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7.27.1 Bekanntes und Unbekanntes: Improvisierte Musik


Rudolf Frisius

BEKANNTES UND UNBEKANNTES

Probleme der Formanalyse in improvisierter Musik

Vorbemerkungen

Bekanntes und Unbekanntes, Voraussehbares und nicht Voraussehbares durchdringen sich im Prozeß nicht nur der Improvisation, sondern auch des Hörens komponierter und improvisierter Musik. Formanalyse improvisierter Musik (die, anders als die Strukturanalyse, nicht nach dem Entstehungsprozeß, sondern nach dem gehörten Klangergebnis fragt und für die Unterschiede zwischen komponierter und improvisierter Musik insofern nur von sekundärer Bedeutung sind) kann sich konzentrieren auf die Beschreibung von unmittelbar hörbaren Eigenschaften und Klangobjekten und ihrer Veränderung im Kontext charakteristischer Klangverläufe. Sie beschreibt Musik als klingende Zeit - sei es als Zustand (in einer spezifischen Konstellation von Eigenschaften und/oder Klangobjekten), sei es als allmähliche oder plötzliche Veränderung (fließende oder geschnittene Zeit).

Formanalyse improvisierter Musik ist Höranalyse. Sie orientiert sich am Hören dessen, was tatsächlich erklingt - nicht etwa, wie es häufig in Strukturanalysen komponierter Musik der Fall ist, am Lesen eines Notentextes, an dessen Vorschriften das Klangergebnis gemessen werden könnte. Die Schwierigkeit der Höranalyse besteht darin, daß sie sich, so lange sie sich streng auf ihre eigenen Voraussetzungen beschränkt, auf kein den Möglichkeiten des Hörens inadäquates Hilfsmittel verlassen kann - insbesondere nicht auf eine das Gespielte im voraus regulierende und im Nachhinein als Regulativ des Gehörten heranziehbare Notation, wie sie in der Regel als maßgebendes Arbeitsmittel bei der Interpretationsanalyse herangezogen werden muß, damit ein tatsächlicher Höreindruck (eine bestimmte Interpretation eines gegebenen Notentextes) an einem vorgestellten Höreindruck (der Klangvorstellung entsprechend den Vorschriften der Partitur) gemessen werden kann. Die Improvisationsanalyse hingegen kann in der Regel nicht das Gehörte an Maßstäben messen, die sich dem konkreten Höreindruck entziehen. Ihre Kriterien der Beschreibung und Beurteilung des Gehörten muß sie vielmehr direkt aus diesem selbst ableiten - zumindest dann, wenn sie sich streng am Aspekt der Formanalyse, der Analyse des Klangergebnisses, orientiert und absieht von Perspektiven der Strukturanalyse, die das Hörergebnis als Ergebnis von Entscheidungsprozessen, z. B. von Vorgaben oder Absprachen des oder der Improvisierenden, zu erklären versucht. Daraus ergibt sich, daß die Formanalyse, trotz aller methodischen Schwierigkeiten, zumindest insofern einfacher als die Strukturanalyse erscheinen kann, als sie sich auf einen einzigen Sinnesbereich beschränken darf (auf das Hören einer Aufführung, auf das einmalige oder mehrfache Hören einer Tonaufzeichnung); für die Strukturanalyse hingegen können auch beispielsweise visuelle Aspekte einer Aufführung von Bedeutung sein - etwa bei Interaktionen zwischen den Mitwirkenden oder zwischen ihnen und dem Publikum, die womöglich die Klangresultate beeinflussen.

Die Paradoxie des methodischen Ansatzes der Höranalyse besteht darin, daß sie in der Regel dazu führt, Gehörtes so zu beschreiben, daß die Beschreibung nicht nur auditiv, sondern auch visuell, als gelesener Text oder angeschaute Graphik (Hörpartitur), erfaßt werden kann. Dies gilt auch für die Umsetzung des Gehörten in Bewegung, die sich unter bestimmten Voraussetzungen als Grenzfall der Höranalyse beschreiben läßt. Verbale und grafische analytische Beschreibungen lassen sich interpretieren als Versuche, Höreindrücke über die Zeit ihres Erklingens hinaus im Bewußtsein zu konservieren und zu verarbeiten. Die Schwierigkeit solcher Versuche ist besonders dann offensichtlich, wenn eine vorgegebene Notation des Gehörten nicht bekannt oder nicht existent ist (so wie es im Falle improvisierter Musik die Regel ist).

Theoretische und analytische Ansätze

Die Schwierigkeit, eine solide und nach Möglichkeit allgemeingültige methodische Basis der Höranalyse zu finden, wird deutlich, wenn man zum Vergleich traditionelle musiktheoretische Ansätze heranzieht. Diese erscheinen plausibel, so lange man sich mit dem traditionellen Verständnis der Musik als Tonkunst begnügt: Als Grundeinheit der Musik gilt der einzelne Ton. Durch horizontale (sukzessive) Gruppierung von Tönen ergeben sich Tonfolgen, durch vertikale (simultane) Gruppierung von Tönen entstehen Zusammenklänge. Geordnete Tonfolgen werden als Melodien bezeichnet, geordnete Zusammenklänge als Akkorde. Mögliche Ordnungskriterien sind die Ableitung aus einem gegebenen Tonvorrat (in der Regel einer standardisierten Tonleiter) oder (vor allem im Bereich der Harmonie, der Akkorde und ihrer Abfolgen) aus einer charakteristischen Intervallstruktur (beispielsweise in der traditionellen Harmonielehre aus den Intervallen der Naturtonreihe in Verbindung mit dem Prinzip der Terzschichtung und dem bereits erwähnten Prinzip der Bindung an bestimmte Skalen, insbesondere an die Durskala und die harmonische Mollskala) oder (im Falle der Sukzession) bestimmte Regeln über die Kombination von Bewegungsrichtungen und Intervallgrößen etwa in der Vorschrift, daß einem Intervallsprung in die Gegenrichtung führend Schritte folgen sollen. Mehrstimmigkeit, die sich primär aus Akkorden und ihrer Aneinanderreihung ergibt, wird als Homophonie bezeichnet; wenn sie primär aus der Überlagerung von Melodien resultiert, heißt sie Polyphonie; gelegentlich wird in der traditionellen Musiktheorie auch die dritte, vor allem in wichtigen Bereichen der Musikethnologie bedeutsame Möglichkeit der Mehrstimmigkeit in Betracht gezogen: Die Heterophonie, die Überlagerung einer melodischen Linie mit verschiedenen Verzierungsvarianten. (Der letztgenannte Begriff spielt auch in der Musik des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle - beispielsweise bei Mauricio Kagel, der ihn als Werktitel eines Orchesterstückes verwendete und die von ihm bezeichnete Satztechnik beispielsweise in seiner "Kantrimiusik" in ironischer Verfremdung verwendete; in weiterem Sinne, als Bezeichnung für die Überlagerung eng miteinander verwandter, gleichsam als Varianten aufeinander bezogener Klangstrukturen, läßt sich Heterophonie überdies auch in der Tonbandmusik und in freienen Improvisationen häufig finden.) - Diese Grundbegriffe der traditionellen Elementarlehre werden ergänzt durch eine Formenlehre, die auf der Basis der Melodielehre entwickelt ist (in der Annahme, auch in mehrstimmiger Musik ergebe sich die Form in der Regel aus der Form ihrer wichtigsten Melodie, der Hauptstimme). In diesem Sinne wird Form primär als Möglichkeit der standardisierten Gliederung in Betracht gezogen (im Detail ausgehend vom Motiv, oder evtl. seinen Unterteilungen in Motivgliedern, übergehend zu Motiv- oder Taktgruppen: Abschnitt, Satz, Periode; in größeren Zusammenhängen ausgehend von Formschemata etwa verschiedener Liedformen, der variativen Reihung, des Scherzos, verschiedener Rondotypen oder des Sonatenhauptsatzes, für dessen Charakterisierung neben den Standardbezeichnungen für exponierte Formteile auch Bezeichnungen für vorbereitende, überleitende, abschließende oder entwickelnd verarbeitende Formeinheiten bedeutsam werden). - In dieser Kombination von Elementarlehre und Formenlehre, gleichsam von musikalischer Grammatik und Syntax (einschließlich einiger formaler Aspekte der Rhetorik) ergab sich eine sprachähnliche Konzeption der Musiktheorie, die auch ähnlich wie eine Sprache erlernt werden konnte - in musikalischer freier Rede, also improvisatorisch (nicht nur kompositorisch, in schriftlich fixierter musikalischer Artikulation). Im Idealfalle sollte eine so konzipierte Musiktheorie geeignet sein, die Gesetzmäßigkeiten nicht nur der Erfindung und klanglichen Realisierung von Musik, sondern auch des Musikhörens zu erklären.

