGIE

2. ZUR GESCHICHTLICHEN ENTWICKLUNG

3. PÄDAGOGISCHE ASPEKTE

1. ZUR TERMINOLOGIE

Der Begriff "musikalische Improvisation", die auf ihn beziehbare Musik sowie die ihm entsprechenden Möglichkeiten der Erfindung, der klanglichen Realisation und der Verbreitung von Musik haben sich im 20. Jahrhundert vor allem insoweit verändert als

a) grundlegende Veränderungen der abendländischen Musiksprache (insbesondere die Infragestellung ihrer durmolltonalen und taktrhythmischen Ordnungen) den Stellenwert der Improvisation im Verhältnis zur Komposition (und dammit auch zur Notation und zur Interpretation) neu bestimmten und

b) Veränderungen der Rezeptionsbedingungen, der Aufführungspraxis und der Produktionsweise von Musik unter dem Einfluß technischer Medien sich nicht nur in Wechselwirkungen mit Veränderungen der Musiksprache (siehe a) auswirkten, sondern auch mit anderen von vergleichbaren technischen Entwicklungen betroffenen Erfahrungsbereichen (vor allem der Sehwarhnehmung unter den Bedingungen der technischen Reproduzierbarkeit bzw. Produzierbarkeit).

Kennzeichnend für die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts ist, daß der Stellenwert der Improvisation, vor allem in ihrem Verhältnis zur Komposition, in vielen Bereichen in Frage gestellt wird oder zumindest an Bedeutung verliert. Nur unter speziellen aufführungspraktischen Bedingungen konnte sie sich behaupten oder sogar an Bedeutung gewinnen - z. B. die Orgelimprovisation, die in Theorie und Praxis von Marcel DUPRE weiterentwickelt wurde und die Olivier MESSIAEN, der bei DUPRE Orgelimprovisation studiert hatte, im engen Zusammenhang mit seinen kompositionstechnischen Innovationen (inbes. rhythmische Modi und Transformationstechniken, melodisch-harmonische Modi) weiter entwickelt hat. MESSIAEN gehört zu den wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts, bei denen sich, bis in sein Spätwerk hinein, Zusammenhänge zwischen Improvisation und Komposition nachweisen lassen, sogar die aus der traditionellen Musik - und, in anderer Weise, aus der Musik von Giacinto SCELSI - bekannten Grenzfällte transkribierter Improvisationen, die sich im Endergebnis (ohne strukturelle Zusatzinformation über die Art ihres Zustandekommens) nicht mehr ohne weiteres von Kompositionen unterscheiden lassen.

Tendenzen der sich verstärkenden Polarisierung zwischen Komposition und Improvisation zeigen sich in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch darin, daß in bestimmten Bereichen der Pädagogik der Improvisation Beachtung geschenkt wird unter Aspekten, die sich deutlich distanzieren nicht nur von weit verbreiteten Tendenzen einer rein reproduktiven Musikpädagogik, sondern auch von avancierten kompositorischen Techniken. Die pädagogisch progressive Tendenz des produktiven Widerstandes gegen Phantasielosigkeit und gegen zum toten Regelwerk erstarrte Musiktheorie verband sich dabei nicht selten mit der Fixierung auf inzwischen veraltete musiksprachliche Konventionen. So wird etwa in der Improvisationslehre von WEHLE die Improvisation de facto zum methodischen Hilfsmittel der Erlernung traditioneller Musiktheorie (ausgehend von Kleinformen, von einfachen Melodien und ihrer Begleitung - mündend in improvisatorisch erarbeitete Formschemata der klassischen Tradition). Für den mit improvisatorischen Praktiken arbeitenden Instrumentalunterricht wurden erst in der zweiten Jahrhunderhälfte neue, der aktuellen Musikentwicklung adäquate Modelle und Lehrgänge entwickelt, beispielsweise für das Klavier von RUNZE, HEILBUT und BOJE. BOJE entwickelte seine Vorstellungen auf Grund eines allgemeinen, in seinen Grundvoraussetzungen für verschiedene Instrumente konkretisierbaren instrumentalpädagogischen Konzeptes, das von neuen Ansätzen des allgemeinbildenden Musikunterrichts ausgeht und maßgeblich von der improvisatorischen Arbeit von VETTER geprägt ist. (Parallel zur Klavierschule von BOJE erschien in der Reihe der "Wiener Instrumentalschulen" u. a. eine Violinschule von SIEGERT, eine Trompetenschule von MATHEZ und eine Blockflötenschule von VETTER.)

