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3.6 Die Musikalische Emanzipation der Klänge und Geräusche


Rudolf Frisius

Die musikalische Emanzipation der Klänge und Geräusche

Tendenzen der experimentellen Klangkunst und des Hörfilms

bei John Cage und Pierre Henry

Beispiel: John Cage, Quartet. DAT take 31, 3´24

Quartet - any percussion instruments: So lautet der Titel und die Besetzungsangabe eines Werkes, von John Cage, das 1935 komponiert wurde. Die erste öffentliche Aufführung, von der wir wissen, fand 1937, unter Mitwirkung des Komponisten und seiner damaligen Ehefrau Xenia, in einem Theater in Seattle statt. Auf genaue Instrumentenangaben hatte Cage verzichtet, weil er sich damals teure Schlaginstrumente nicht leisten konnte. Später hat er einmal in einem Interview erzählte, wie er damals komponierte und, oft zusammen mit seiner Ehefrau und mit Bekannten, musizierte:

Xenia interessierte sich für kusthandwerkliche Arbeiten und Buchbinderei... Wir zogen damals in ein riesiges Haus in Santa Monica, das von Hazel Dreis, einer sehr guten Buchbinderin, unterhalten wurde... Und so banden wir beide Bücher... Komponiert habe ich dort auch. Abends wurden dann alle Buchbinder zu Musikern und spielten in meinem Orchester. Da es sich um Percussions handelte, erregte die Musik das Interesse moderner Tänzer.

Im Werkkatalog von John Cage, der 1962 erschienen ist, heißt es zu diesem Stück:

Dieses ist ein Werk in drei Sätzen, das vollständig aus festgelegten rhythmischen Mustern komponiert worden ist.

Diese Musik erscheint janusköpfig: Geschrieben ist sie nicht für eine genau fixierte konventionelle Besetzung, sondern für mehr oder weniger ungewöhnliche musikalische Klangquellen, deren Auswahl den Spielern überlassen bleibt. Im klanglichen Erscheinungsbild bleibt die Musik also weitgehend unbestimmt. Ihre rhythmische Struktur allerdings ist genau fixiert. Bestimmtes und Unbestimmtes, Fixiertes und nicht Fixierbares präsentieren sich in paradoxen Konstellationen. Strenges strukturelles Denken, für das Cage 1935 in Kursen bei Arnold Schoenberg Anregungen empfangen hatte, verbindet sich hier mit klanglichen Experimenten, deren Spuren man bis zu Henry Cowell zurückverfolgen könnte, bei dem Cage ebenfalls studiert hat.

Immer wieder hat John Cage in seinen Kompositionen versucht, das Verhältnis zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit neu zu bestimmen - in manchmal von Werk zu Werk wechselnden Gewichtungen. In seinen frühen Werken spielt dabei die fixierende, im voraus festlegende Notation vor allem der rhythmischen Strukturen eine wichtige Rolle - eine nicht weniger wichtige Rolle als die variablen Tonstrukturen in seinen späten Werken seit den siebziger und vor allem achtziger Jahren; eine wesentlich wichtigere Rolle als in seiner Musik der experimentellen Unbestimmtheit, wie wir sie vor allem aus den fünfziger und sechziger Jahren kennen.

1936 komponierte Cage ein Trio für 3 Schlagzeugspieler, die Fell- und Holzinstrumente spielen. Auch dieses Stück ist mit festgelegten rhythmischen Mustern komponiert. Das Werk hat drei Sätze. Der Schlußsatz, der den Titel Waltz (Walzer) wurde 1943 (als zweites Trio) in die Komposition Amores übernommen. Die drei Spieler spielen auf abgestimmten Holzinstrumenten (der erste Spieler benutzt drei Instrumente, die beiden übrigen Spieler je zwei).

Der ganze Satz ist aus zwei rhythmischen Mustern im Dreiertakt gebaut: Aus einem ziemlich ruhigen, walzerartigen Grundrhythmus und aus einem Gegenrhythmus mit rascheren Notenwerten. Der Grundrhythmus erscheint gleich zu Beginn des Stückes - dreimal nacheinander, in einem Solo des ersten Spielers. Danach wechselt die Musik über zum zweiten und dritten Spieler. Der zweite Spieler übernimmt vom ersten Spieler die dreimal drei Walzer-Muster, und der dritte Spieler fügt den Gegenrhythmus mit schnelleren Notenwerten hinzu. Danach erscheint der Walzerrhythmus bald in Engführungen, bald in Kombinationen mit dem schnelleren Gegenrhythmus. So mündet der erste Teil, der mit nur einem Spieler begonnen hatte, in rhythmischen Verdichtungen im Triosatz.

Der zweite Teil beginnt ähnlich wie der erste: mit einem Solo. Wider erscheint der walzerartige Hauptrhythmus dreimal nacheinander - diesmal gespielt vom zweiten Spieler. Danach beginnen wieder kontrapunktische Verdichtungen mit Gegenstimmen und Engführungen.