Im Rahmen der traditionellen Musik könnte der skizzierte musiksprachlich-musiktheoretische Ansatz im Prinzip einleuchtend erscheinen. Seine Grenzen werden allerdings schon dann deutlich, wenn man seine Affinitäten zu Grammatik und Syntax der Sprache genauer untersucht: Während in der sprachlichen Kommunikation dieselbe eindeutige Abgrenzung von Silben und Wörtern sowohl für den Sprechenden als auch für den Hörenden verbindlich bzw. verständlich sein muß, weil sonst die sprachliche Verständigung in Frage gestellt ist, können in musikalischen Gliederungszusammenhängen Mehrdeutigkeiten entstehen. Es kann so weit kommen, daß etwa für dieselbe komponierte Melodie nicht nur von verschiedenen Analytikern unterschiedliche Gliederungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, sondern auch vom Komponisten selbst - beispielsweise dadurch, daß er bei der motivischen Verarbeitung von Motivgliedern, Motiven oder Motivgruppen die Töne unterschiedlich gruppiert. Die vielfältigen Möglichkeiten der Mehrdeutigkeit, die so zu Tage treten, bleiben auch dann bedeutsam, wenn man bedenkt, daß sie beim Lesen des Notentextes meistens eine größere Rolle spielen als beim Anhören einer Aufführung, da sich in klar gliedernder Interpretation die Möglichkeiten mehrdeutiger Gruppierung mehr oder weniger erheblich reduzieren können.

So lange Musik dem Modell der artikulierten Tonrede folgt, liegt es gleichwohl nahe, die Erfindung, die klangliche Realisation und das Hören dieser Musik mit Modellen der traditionellen Musiktheorie und mit den Möglichkeiten der ihr entsprechenden traditionellen Notation zu beschreiben. Zu beachten ist allerdings, daß weder die Musik noch die Sprache sich allein aus der Perspektive des schriftlich Fixierbaren angemessen beschreiben lassen: Es gibt sprachliche Informationen, die sich nicht aus dem aufgeschriebenen Text entnehmen lassen, sondern aus dem Klang der Stimmen, der Sprechweise und der stimmlichen Artikulation; in entsprechender Weise gibt es auch musikalische Informationen, die sich nicht aus dem Notentext entnehmen lassen (aus der Analyse von Tonhöhen und Intervallen, Tonfolgen und Zusammenklängen, Rhythmen und formalen Konstellationen), sondern aus charakteristischen Konstellationen des Klangbildes und der klanglichen Artikulation.

Schwierigere Probleme ergeben sich, wenn in der Musik Aspekte hervortreten, die weniger mit der artikulierten standardisierten Sprache als mit den nonverbalen Kommunikation vergleichbar sind. Nicht nur die Stimme als Instrument, sondern auch die Stimme als Übermittler von Ausdruck und Bedeutung kann in Zusammenhängen von Sprache und Musik Hörereignisse produzieren, die sich nicht ohne weiteres auf standardisierte Konstellationen von Lauten oder Tönen zurückführen lassen. Entsprechendes gilt auch für instrumentale und, in noch stärkerem Maße, für technisch produzierte Klänge - sei die Musik im Studio oder live(-elektronisch) realisiert, komponiert oder improvisiert. Im Zusammenhang der Musik entziehen sich vor allem die (vokalen, instrumentalen oder technisch produzierten) Geräusche der Reduktion auf ein Standard-Repertoire der Klänge. Das Geräusch-Kontinuum, das der Musik potentiell zur Verfügung steht, unterscheidet sich grundsätzlich vom abgegrenzten, auf wenige Grundeinheiten begrenzten Lautrepertoire einer gesprochenen Sprache. Schon deswegen ist es nicht möglich, in allen Bereichen die Sprache als Strukturmodell auch für die Musik zu akzeptieren.