Die Schwierigkeit einer dem aktuellen Entwicklungsstand adäquaten Instrumentalpädagogik, in der auch improvisatorische Praktiken den musikalischen und pädagogischen Erfordernissen entsprechend Anwendung finden, ist spätestens seit den zwanziger und dreißiger Jahren offenkundig geworden. Eine pädagogische Konzeption, die den Schüler letzlich bis zur avancierten Zwölftonmusik führen konnte, wurde nicht gefunden. (Die Kinderstücke von WEBERN blieben Sonderfälle. Die pädagogisch orientierten Klavierkompositionen von JELINEK erschienen erst zu einer Zeit, als beispielsweise mit Klavierstück III von STOCKHAUSEN bereits andere, kompositionstechnisch avanciertere und gleichwohl technisch relativ leicht ausführbare Stücke entstanden waren. Pädagogisch verwertbare neodiatonische Klaviermusik etwa von BARTOK, STRAWINSKY oder HINDEMITH hat - überschattet von den seit den dreißiger Jahren für neue Musik extrem ungünstigen politischen Ereignissen - sich in der ersten Jahrhunderhälfte nur in begrenzntem Maße als pädagogisch wirksam erwiesen. Improvisatorische Impulse gingen auch von dieser Musik nicht aus (ebensowenig wie von Zwölftonkompositionen jener Zeit); sie fügten sich den Anforderungen einer rein reproduktiv ausgerichteten Instrumentalpädagogik.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es nur wenige die Erfindungskraft des Schülers anregende, auf Improvisation und Komposition zielende pädagogische Ansätze. Zu den wenigen Ausnahmen zählen Konzeptionen der Gruppenimprovisation, die ihre Bedeutung auch unter Aspekten der musikübergreifenden Ausbildung erwiesen haben. Eine der aktuellen Musikentwicklung weitgehend adäquate Position vertrat hierbei JAQUES-DALCROZE, dessen rhythmische Anregungen weit über die einfachen Muster der traditionellen Taktrhythmik hinausführen. Im Vergleich mit dieser anspruchsvollen, nur mit besonders geschulten Auswahlgruppen zu verwirklichenden Konzeption erscheint der später in den zwanziger Jareen von JÖDE für den allgemeinbildenden Musikunterricht entwickelte Ansatz als stark vereinfachende Reduktion. Er führt in kleinen Schritten in die Elemente der traditionellen Musiksprache ein, basierend auf Ansätzen der damaligen Entwicklungspsychologie.Bezüge zur Neuen Musik seiner Zeit fand JÖDE in diesem Ansatz nicht. Erst später - in der revidierten Fassung des Orff-Schulwerkes, die sich seit den fünfziger Jahren international durchgesetzt hat - wurde JÖDEs Ansatz gleichsam nachträglich kompositorisch legitimiert. Carl ORFF entwickelte in Zusammenarbeit mit Gunhild KEETMAN vielfältige improvisatorische Anregungen, die allerdings in der pädagogischen Breitenwirkung nicht immer zum Tragen kamen, da die traditionellen Notationen vielfach als fixierte Spielstücke mißverstanden wurden (während sie eigentlich als improvisatorisch variable Bausteine gedacht waren). Dieses pädagogische Konzept, das sich in den ersten Ansätzen bis in die dreißiger Jahre zurückverfolgen läßt, hat sich erst zu einer Zeit durchgesetzt, in der die aktuelle kompositorische Entwicklung schon längst in andere Bereiche vorgedrungen war.

Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich in verschiedenen avancierten Kompositionstechniken verfahren herausgebildet, die sich - im Unterschied zur Musik früherer Jahrhudnert, in denen die Affinitäten zwischen Komposition und Improvisation enger waren und viele Komponisten auch improvisatorisch (in der Regel als Soloimprovisatoren) aktiv gewesen waren - im ausdrücklichen Gegensatz zu improvisatorischen Praktiken definieren (z. B. Zwölftonmusik im Sinne von SCHÖNBERG, BERG und WEBERN; dynamisch-rhythmisch strukturieerte Geräuschmusik im Sinne von VARESE oder des jungen CAGE, serielle Musik im Sinne des jungen STÄOCKHAUSEN, formalisierte Musik von Iannis XENAKIS, Musik mit computergenerierten Partiturdaten im Sinne von Lejaren A. HILLER oder Gottfried Michael KOENIG oder mit computergenerierten Klängen im Sine von John CHOWNING oder Jean Claude RISSET). Das Interesse der Komponisten an eindeutig fixierten Notentexten war, vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte, so groß, daß selbst Anregungen aus Bereichen improvisierter Musik letzlich doch wieder zu exakt ausnotierter Musik führten (z. B. in vom Jazz beeinflußten Werken von Igor STRAWINSKY). Erst in der zweiten Jahrhudnerthälfte änderte sich diese Situation, und es kam zu neuen Modellen der Zusammenarbeit zwischen Komponisten und improvisierenden Musikern. Dies wurde allerdings erst dann möglich, als die Komponisten erste Alternativen zu traditionellen, mit exakter Notation verbundenen Kompositionsweisen gefunden hatten.

Die Infragestellung überlieferter Notationsprinzipien, die im Bereich der komponierten Musik spätestens seit den fünfziger und sechziger Jahren die aktuelle Entwicklung maßgeblich geprägt hat, tangiert auch den Bereicvh drer Improvisation: Abweichungen von traditionellen Notationspricnzipien (die ihrerseits ausgehen von eindeutig fixierten Tondauern und Zeitverhältnissen innerhalb vorgefunderner, als allgemeingültig angesehener Ton - und Zweitordnujgnen) erweisen sich als notwenig nicht nur dann, wenn ein Komponsit sein Werk als Anweisung für Interpreten notert 8Produktions-Notation), sondern auch dann, wenn ein Wissenschaftlicer das klangliche Resultat einer Improvvisation zu transkribieren versucht (Rezeptins-Notation).

Die präzise Notation von eindeutig bestimmten Tonhöhen und Zeitwerten, gegebenenfalls ergänzt durch Zusatzzeichen für Artikulatin und Klangfarbe (Spieltechniken - verwendete Instrumente) erweist sich als fragwürdig für Kompositionen und Improvisationen, in denen die ursprünglich mit dieser Notation assoziierte Hierarchie musikalischer Grundeigenschaften in Frage gestellt wird - d. h. eine Abstufung zwischen konstitutiven, detailliert ausnotierten Eigenschaften einerseits und nachgeordneten, nur global fixierten Eigenschaften andererseits: In komponierter Musik war diese Abstufung in der Regel koordiniert mit unterschiedlichen Graden der Verbindlichkeit der Anweisungen für die Interpreten: Konstitutive Merkmale waren eindeutig, für den Interpreten verbindlich, notiert, während im Bereich der nachgeordneten Eigenschaften interpretatorische, unter Umständen sogar improvisatorische Freiheiten zugelassen waren. Bei der Beschreibung improvisierter Musik bleibt diese hierarchische Abstufung unangetastet, so lange versucht wird, klangliche Resultate improvisierter Musik in traditioneller Notation darzustellen (z. B. in traditionell notierten Ausschmückungen oder Veränderungen einer Vorlage oder in Transkriptionen vorgefundener Musik, z. B. Jazz oder Folklore, bei denen die hierachische Abstufung u. U. so weit führen kann, daß nur die Melodiebildung bei der Transkription berücksichtigt wird, nicht aber Detials der harmonischen Begleitung - z. B. bei Jazz-Transkriptionen oder in STOCKHAUSENs Hörpartitur seiner elektroakustischen Komposition "Hymnen").