Im kurzen Schlußteil des Stückes bleibt, schattenhaft leise und verlöschend, allein der walzerartige Grundrhythmus über - gespielt zunächst von zwei, dann von drei Spielern; enggeführt mit sich überlappenden Einsätzen.

Beispiel: Trio, Waltz (= 2. Trio aus Amores)

In dem 1936 komponierten Trio ist die Besetzung noch genauer festgelegt als in dem ein Jahr zuvor entstandenen Quartet. Andererseits hat Cage deutlich gemacht, daß er in diesem möglichst präzise notierten Stück gleichwohl nicht nur standardisierte Konzertinstrumente, sondern auch unkonventionelle Klangerzeuger verwenden wollte. Dies gilt vor allem für die vorgeschriebenen drei, in der Geräuschlage gegeneinander abzustufenden Holzstücke: Cage schreibt ausdrücklich vor, daß hier keine chinesischen woodblocks verwendet werden sollen.

Im November 1939 komponierte John Cage ein Schlagzeug-Sextett, in dem die Ambivalenz zwischen rhythmischer Konstruktion und ungewöhnlicher Klangerzeugung noch weiter getrieben wird. Das Stück heißt First construction (in metal). Auf die Bedeutung der rhythmischen Kontruktion hat Cage so großen Wert gelegt, daß er sie im Vorwort seiner Partitur ausdrücklich festhält: Er komponiert mit festgelegten, auch in ihrer inneren Gliederung genau fixierten Taktgruppen. Andererseits verlangt Cage ein Instrumentarium, das zwar in der Partitur genau angegeben ist, aber in vielen Details von konventionellen Schlagzeug-Besetzungen abweicht: Vorgeschrieben sind beispielsweise außer Glocken, Gongs, Tam-Tam und Becken auch 5 abgestimmte Donnerbleche, präpiertes Klavier, Bremstrommeln und Ambosse. Mit diesem Instrumentarium realisiert Cage eine fauvistische Geräusch-Konstruktion par excellence.

Beispiel: Construction no. 1 (in metal)

In der Komposition Imaginary landscape no. 1, die ebenfalls 1939 entstanden ist, geht Cage auf der Suche nach experimenteller Erweiterung der Klangquellen noch weiter: Nur einer der vier Spieler spielt ein traditionelles Instrument in konventioneller Weise: Der 3. Spieler verwendet ein großes chinesisches Becken - bald mit Wirbeln, bald mit einzelnen Schlägen. Der 4. Spieler spielt präpariertes Klavier - bald mit Glissandi auf den Saiten, die mit einem darüber gleitenden Gonschlägel erzeugt werden; bald mit konventionell auf den Tasten gespielten Tönen, bei denen aber der Klang verändert wird durch Abdämpfung der Saiten mit den Händen. Noch ungewöhnlicher ist das Instrumentarium der ersten beiden Spieler: Ihre Instrumente sind Schallplattenspieler, auf denen Schallplatten mit elektronischen Klängen abgespielt werden. Der erste Spieler bedient je zwei Schallplattenspieler mit gleichen in verschiedenen Abspielgeschwindigkeiten (33 1/3 bzw. 78 Umdrehungen pro Minute). Der zweite Spieler spielt eine einzige Schallplatte in wechselnden Geschwindigkeiten ab. Das Stück ist nicht für die Aufführung im Konzertsaal bestimmt, sondern eine Medienkomposition, die mit zwei Mikrophonen in einem Radiostudio aufgenommen und geregelt und anschließend über Lautsprecher (im Radio oder von einer Schallplatte) gehört werden soll. Auch in dieser Musik erscheint neuartiges Klangmaterial in rhythmischen Mustern und in vorstrukturierten rhythmischen Abläufen.

Beispiel: Imaginary landscape no. 1 (1939)

Festgelegte rhythmische Strukturen für nicht festgelegte, frei wählbare Instrumente: In dieser paradoxen Konstellation hat John Cage seit den dreißiger Jahren experimentiert. 1940, 5 Jahre nach dem Quartet, entstand ein zweites Werk für unbestimmte Besetzung: Die Living Room Musik für Schlagzeug und Sprechquartett, die "Wohnzimmer-Musik". Die Instrumente für die Aufführung dürfen sich die 4 Spieler selbst im Wohnzimmer zusammensuchen.

Beispiel: Living room music, DAT 32, 1´15

Über die Besetzung ist in der Partitur folgendes angegeben:

Beliebige Haushaltsgegenstände oder Bestandteile des Zimmers können als Instrumente verwendet werden, z. B.