Pierre Schaeffer hat in seinem "Traité des objets musicaux" und in der diesen begleitenden Schallplattenreihe "Solfège de l´objet sonore" den Strukturvergleich zwischen Musik und Sprache (die durch unterschiedliche Modalitäten des Hörens und des Verhältnisses zwischen Hören und Verstehen charakterisiert werden) durch eine Klangtypologie ergänzt, die, den modernen Möglichkeiten des Schnitts und der Mikromontage aufgenommener Klänge entsprechend, sich auf die kleinsten wahrnehmbaren Einheiten aufgenommener Klänge unabhängig von ihrer Herkunft (aus den Bereichen des Umweltgeräusches, der tierischen oder menschlichen Stimm- bzw. Sprachäußerung oder der Musik) beziehen. Er klassifiziert die Klangobjekte einerseits nach ihrer klanglichen Materie (mit eindeutiger, gleichbleibender Tonhöhenbestimmung, "tonisch" (also als Ton im traditionellen Sinne) - mit komplexer, gleichbleibender Tonhöhenbestimmung, also als stationäres Geräusch - mit veränderlicher Tonhöhenbestimmung), andererseits nach ihrer (zeitlichen Verlaufs-) Form (als Dauerereignisse, z. B. ein Orgelpunktton oder ein Triangelschlag - als Impulse, z. B. ein Pizzicatoton oder ein Trommelschlag - als Impulsketten, z. B. ein Tremolo- oder Flatterzungenton oder ein Trommelwirbel). Der bevorzugte Klangtyp der traditionellen Musiktheorie, der ausgehaltene Ton, entpuppt sich in dieser Klassifikation als Sonderfall, als eine von neun verschiedenen Möglichkeiten. (Die begrenzte Bedeutung dieses Sonderfalles würde noch deutlicher, wenn man Schaeffers Typologie noch weiter verfeinern und beispielsweise zwischen tonischen und komplexen Hörereignissen veränderlicher Tonhöhenbestimmung unterscheiden wollte.) Schaeffers Typologie macht es - auch in weitereren, genauer differenzierenden Unterscheidungen in der materialen und formalen Bestimmung von Klängen (in genauerer Differenzierung insbesondere von Phänomenen, die in traditioneller Terminologie pauschal als "Vibrato" bezeichnet werden) - möglich, bei der Beschreibung von Hörereignissen weit über die Möglichkeiten der traditionellen, auf Töne und Tonbeziehungen konzentrierten Musiktheorie hinauszugehen in wichtige Bereiche der vokal-instrumentalen und apparativen Experimentalmusik.

Schaeffer hat in seiner Einteilung "zentrale Objekte" mit einer im gestaltpsychologischen Sinne "guten Form" bevorzugt - Elementarobjekte mit prägnanten Gestaltmerkmalen, aus deren Gruppierung komplexe Musik entstehen soll ähnlich wie die Sprache aus der Gruppierung der Laute: Aus der Gruppierung von Lauten entstehen Silben, Wörter, Satzteile, Sätze usw.; aus der Gruppierung von Klangobjekten entstehen Strukturen, Sequenzen usw. (Wenn elektroakustische Musik im Studio produziert wird, entsteht diese Gruppierung durch Montage und Mischung.) Musik, in der die Vorrangstellung dieser zentralen Objekte abgeschafft ist, zeigt allerdings um so deutlicher ihre Wesensverschiedenheit von der Sprache. (Beispiele solcher Musik finden sich häufig bei Iannis Xenakis, z. B. in seinen beiden ersten Tonbandkompositionen "Diamorphoses" und "Concret PH", und in von free-jazz-Charakteristika geprägten Improvisationen.)

Schaeffers Klassifizierungen dienen vor allem dem Ziel, Orientierungsmöglichkeiten zu schaffen in einer unübersehbaren Vielfalt von Klangereignissen. Obwohl in seinem Klassifikationssystem erstmals die vielfältigen Veränderungen im Inneren der Klänge genauer differenziert sind, zielen seine Definitionen von Klangtypen eher auf die Identifikation von Klängen als auf die Bewußtmachung ihres inneren Lebens, der fortwährenden zeitlichen Veränderung ihrer Eigenschaften. Die Eigenschaften selbst hat Schaeffer so bestimmt, daß sie eher an isolierten Klangobjekten studiert werden können als an größeren musikalischen Formzusammenhängen. Man kann versuchen, die Abgrenzung dieser Eigenschaften so vorzunehmen, daß sie sowohl im klanglichen Detail als auch in größeren Formzusammenhängen bestimmt und in Prozessen ihrer zeitlichen Veränderung beschrieben werden können: Hinsichtlich der Materie der Klänge oder Klangstrukturen als Tonhöhe (bzw. Geräuschlage) oder als Lautstärke oder als (vertikale) Dichte (die im einfachsten Falle meßbar ist an der Anzahl überlagerter Klänge oder Klangereignisse; hinsichtlich der Form der Klänge oder Klangstrukturen als allmähliche oder plötzliche Veränderung, die - in unterschiedlichen, entweder konstanten oder sich verändernden Geschwindigkeiten - entweder anwachsend (allmählich anwachsend: Steigerung; plötzlich anwachsend: Verstärkung) oder abnehmend (allmählich abnehmend: Rückentwicklung; plötzlich abnehmend: Abschwächung) oder in der Wachstumstendenz unbestimmt sein kann (allmählich: Verwandlung - z. B. die erste Verwandlungsmusik in Wagners "Rheingold" oder die Verwandlungsmusik zwischen zweiter und dritter Szene des ersten Aktes von Bergs "Wozzeck"; plötzlich: Sprung - z. B. ein Klangfarbenwechsel ohne gerichtete Veränderung von Lautstärke oder Tonhöhe/Geräuschlage). Aus der planmäßigen Veränderung einzelner Eigenschaften (Tonhöhe, Lautstärke, Dichte, Geschwindigkeit) ergeben sich charakteristische Formprozesse, und umgekehrt lassen sich Formprozesse genauer klassifizieren, indem man die sie hervorbringenden planmäßigen Veränderungen einzelner Eigenschaften genauer beschreibt. In der Kombination der Beschreibung von Klangtypen, Schalleigenschaften ("Parametern") und Formverläufen können sich so Ansätze der Analyse ergeben, die hinausführen einerseits über den Bereich der traditionellen Vokal- und Instrumentalmusik bis in den Bereich der technisch produzierten Musik, andererseits über den Bereich der komponierten bis in den Bereich der improvisierten Musik: In den Bereich der "invention musicale", wie er für Komposition und Improvisation vor allem von Guy Reibel erschlossen wurde in seiner (die Ideen Pierre Schaeffers weiter führenden) musikalischen Erfindungslehre, die in seiner Publikation "Jeux vocaux" (einer ersten Ausformung für den vokalen Bereich) vielseitige Konkretisierungen erfahren hat und vielfältige Anregungen für neue Möglichkeiten der musikalischen Ausbildung und Praxis geben kann auch über den expemplarisch behandelten Bereich der Vokalimprovisation hinaus.

Allerdings kann sich in der Improvisationsanalyse die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen dieser Ansätze stellen: Erfassen sie eher das Repertoire standardisierter Klangmuster und Klischees oder die spezifische Besonderheit und Originalität der beschriebenen Musik? Kann die Qualität improvisierter Musik sich womöglich auch daran erweisen, daß ihre Analyse nach solchen und ähnlichen Ansätzen auf nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten stößt?

Bekanntes und Unbekanntes - Klischees und Stereotypen - Form und Struktur

"Im Zentrum der 3. INTERNATIONALEN TAGUNG FÜR IMPROVISATION , LUZERN stehen Fragen rund um das Klischee, das Stereotyp. Ihr Entstehen, ihre Bedeutung und der Umgang mit ihnen betreffen ganz zentral jede Form des Improvisierens."