Sobald die traditionelle Abstufung musikalischer Eigenschaften aufgegeben wird, ergeben sich neue Voraussetzugnen sowohl für die Kompositona ls auch für die Improvisation und Konsequenzen für die Beziehungen beider Bereiche zur Nortation. Die Schwierigkeit, Klänge präzise zu notieren, die den Grundvoraussetzungen traditioneller Notation (eindeutig bestimmte, für eine meßbare Dauer als gleichbleibend vorgestellte Tonhöhen in einfachen, quantitativ eindeutig bestimmbaren metrisch-rhythmischen Konstellationen) nicht entsprechen, ist im Bereich der Kompositon spätestens dann deutlich geworden, als John CAGE seine ersten Kompositionen für Schlagzeug ensemble und präpariertes Klavier schrieb. In den Schlagzeugkompositionen konnte dies dazu führen, daß nur die rh<thmischen Strukturen schriftlich fixiert wurden, währen die Instrumenten-Auswahl weitgehend den Interpreten überlassen blieb ("Quartet", 1935; "Living Room Musik", 1940). In diesme Falle waren die rhythmischen (simultanen und sukzessiven, detail- und großformbezogenen) Aspekte auskomponiert, während bei der Auswahl der Instrumente (bzw. der, ggf. auch unkonventionellen, Klangerzeuger) interpretatorische bzw. improvisatorische Freiheiten blieben. So ergab sich ein neues Verältnis zwischen Komposition und Improvisation als Konsequenz der Unbestimmtheit (bzw. Unbestimmbarkeit) der vom Komponisten gewhälten, komplex-geräuschhaften Klangmaterialien. - In seinen Kompositionen für präpariertes Klavier (beginnend mit "Baccchanale", 1940) hat CAGE znächst versucht, durch möglcihst präzise Präparations-Anweisungen die klanglichen Resultate exakt festzulegen, interpretatorische bzw. improvisatorische Gestaltungsmöglichkeiten also weitestmöglich einzuschränken. Allerdings stellte sich heraus,daß auch die psäzisesten verbalen Präparationsanweisungen je nach Beschaffenheit und Typus des verwendeten Instrumentes zu unterschielichen Klangresultaten führen konnten, diese Einsciht bereitete den Weg dafür, daß Cage später die - zunächst dtgegen seinen Willen erreichte - klangliche Unbestimmtheit ausdrücklich akzeptierte und seine Kompositionstechniken (einschließlich ihrer Notation) so grundlegend veränderte, daß sie (z.b. mit graphsichen und/oder verbalen Anweisungen) unbestimmte, vom Komponisten nicht im voraus fixierte klangliche Resultate ergeben konnten (sei es in Stücken mit unbestimmten oder mehrdeutigen Präparations-Anweisungen, sei es, z. B. im "Comcerto for piano", 1957, in versch8iedenen unbestimmten Notaitonen, bei denen meistens auch die traditionelle Hierarchie der musikalischen Eigenschaften nicht unangetastet blieb).

In den fünfziger und sechziger Jahren haben unbestimmte graphische und verbale Notationen zentrale Bedeutung erlangt. Den ausführenden Musikern boten sich damit Möglichkweiten der freien interpretatorischen bzw. improvisatorischen Ausgestaltunlg, die deutlich kontrastierten zu den rigorosen, den Interpreten weitlegend festlegenden seriellen Konstruktionen in Instrumentalmusik sowie technisch produzierter Musik der frühen fünfziger Jahre (z. B. BOULEZ: 2. Klaviersonate, Etude I sur un son, Etude II sur sept sons, Structure Ia für zwei Klaviere; STOCKHAUSEN: Kreuzspiel, Klavierstücke I-IV, Konkrete Etüde, Elektronische Studien I-II; HENRY: Antiphonie, Vocalises). - CAGE hatte noch 1951 in seiner "Music of Changes" vor allem Tonhöhen und Zeitwerte rigoros fixiert - in klarer Eindeutigkeit einer Partitur, deren Daten sich allerdings aus der (gelenkten) Willkür von Zufallsentscheidungen ergeben hatten. In der Folgezeit zog er die Konsequenz, unbestimmte (im klanglichen Ergebnis unvorausagbare) Kompositionsmethode auch mit entsprechenden aufführungspraktischen Aktivitäten zu verbinden: Die mit Zufallsprinzipien generierten Partituren wurden so fixiert, daß die in Aufführungen daraus sich ergebenden Klangresultate unvoraussagbar blieben, so daß die Aufführung insowiet sichn einerseits von der Interpretation einer traditionell noterten Komposition unterschied, andererseits aber auch einer traditionellen Improvisation annäherte).