1. Spieler: Zeitschriften, Zeitungen oder Pappkarton;

2. Spieler: Tisch oder anderes Holzmöbel;

3. Spieler: ziemlich große Bücher;

4. Spieler: Fußboden, Wand, Tür oder hölzerner Fensterrahmen

(Vom ersten bis zum vierten Spieler

sollte sich eine gewisse Abstufung von hoher zu tiefer Tonhöhe ergeben.)

(Beispiel: Bacchanale)

(Beispiel: The wonderful widow of eighteen springs)

In der klanglich unbestimmten Partitur der Living Room Music hat John Cage - ähnlich wie schon einige Jahre zuvor in seiner Living room music - in erster Linie die rhythmischen Strukturen fixiert. Genau fixierte rhythmische Werte sollen komplexe Geräusche strukturieren, die ihrem eigentlichen Wesen nach sich der kompositorischen Fixierung entziehen. So entstehen auskomponierte Paradoxien - manchmal zugespitzt bis zur sarkastischen Provokation.

Beispiel: John Cage, Credo in US (Anfang, bis zur ersten Pause des Stückes).

DAT take 35, 1´35 (Anf)

Dies ist eine Suite satirischen Charakters - komponiert nach der Phraseneinteilung des Tanzes von Merce Cunningham und Jean Erdman, für den sie geschrieben wurde. Die verwendeten Instrumente sind gedämpfte Gongs, Blechbüchsen, Tom-Toms, ein elektrischer Summer, Klavier und Radio oder Phonograph.

Mit diesen Worten hat John seine 1942 entstandene Komposition "Credo in US" beschrieben. Das Stück ist geschrieben für 4 Spieler, die mehr oder weniger ungewöhnliche Instrumente spielen: Klavier (mit einigen von Hand gedämpften Saiten), 2Tom-Toms, 2 gedämpfte Gongs, Hände auf Holz, 2 mal 5 Blechbüchsen und verschiedene elektrische Geräte: Ein Summer - ein Radio oder Phonograph. Vor allem die letzte "Instrumentenangabe" ist aufschlußreich: Der 4. Spieler kann entweder ein Radiogerät oder einen Phonographen bedienen. In der traditionell notierten Partitur ist vorgeschrieben, wann die Geräte ein- und ausgeschaltet werden und wie die Lautstärke geregelt wird. Es wird aber nicht vorgeschrieben, was eigentlich erklingen soll. Die Angaben der Partitur lassen hier viele Möglichkeiten offen.

Für den Fall, daß der Spieler einen Phonographen verwendet, wird ihm folgendes vorgeschrieben:

Verwenden Sie etwas Klassisches: z. B. Dvorak, Beethoven, Sibelius oder Shostakovich.

Beispiel: Credo in US (Fortsetzung, bis zur 2. Pause) DAT take 35 1´35: Forts. nach Pause

"Etwas Klassisches" hat Cage offensichtlich als Bezeichnung für Musik der Vergangenheit gemeint -

sei es Musik bekannter Komponisten der Vergangenheit wie Dvorak oder Beethoven,

sei es Musik von damals lebenden, aber stark der Vergangenheit verpflichteten Komponisten

wie Sibelius oder Schostakowitsch. Der Spieler kann ein Werk von diesen oder auch von anderen "klassischen" Komponisten auswählen. Nur die Musikart ist also festgelegt, nicht die Musik selbst.

Ganz anders lautet die Anweisung bei Verwendung eines Radios:

Vermeiden Sie Nachrichtenprogramme während nationaler oder internationaler Krisen.

Beispiel: Credo in US (Ausschnitt mit Radionachrichten) DAT take 36 1´30

Mitten im 2. Weltkrieg läßt Cage es zu, daß ein Radioapparat als Musikinstrument eingesetzt wird.

Der Noten, nach denen er gespielt wird, würden unverändert bleiben auch dann, wenn der Spieler den Radioapparat durch einen Phonographen ersetzen würde, auf dem eine Aufnahme "klassischer" Musik wiedergegeben wird.

1951 entstand eine Komposition, in der Cage sowohl die strenge rhythmische Struktur als auch die klangliche Unbestimmtheit bis ins Extreme hinein übersteigert: Imaginary landscape no. 4 für 24 Spieler an 12 Radioapparaten. Hier ist in traditioneller Notation genau vorgeschrieben, wann ein Spieler eine bestimmte Frequenz einstellen soll und wie sein Mitspieler am anderen Radio die Lautstärke zu regeln hat. Was dann erklingt, bleibt allerdings vollständig unbestimmt. Es hängt davon ab, was zur Aufführungszeit am Aufführungsort im Radio zu empfangen ist.

Beispiel: Imaginary landscape no. 4

no. 5

Williams Mix

(Lecture on nothing)

45´ englisch

45´ deutsch

Radiomusic

Fontana Mix

Cartridge Music

Variations IV

Rozart Mix

Etcetera

Branches

Roaratorio
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