Diese Worte finden sich am Anfang des Prospektes einer Tagung, die mit Konzerten, mit einem Kongreß, mit Seminaren und und Workshops Theorie und Praxis der Improvisation unter übergeordneten Aspekten aufeinander bezog, wobei die musikalische Improvisation in Zusammenhang gebracht wurde nicht nur mit der musikalischen Komposition (z. B. im Vergleich ihrer Probleme mit Fragen der Bildung von Klischees und Stereotypen im Bereich der Filmmusik oder der komponierten Neuen Musik), sondern auch mit der Improvisation in anderen Bereichen - sei es im Vergleich, sei es in der Kombination mit Musik (z. B. Bewegungsimprovisation und gestische Improvisation).

Das Programmangebot der Konzerte war mit den übrigen Veranstaltungen vernetzt einerseits dadurch, daß Mitwirkende der Konzerte workshops veranstalteten, andererseits dadurch, daß, sofern es der Terminplan zuließ, die Abendkonzerte am folgenden Tag in einem Begleitseminar, nach Möglichkeit unter Beteiligung der Musiker, besprochen wurden. Als Vorarbeit für diese Begleitseminare hatte der Seminarleiter, der Verfasser dieser Zeilen, die betreffenden Konzerte während der Aufführung verbal mitprotokolliert und anschließend beim Abhören der Aufnahmen dieser Konzerte die Abhörnotizen überprüft, nach Möglichkeit präzisiert und ergänzt. Auf der Basis des gemeinsamen Hörens, der Notizen und ausgewählter Ausschnitte aus den Konzertaufnahmen, die in den Seminaren vorgespielt wurden, fand dann eine Auswertung im Gespräch mit den anwesenden Musikern und mit den Teilnehmern des Seminars statt. Bei der Protokollierung der Konzerte und ihrer Aufnahmen sowie in den Auswertungsgesprächen spielten naturgemäß nicht nur die rein phänomenologischen Beschreibungen der Hörergebnisse eine Rolle, sondern auch die Aktivitäten und Interaktionen der einzelnen Mitwirkenden. So wurden Aspekte der rein phänomenologischen Formanalyse, die zuvor als Basis des Erfahrungsaustausches in erster Annäherung (nach ein- bzw. zwei- oder mehrmaligem Hören) fixiert worden waren, zumindest ansatzweise auch mit Aspekten der Strukturanalyse in Verbindung gebracht: Besprochen wurde nicht nur das unmittelbar Hörbare, sondern auch das als Basis des Hörergebnisses bekannte oder vermutete Beziehungsnetz zwischen den Beteiligten, mitwirkenden Musikern und Zuhörern (die in der Regel selbst über intensive Improvisationserfahrungen verfügten). Die Seminare fanden also unter Voraussetzungen statt, wie sie sonst in Praxis und analytisch-theoretischer Reflexion der Improvisation nur selten zu finden sein dürften: Die kombinierte Erfahrung des gemeinsamen Hörens des live-Konzerts und des gemeinsame Abhörens von Ausschnitten der Aufnahme im kleineren Kreis des Seminars (vorbereitet durch deren vollständiges Abhören und durch eine möglichst eingehende Protokollierung durch den Seminarleiter) stellte alle Beteiligten vor eine neue Situation. Einerseits wurde deutlich, daß nicht nur für die Mitwirkenden, sondern auch für die Hörer des Publikums die Höreindrücke beim Abhören einer Improvisations-Aufnahme sich wesentlich von den Höreindrücken des live-Konzerts unterscheiden können. Andererseits wurde auch deutlich, daß die verschiedenen Aspekte der Höranalyse, der Information der Mitwirkenden (z. B. über vorausgegangene Improvisationserfahrungen mit den Musikern des Konzerts oder mit anderen Musikern oder evtl. über bestimmte Materialvorbereitungen, etwa präpapierte Einspielungen, oder vor dem Konzert getroffene Absprachen) und die Höreindrücke der Zuhörer in Verbindung mit deren eigenen Vorerfahrungen im Bereich der Improvisation sich in vielfältiger Weise ergänzen konnten. So wurden erste Ansätze erkennbar, Ergebnisse von individuellen Improvisationsanalysen, die ihre eigenen Voraussetzungen offenzulegen versuchen, zu konfrontieren mit über den Höreindruck hinausführenden Begleitinformationen und mit der Verschiedenheit des Hörens und Bewertens durch verschiedene fachkundige Hörer. Die schwierig zu beantwortende Frage, was jeder einzelne hört und wie sich dies von den Höreindrücken anderer unterscheidet, konnte zumindest in Einzelfällen genauer gestellt und in Einzelaspekten beantwortet werden.

Die Frage der Verwendung, Vermeidung oder Überwindung musikalischer Klischees spielte in den Diskussionen eine nicht unwesentliche Rolle - in Analyse, Wertung und produktiver Kritik.