Entscheidende Anregungen in den Bereichen unbestimmter Komposition und imiprovisatorischer Musikpraxiws finden sich seit den frühen fünfziger Jahren in Kompositionen nicht nur von John CAGE, sondern auch von Earle BROWN, Christian WÄOLFF und Morton FELDMAN. Earle BROWN konzentrierte sich auf die Erpfobung unterschiedlicher Abstufungen der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit in graphischenNotationen (z. B. in "Folio", 1952), während FELDMAN in mehreren Werken unbestimmte, nur in der ungefähren Tonlage festgelegte Tonhöhen notierte und in einem Falle ("Intersection 6", 1953) das Verfahren umkehrte mit präzise notierten Tonhöhen in unbestimmter zeitlicher Placierung. so daß einzelne, in den Dauern nur global fixierte, leise Akkorde in jeder Aufführung anders angeordnet werden bzw. aufeinander folgen konnten; in Karlheinz STOCKHAUSENs 1956 entstandener Komposition "Klavierstück XI" findet sich ein ähnliches Verfahren, wobei STOCKHAUSEN allerdings nicht rhythmisch unbestimmte Akkorde, sondern in Höhe und Zeitverhältnissen fixierte, mehrschichtige Zellenstrukturen verwendet, die der Pianist in jeder Aufführung anders anordnen soll - immer dort spielend (bzw. sein Spiel fortsetzend), wohin sein Blick auf das Notenblatt gerade fällt, wobei jeder so "im Augenblick" gefundene Abschnitt je nach Zusammenhang seiin eigenes Profil erhält in der Artikulation, im Tempo, teilweise auch in den Oktavlagen seiner Töne. - Die genannten Klavierstücke von FELDMAN und STOCKHAUSEN sollten so aufgeführt werden, daß der Pianist während der Aufführung die Abfolge der einzelnen Abschnitte spontan festlegt. (Dementsprechend sind bei Aufführugnen und Aufnahmen von "Klavierstück XI" die Pianisten David Tudor und Bernhard Wambach verfahren; d. h. sie haben, den Anweisungen des Komponisten entsprechend, die Abfolge der traditionell notierten, melodisch-harmonisch-rhythmisch fixierten Abschnitte improvisatorisch frei gestaltet; der Pianist Aloys Kontarsky hingegen hat (mit stillschweigendem Einverständnis des Komponisten) in seiner Schallplatteneinspielung eine im voraus präparierte Version gespielt, also im Widerspruch zu Stockhausens Partituranweisungen von den angebotenen bzw. ausdrücklich geforderten improvisatorischen Freiheiten keinen Gebrauch gemacht.

Stockhausens "Klavierstück XI" ist ein frühes Beispiel für die Entwicklugn aleatorischer Kompositionsverfahren in der europäischen Musik der fünfziger Jahre. In diesem Werk - ähnlich wie in vergleichbaren Kompositionen etwa von Pierre BOULEZ (3. Klaviersonate), Henri POUSSEUR (Mobile für 2 Klaviere), Luciano BERIO (Circles) - verbinden sich kompositorische Fixierungen mit interpretatorisdch-improvisatorischen Freiheiten, wobei allerdings die Details stärker fixiert sind als in experimentellen Partituren von CAGE, BROWN, WOLFF oder FELDMAN. Besonders bei STOCKHAUSEN artikuliert sich eine klare Gegensposition zu der in Details und Formgestaltung unbestimmten amerikanischen Musik der fünfziger Jahre: Während in "Klavierstück XI" eine allen 19 variablen Abschnitten gemeinsame rhythmische Zellstruktur auskomponiert, also fixierte Detailkomposition mit variabler Formgestaltung kombiniert ist, verfährt Stockhausen in "Zyklus für einen Schlagzeuger" /(1959) und in dem Ensemblestück "Refrain" (1959) genau umgekehrt. In beiden Stücken sindc die großformalen Prozesse festgelegt (als zyklischer Prozeß mit frei wählbarem Anfangs- und Endpunkt bzw. als einheitliche harmonsiche grundstuktu mit variable placierbaren Einschüben), während die Details variabel sind und, vor allem im "Zyklus", dem Interpreten zahlreiche Möglichkeiten der interpretatorischen Freiheit eröffnen (auch der improvisatorischen Gestaltung - wenn der Spieler nicht, wie Christoph Caskel, der Interpret der Uraufführung, die Ausarbeitung einer fixierten Version vorzieht); das Stück wurde auch in Versionen anderer solisten aufgeführt und auf Tonträgern veröffentlicht - in einem Falle (Mircea Ardeleanu) sogar in zwei Versionen desselben Solisten.