Besprochen wurden das Einführungskonzert der Gruppe "Global Village" (Gunda Gottschalk, Violine; Peter Kowald, Kontrabaß; Le Quan Ninh, Perkussion; Savina Aynnatou, Stimme; Xu Feng Xia, chinesische Instrumente), ein Doppelkonzert mit Soloimprovisation (Hansjürgen Wäldele, Oboe) und Duoimprovisation (Michael Barker, Blockflöten; Walter Fähndrich, Viola), und zwei Triokonzerte mit der Gruppe "KARL ein KARL" (Peter K Frei, Kontrabaß und Stimme; Michel Seigner, Gitarre und Stimme; Alfred Zimmerlin, Violoncello) und mit drei englischen Musikern (John Butcher, Saxophon; Phil Durrant, Violine; John Russel, Gitarre). Bei der Vorbereitung der Sitzungen zeigte sich, daß die vorbereiteten Analysekriterien sich am leichtesten einerseits bei der Soloimprovisation mit Hansjürgen Wäldele, andererseits in der Quintettimprovisation beim Eröffnungskonzert anwenden ließen, und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Hansjürgen Wäldele spielte eine in der Gesamtanlage und ind er Ausgestaltung der einzelnen Teile klar strukturierte Musik, deren Formverläufe sich durchaus ähnlich analysieren ließen wie in der Höranalyse eines komponierten Solostückes. Über seine Konzeption hat er sich unmißverständlich geäußert im Ankündigungstext seines workshops, der sich schon im Merkspruch seines Titels unmißverständlich distanziert von der spontanen freien Improvisation: "Freyheit das Best man achten tut und doch auch nit allzeit gut". Im Text heißt es: "Auch in der "freien Improvisation" währt die Freiheit nur Sekunden. Mit jedem Augenblick des Spielens wird das Beziehungsnetz dichter, und die Musik übernimmt das Diktat. - Mit den Grenzen wächst die Möglichkeit der Gestaltung. Nur auf festem Boden gelingt der Absprung." Dementsprechend streng strukturiert präsentierte sich Hansjürgen Wäldeles Soloimprovisation, die zunächst ohne Instrument, mit der Stimme, begann und in deren weiterem Verlauf dann das Instrument in szenisch-klanglich-musikalischen Aktionen Stück für Stück aus seinen einzelnen Bestandteilen zusammengesetzt wurde. - Von vergleichbarer innermusikalischer Strenge, allerdings in anderer formaler Ausgestaltung (stärker auf einen bruchlosen Klangstrom ausgerichtet) war die Partie Walter Fähndrichs im Duokonzert mit Michael Barker, der in knappen und vielfältigen instrumentalen und vokalen Interpolationen gleichsam im ständigen Kontrapunkt agierte, so daß beide Musiker fortwährend in sich Stimmiges, zum Spiel des Partners beziehungsreich Kontrastierendes spielten. Jeder Spieler spielte seine Partnerrolle gleichsam in voller Autonomie. Dieses Zusammenspiel kontrastierte deutlich zu der kurzen Duoimprovisation, mit der 4 Tage später Irène Schweizer und David Moss ihr Doppelkonzert beschlossen: Nach extrem unterschiedlichen Solodarbietungen, die vorausgegangen waren, konnten sie im anschließenden Zusammenspiel ihre unterschiedlichen Konzeptionen direkt konfrontieren, wobei meistens David Moss konventionelles Passagenwerk seiner Partnerin entweder, gleichsam als "musikalisches Plappern", in Pseudo-Imitationen rascher Schlagzeugfiguren karikierte oder mit der Stimme ironisch kommentierte manchmal auch, mit heftigen Schlagzeugeinwürfen konterkarierte. Der Kontrast zwischen beiden Duos ergab sich weitgehend aus vollkommen unterschiedlichen Einstellungen der beteiligten Musiker zum Problem des musikalischen Klischees: Während Walter Fähndrich und Michael Barker in dichten Texturen gewissenmaßen jenseits des musikalischen Klischees zu musizieren versuchten, war dieses in der Musik von Irène Schweizer und David Moss allgegenwärtig - sei es unverhüllt und ungebrochen (vor allem bei Irène Schweizer, mit ornamentalen Akkordbrechungen, mit oktavierten oder akkordischen thematischen Gestaltungen, die im ersten Solostück als Abschluß nach langer präludierender Vorbereitung, im zweiten Solostück als pfeilerartige Gliederungselemente eines rondoartigen Formablaufes sich profilierten), sei es spielerisch verfremdet oder ironisch gebrochen (bei David Moss im Wechsel verschiedensprachiger oder nonverbaler Stimmlaute mit Schlagzeugpassagen oder präparierten tontechnischen Effekten). David Moss verband seine Musik mit Klanggeschichten und humoristisch-selbstkritischen Kommentaren - besonders sinnfällig in einem vom Publikum respektvoll amüsiert registrierten Kommentar einer Ostinato-Stelle: "I hate that sound. Das ist ein Klischee." - Die beiden Triokonzerte präsentierten Beispiele eines dichten und konzentrierten, weitgehend nonfigurativen und assoziationsfreien Zusammenspiels. Weitgehend losgelöst von musikalischen Klischees erschienen sie nicht zuletzt in ihrer formalen Gestaltung: Als Musik differenzierter musikalischer Erfindung im Sinne einer spontaneistischen instantaneous composition. Vor allem in dieser Hinsicht unterschieden sie sich vom Konzert der Gruppe "Global Village", deren Musiker sich für einer ihnen weitgehend neuen Zusammenspiel-Konstellationen ausgesetzt hatten (im Unterschied etwa zur Gruppe KARL ein KARL, deren Spieler sich aus langjährigem Zusammenspiel kennen).

Die Frage der Verwendung, Vermeidung oder Überwindung musikalischer Klischees spielte in den Diskussionen der Begleitseminare eine nicht unwesentliche Rolle - in Analyse, Wertung und produktiver Kritik. Sie konkretisierte sich nicht zuletzt auch an Überlegung über die Rolle der einzelnen Spieler und über ihr Zusammenspiel - im weiten Feld zwischen den Extremen der allzu offensichtlichen Anpassung und der allzu offensichtlichen formalen Ablaufsmuster (zum Beispiel Steigerungen parallel in allen sinnfälligen Gestaltungsmerkmalen: Lautstärke, Tonhöhe, Dichte, Geschwindigkeit) einerseits, der weitgehenden Unabhängigkeit der Spieler in der Ambivalenz zwischen Reaktionslosigkeit und bewußt beibehaltener Selbständigkeit andererseits.

Minimalistische Klischee-Kritik als Kontrasmodell zur Improvisation: Tom Johnson

Die Terminplanung der Tagung brachte es mit sich, daß von der Kombination zwischen dem Improvisationskonzert und dem (am nächsten Tag darauf folgenden) improvisationsanalytischem Seminar in zwei Fällen abgewichen werden mußte. Erstens war eine nachträgliche analytische Aufarbeitung des Doppelkonzerts von Irène Schweitzer (Klavier) und David Moss (Stimme, Schlagzeug) in Seminarform deswegen nicht möglich, weil dieses Konzert am Schluß der Tagung stattfand. Zweitens stand im Zentrum der Tagung ein Abendkonzert, daß man als extremes Kontrastmodell zu allen Improvisationskonzerten beschreiben könnte und das deswegen nicht so aufgearbeitet werden konnte wie diese: Eine auszugsweise, vom Komponisten mit Zwischenkommentaren versehene, konzertante Aufführung der "Riemannoper" von Tom Johnson. Diese Komposition führt den Untertitel: "Eine Oper in zwei Akten für Bariton, Tenor, Primadonna, Primadonna assoluta und Klavier, mit Text direkt aus dem Riemann Musik Lexikon".

Die konzertante Opernaufführung im Zentrum der Improvisationstagung machte weitgehende Umdispositionen bei der Vorbereitung des am folgenden Tage stattfindenden Begleitseminars zu den Konzerten notwendig. Der Auftritt Tom Johnsons konkretisierte das produktive Spannungsverhältnis zwischen dem Begriff des Klischees (dem Zentralbegriff der 3. Improvisationstagung) und dem Begriff der Improvisation.

Im Copyrightvermerk der "Riemannoper" heißt es: "Alle Rechte vorbehalten bis zum Tod des Komponisten und seiner Frau. Zu diesem Zeitpunkt wird Riemannoper unverzüglich und vollständig Gemeingut." Mit diesen Worten macht Tom Johnson deutlich, daß das von ihm Erfundene auch als Anregung an sein künftiges Publikum verstanden werden kann, den hier exponierten Einfall selbständig anzuwenden und womöglich weiter zu entwickeln: Angeregt durch eine Musik, deren Konstruktionsgesetze sich im unmittelbaren Höreindruck weitgehend erschließen.

Erste Ausschnitte des Werkes wurden 1986 in Berlin vorgestellt. Die Uraufführung fand am 3. November 1988 in Bremen statt. Ihr folgten zahlreiche weitere Aufführungen und Neuinszenierungen. Die (Teil-)Aufführung 1996 auf der Improvisationstagung in Luzern stand offensichtlich im Zusammenhang nicht mit dem Aspekt der Improvisation, sondern mit dem für die Tagung dieses Jahres maßgeblichen Stichwort "Klischee", das hier offensichtlich als Sujet einer kompositorischen Ausarbeitung präsentiert werden und so den improvisatorischen Beiträgen der anderen Konzerte konfrontiert werden sollte.

Die Partitur sieht 4 Gesangsrollen vor: Die Primadonna assoluta - Die Primadonna - Der lyrische Tenor - Der Bariton. Die Texte, die diese Solisten singen, sind dem Riemann-Musiklexikon entnommen. Begleitet werden sie von einem Pianisten. Das Stück hat zwei Akte, die in verschiedene Nummern gegliedert sind, darunter Rezitative (Definitions-Rezitativ, Singstil-Rezitativ, Gattungs-Rezitativ, Begleitungs-Rezitativ, Parlando-Rezitativ; Französisches Rezitativ, Gluck-Rezitativ), musikalisch geschlossene Nummern (Vorspiel, Da Capo Aria, Aria di Bravura, Sortita, Aria Parlante, Quartett in Buffostil; Gleichnisarie, Nocturne, Tagelied, Soubrette, Galopp, Finale, Coda Stretta) und Kombinationen zwischen beiden Möglichkeiten (Rezitativ und Arioso, Rezitativ und Barkarole; Rezitativ und Ombra-Szene). Schließlich gibt es noch ein "Leitmotiv", das im ersten Akt in einer eigenen Nummer eingeführt wird.

Der reduzierten Besetzung und dem einfachen formalen Aufriß entsprechen in der Detailgestaltung einfache minimalistische Tonstrukturen - vor allem in den geschlossenen Nummern, die in den Gesangspartien und in der Klavierbegleitung ausschließlich aus den Tönen d und a in verschiedenen Oktavlagen komponiert sind (also genau mit denjenigen Tönen, die auch zu Beginn von Richard Wagners Oper "Der fliegende Holländer" in verschiedenen Oktavlagen erscheinen). Für die Inszenierung des Stückes gibt der Komponist, abgesehen von einigen Anregungen im Vorwort seiner Partitur, keine genaueren Anweisungen. Um so genauer sind in der traditionell notierten Partitur die Gesangspartien und die Klavierbegleitung festgelegt. So bieten sich vielfältige Möglichkeiten der musikalischen und szenischen Interpretation, aber kaum Gelegenheit zu freieren improvisatorischen Gestaltung. Zu den wenigen Ausnahmen gehören verschiedene Stellen, an denen ein Sänger mit den Tönen d und a improvisieren darf, sowie ein "Begleitungs-Rezitativ" im ersten Akt, das der Komponist im Inhaltsverzeichnis folgendermaßen charakterisiert: "Die Sänger erklären genau, wie weit in einem Rezitativ die Improvisation gehen kann, bis der Begleiter dann zu weit geht und das Leitmotiv wieder auftaucht." In dieser Nummer dürfen, dem Text entsprechend, zwei Solisten an bestimmten Stellen improvisieren auf der Silbe "Ah". Weitere Möglichkeiten freier Ausgestaltung ergeben sich aus einem am 15. 12. 1991 im Vorwort der Partitur veröffentlichten Hinweis: "Seit Verdi haben Sänger die Kadenzen in weitem Maße ausgelassen, zum Beispiel, weil sie den Personen in die Quere kommen, aber in der Riemannoper werden wichtigtuerische Kadenzen ermutigt, weil die Personen die Sänger sind."

Auffällig für das gesamte Stück ist eine merkwürdige Ambivalenz zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Fixiertem und nicht Fixiertem. So hat Johnson zwar die Aufteilung der zitierten Lexikontexte auf die vier Sänger genau festgelegt, aber andererseits auch im Vorwort seiner Partitur die Verbindlichkeit dieser Festlegung teilweise wieder in Frage gestellt, wenn er schreibt: "Es ist nicht besonders wichtig, welcher Sänger welche Zeile im Rezitativ singt." Seine eigenen Vorschriften zur Rollenaufteilung bezeichnet Johnson gleichsam Resultat der subjektiven Interpretation der von ihm erfundenen Gesangsrollen (und er legt damit die Frage nahe, ob nicht auch andere Zuordnungen dieser oder auch anderer vorgegebener Texte zu bestimmten Gesangsrollen denkbar wären). Überdies legt Johnson Wert darauf, Details festzulegen, die nach entsprechenden Regeln auch improvisatorisch gestaltet werden könnten - vor allem die Harmoniefolgen und die melodisch-rhythmischen Wendungen der Secco-Rezitative im Pseudo-Generalbaßstil und die aus zwei Tönen gebildeten Passagen in den geschlossenen Nummern; trotzdem hat Johnson die melodisch-rhythmischen und harmonischen Details dieser Nummern fast durchweg präzis ausnotiert. So kommt es zu kompositorisch weitgehend eindeutig fixierten Ausgestaltungen musikalischer Spielregeln, nach denen auch (gebundene) Improvisationen vorstellbar wären. Vielleicht läßt sich Johnsons Copyrightvermerk auch als Anregung verstehen, eines Tages die hier verwendeten Spielregeln selbständig anzuwenden, umzufunktionieren und weiterentwickeln auch über den Bereich des kompositorisch Fixierten hinaus.

Eine Analyse des Gehörten (und in der konzertanten Live-Aufführung Gesehenen) muß sich von Höranalysen improvisierter Musik schon deswegen unterscheiden, weil eine klare Abgrenzung zwischen Kompositionsanalyse und Interpretationsanalyse hier unerläßlich ist - zwischen der Beschreibung der komponierten Strukturen und der Realisation des vom Komponisten sei es detailliert Vorgeschriebenen, sei es den Ausführenden zur mehr oder weniger freien Ausgestaltung Überlassenen. Im Zusammenhang der Aufführung auf der Luzerner Improvisationstagung erwies sich dabei der Aspekt der Kompositionsanalyse als vorrangig, weil in der konzertanten Aufführungen die weitgehenden (unter Umständen auch improvisatorischen) Möglichkeit der szenischen Ausgestaltung allenfalls ansatzweise deutlich werden konnten und weil überdies die in reduzierter Gesangsbesetzung notwendige verkürzte Fassung mit überleitenden und erklärenden Moderationen des Komponisten stärkere Aufmerksamkeit gefunden hatten als die routinierten, aber vor allem im Gesang stark chargierenden (und so den subtil-strukturalistischen Humor des Autors weitgehend vergröbernden) Interpreten. Dennoch war vorauszusehen, daß die Aufarbeitung dieses Konzerts in einem Begleitseminar schwierig werden würde. (Dies hatten auch irritierte Anfragen aus dem Kreis der Teilnehmer deutlich gemacht). In dieser Situation machte Kurt Dreyer einen die Situation rettenden Vorschlag: Er empfahl die vergleichsweise Heranziehung anderer Werke Tom Johnsons, die er in Aufnahmen zur Verfügung stellte. Unter den zur Verfügung gestellten Aufnah-

men wurde als sinnfälligstes Beispiel das 1983 entstandene Hörspiel "Signale" ausgewählt.