STOCKHAUSEN, der in den frühen fünfziger Jahren extrem genau fixierte Partituren für Instrumente oder Tonband schrieb, hat die Verlagerung seines Interesses auf freier interpretierbare aleatorische Partituren damit begründet, daß streng fixierte Partituren besser im elektronsichen Studio realisiert werden könnten als in einer instrumentalen Aufführung, während andererseits eine flexible Formgestaltung sich leichter mit als mit den Maschinen des elektronischen Studios der fünfziger Jahre realisieren ließe. Diese Aussage machte STOCKHAUSEN unter den technischen und kompositorischen Voraussetzungen der fünfziger Jahre. In den sechziger Jahren haben sich, unter dem Einfluß neuer Möglichkeiten der live-Elektronik, sowohl in der Technik als auch in der Aufführungspraxis in zunehmendem Maße improvisatorische Praktiken durchgesetzt, z. B. bei CAGE und STOCKHAUSEN, die - jeder in seiner Weise - sich mehr und mehr von der Fixierung unterschiedlicher Parameter lösten und in ihren Notationen Schritt für Schritt die interpretatorisch-improvisatorischen Freiräume modifizierten und erweiterten. Bei CAGE kulminierte dabei eine - schon seit seiner frühen Medienkomposition "Credo in US" sich abzeichnende - Tendenz zur Bevorzugung klanglich unbestimmter apparativer Klangquellen: In diesem Stück werden, nach gegebenen Zeit- und Lautstärkewerten, Fragmente einer populären klassisch-romantischen Musikschallplatte oder Radiosendung abgespielt. 1951, in "Imaginary landscape nr. 4", arbeitet CAGE ausschließlich mit 12 rhythmisch und dynamisch regulierten Radioapparaten, also mit unvorsehbaren Klängen nach einem Montageschema für 42 frei wählbare Schallplatten oder - in "Williams Mix", 1952 - mit einem Montageschema für vorgegebene Kategorien aufgenommener und technisch verarbeiteter Klänge. In diesen Stücken sind - trotz der Unbestimmtheit der Klangmaterialien - die interpretatorisch-improvisatorischen Freiheiten der an der Realisation Beteiligten weitgehend eliminiert, da die Aktionen der Interpreten, vor allem in ihrem rhythmischen Ablauf, genau determiniert sind - allerdings nicht deren klangliche Resultate.- In späteren Werken hat CAGE noch weitere Gestaltungsspielräume für die Interpreten geschaffen: In "Fontana Mix" orientierte sich die klangliche Realisation an einer graphischen Partitur, die mit beliebigen Klangmitteln realisiert werden kann (also nicht unbedingt im elektronischen Studio realisiert werden muß; Cage selbst hat allerdings 1958 in Mailand eine elektroakustische Realisation hergestellt). - Dieser Partitur folgten weitere Kompositionen, für deren klangliche Realisierung sich live-elektronische Mittel anbieten, in einigen Fällen sogar ausdrücklich vorgeschrieben sind - der 1958 begonnene Zyklus der "Variations" und die 1961 entstandene "Cartridge Music".

Karlheinz STOCKHAUSEN näherte sich der frei interpretierbaren live-elektronischen Musik auf anderen Wegen.



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