Was sich beim Abhören des Hörspiels relativ einfach heraushören läßt, ist auch für die "Riemannoper" bedeutsam (obwohl es sich hier wahrscheinlich leichter beim Studium der Partitur erschließt als im unmittelbaren Höreindruck): Tom Johnson vertritt in besonders radikaler und einleuchtender Weise die musikalische Position der Voraussagbarkeit oder Vorhersehbarkeit - also im Wortsinne eine Kontra-Position zur musikalischen Improvisation. Johnson versucht sein Ziel dadurch zu erreichen, daß er seine Musik in einer für den Hörer möglichst einfach zu erfassenden und sinnfälligen Weise strukturiert. In einer im Oktober 1996 verfaßten biographischen Notiz heißt es hierzu: "Er wird als Mimimalist betrachtet, weil er meistens mit einfachen Formen, kleinen Tonlagen und mit allgemein begrenztem Material arbeitet, aber er geht logischer als andere Minimalisten vor, oft Formeln, Permutationen und voraussehbare Reihen benutzend."

Johnson bevorzugt musikalische Konstruktionen, die sich dem Hörer leichter erschließen sollen als selbst Terry Rileys "In C" mit ihren sich allmählich aufbauenden und verschiebenden diatonischen Motiven oder als die "Clapping Music" von Steve Reich, in der zwei Klatschrhythmen zunächst synchron beginnen, dann (in schrittweiser Phasenverschiebung des einen) asynchron und am Ende, nach Durchlaufung aller Verschiebungsstellen, schließlich wieder synchron werden. Im Hörspiel "Signale" geht er Tom Johnson weit, daß der Text und selbst die Geräusche nichts anderes mehr sind als Hinweise auf die Struktur des Hörspiels (insbesondere auch auf die für seine Musik verbindliche Tonstruktur). Damit dies unmißverständlich deutlich wird, läßt er es von einer der beiden vorgeschriebenen Sprechstimmen an einer Stelle seines Hörspiels ausdrücklich aussprechen: "Fast alles ist hier voraussagbar..." An anderer Stelle wird dies erklärt:"... Hier ist der Schriftsteller eine Art Strukturalist. Er will, daß die Struktur seines Werkes im Vordergrund steht und daß einige der Zuhörer daran denken."

Im Wechsel zweier Stimmen wird fortlaufend gezählt. (In der Partitur sind "Sie" und "Er" als Stimmen vorgeschrieben; in der Realisation des Hörspielstudios des WDR werden eine hohe und eine tiefe Männerstimme eingesetzt.) Jeder angesagten Zahl folgt ein viertöniges Trompetenmotiv. Nach vier Motiven ändert sich etwas: Dem vierten Trompetenmotiv folgt nicht gleich die Zahl 5, sondern zuvor noch ein kurzes Frage- und Antwortspiel der beiden Stimmen, markiert durch Schüsse (einen Schuß am Ende der Frage, einen Schuß am Ende der Antwort). Entsprechend geht es weiter - mit neuen Mini-Dialogen nach dem achten und zwölften Trompetenmotiv. Im Text wird dies erklärt: Die Zahlen sind "Signale für den Trompeter".

Aus den viertönigen Motiven bilden sich Motivgruppen mit je vier Motiven. Mit der vierten Vierergruppe ist die Zeit für eine weitere, noch deutlichere Veränderung gekommen: Nachdem die erste Stimme das Motiv 15 angesagt, wiederholt die zweite Stimme dieselbe Zahl, und anschließend wird das zuvor gehörte Motiv nochmals wiederholt. Ein Wortwechsel über diese Wiederholung schließt mit einer struktukrellen Erklärung dieser scheinbaren Unregelmäßigkeit. Die zweite Stimme erklärt es der ersten: "Eine Nummer wird wiederholt und eine Variation der Trompetenmusik wird wiederholt. Du sagst noch etwas und ich antworte mit einer längeren Rede. Dann fangen wir mit einem der anderen acht Teile an, und das ist die Form dieses Hörspiels." Aus dem Gesagten ergibt sich, daß der erste Teil zu Ende ist. Diese Zäsur wird auch durch den Einsatz des Chores verdeutlicht. Er singt einmal "Amen".

Johnsons Text knüpft offensichtlich an die "Lecture on Nothing" von John Cage an: Der Text beschreibt seine eigene Strukturierung (oder, wie es Cage und Johnson nennen, seine eigene Form). Die erste Stimme stellt hierzu nach und nach (jeweils nach 4 Trompetensignalen) verschiedene Fragen, auf die anschließend die zweite Stimmen antwortet. Schon am Ende des 1. Teils gesagt, daß das Stück insgesamt 8 Teile haben wird. Von da an sind die Gliederungsmerkmale der Form voraussagbar: Stimmeinsätze mit Zahlen, mit kurzen oder längeren Äußerungen; Trompetensignale; Schüsse; "Amen"-Gesänge am Schluß eines Teiles. Am Schluß des ersten Teils wird das Wort einmal mit zwei Melodietönen gesungen, am Schluß des zweiten Teils, wiederum nach einem etwas längeren Wortwechsel zwischen beiden Stimmen, zweimal mit drei Melodietönen und so weiter bis zu 8 Anrufungen am Schluß des Stückes.

Die Sprechtexte lenken nach und nach die Aufmerksamkeit auf verschiedene Besonderheiten der Konstruktion des Hörspiels: Was wird gesagt, und wer sagt es? Was bedeutet das Gesagte? Wann sind Geräusche zu hören (Pistolenschüsse), und was bedeuten sie? Wie ist die instrumentale Musik aufgebaut? Bedeutet sie etwas? - Es kann durchaus vorkommen, daß der Hörer selbst sich solche Fragen schon gestellt hat, bevor er sie von einer der Sprechstimme aus dem Lautsprecher vernimmt. Auch die eine oder andere Antwort hat er vieleicht schon gefunden, bevor sie die andere Sprechstimme gibt. Wenn er die Antwort vorher hört, kann sie in spezifischer Weise sein Hörverhalten verändern: Es liegt nahe, beim weiteren Hören zu überprüfen, ob die Antwort stimmt. Manchmal ist die Antwort auch so formuliert, daß dem Hörer nicht alles verraten wird. Dies gilt vor allem für das Prinzip, nach dem die Trompetentöne aufeinander folgen. In diesem Sinne heißt es an einer Stelle (am Ende des 3. Teils): "Die Trompetenmusik ist eine Art Rätsel. Man kann es erraten wenn man will. Und derjenige, der die Logik versteht, kann die neuen Variationen voraussagen."

Musikhören als Versuch, ein Rätsel zu lösen, ist eine Aktivität, die sicher besser zu komponierter Musik paßt als zu improvisierter Musik. Musik als Entfaltung eines im voraus fixierten Netzes konstruktiver Beziehungen könnte als extremes Kontrastmodell zur improvisierten Musik erscheinen - sei es zwölftönige, seriell oder stochastisch konstruierte Musik, sei es mit Notationen oder Computerberechnungen präregulierte Zufallsmusik wie bei John Cage, sei es algorithmische minimal music wie bei Tom Johnson (wobei die Voraussagbarkeit für den Komponisten und für den Hörer mehr oder weniger unterschiedlich ausfallen kann - extrem unterschiedlich in bestimmten seriellen Konstruktionen, bei denen der Komponist genau voraussagen kann, welche Note mit welchen Parametern folgt, während dies für den mit den Konstruktionsregeln nicht vertrauten Hörer oft nicht möglich ist, einerseits, und bei Johnson andererseits, der sich intensiv darum bemüht, seine Konstruktionsgeheimnisse dem Hörer offenzulegen; in vielen Stücken von Cage sind die klanglichen Resultate der Partitur unvoraussagbar sowohl für den Komponisten als auch für den Hörer - für beide allerdings aus durchaus unterschiedlichen Gründen, und erst der späte Cage verlor sein Mißtrauen gegenüber der Improvisation, nachdem er Möglichkeiten gefunden hatte, die Interpreten von der voraussagbaren Macht der Klischees zu befreien und ihnen für sie selbst unvoraussagbare spontane Aktionen abzuverlangen). Wenn ein Hörer des Hörspiels "Signale" herauszufinden versucht, nach welchem Prinzip die Töne der Hörspielmusik aufeinander folgen, dann nimmt er eine gänzlich andere Hörhaltung ein, als sie in der Regel etwa beim Hören improvisierter Musik angemessen ist: Er sucht etwas, das eigentlich schon vor dem realen Erklingen der Musik vorhanden war, während er in improvisierter Musik in der Regel eher das Entstehen einer von Vorgaben völlig freien und deswegen ständig überraschenden Musik erleben möchte.

Das erste Trompetensignal in Johnsons Hörspiel besteht aus 4 aufsteigenden Tönen: fis1-g1-ais1-h1. Beim 2. Signal kommt anfangs ein neuer (fünfter) Ton hinzu, während anschließend drei bekannte Töne (die drei Anfangstöne) wiederkehren: d2-fis1-g1-ais1. Das Prinzip der weiteren Tonfolgen kann man herausfinden, wenn man die Abfolge der ersten 5 Töne (1-2-3-4-5) mehrmals hintereinander aufschreibt und aus diesen Fünferfolgen der Reihe nach Folgen von vier Zahlen herausgreift:

1-2-3-4 5-1-2-3 4-5-1-2 3-4-5-1

So sind aus 4 Zahlen (die für 4 Tönen) zunächst ein viertöniges Motiv und dann eine Viererfolge viertöniger Motive entstanden. Im Hörspiel wird dies dadurch markiert, daß Sprechstimmen und Geräusche eingesetzt werden:

(Stimme 1:) Warum zählen wir? - (Geräusch: ein Schuß)

(Stimme 2:) So steht es im Drehbuch. - (Geräusch. ein Schuß)

Drei weitere Viererfolgen viertöniger Motive sind aus der ersten Vierergruppe abgeleitet: Sie beginnen mit deren zweitem bzw. drittem bzw. viertem Ton:

2-3-4-5 1-2-3-4 5-1-2-3 4-5-1-2

3-4-5-1 2-3-4-5 1-2-3-4 5-1-2-3

4-5-1-2 3-4-5-1 2-3-4-5 (1-2-3-4)

Es ergibt sich ein Schema, in dem jeweils vier Viertonmotive sich zu einem Abschnitt gruppieren und in dem vier Abschnitte eine Formeinheit noch höherer Ordnung, einen Teil bilden. Jeder Abschnitt geht aus von einem Ausgangsmotiv, das anschließend variiert wird. Die Abfolge der Abschnitte ergibt sich daraus, daß ihre Ausgangsmotive in derselben Tonfolge aufsteigen wie die Töne des ersten Motivs:

1-2-3-4

2-3-4-5

3-4-5-1

4-5-1-2

Wenn man das vollständige Ablaufsschema aufschreibt, kann man feststellen, daß mit der 16.Viertongruppe der Prozeß zu Ende sein könnte, da hier wieder die ursprüngliche Tonfolge 1-2-3-4 erreicht ist. Dies wollte Tom Johnson offensichtlich vermeiden. Deswegen suchte und fand er eine Lösung, nach der zwar der erste Teil, aber nicht das gesamte Stück zu Ende kam: Nach der Ansage der 15. Viertongruppe scheint ein Fehler zu passieren; die zweite Sprechstimme wiederholt die Zahlenansage 15, und anschließend wird (erstmals im Stück) die unmittelbar zuvor gehörte Tonfolge wiederholt. Im Dialog wird die "falsche" wiederholte Zahlenansage, der scheinbare Fehler als Regel höherer Ordnung erklärt:

(Stimme 1:) Das hätte sechzehn sein müssen, denn fünfzehn habe ich schon gesagt. - Schuß -

(Stimme 2:) Doch. Am Ende von jedem der acht Teile geht es immer so...

Die Regularität der Abweichung erkennt man nicht unmittelbar beim Hören, weswegen sie im Hörspieltext wohl auch unkommentiert bleibt. Wenn man allerdings die Tonfolgen beim Hören mitprotokolliert (u. U. durch mehrfaches Abhören einer Aufnahme), kann durch spätere Analyse dieses Hörprotokolls womöglich herausfinden, was sich durch einen Blick in die Partitur wohl wesentlich rascher erschließt: Die Wiederholung der Tonfolge hat einen strukturellen Grund. Man kommt diesem Grund auf die Spur, wenn man prüft, mit welchen Viertongruppen es anschließend zu Beginn des zweiten Teiles weitergeht:

2-3-4-5 6-2-3-4 5-6-2-3 4-5-6-2

Es beginnt wieder mit einer aufsteigenden Tonfolge; zu Beginn des zweiten Teils (2-3-4-5) setzt sie um eine Tonleiterstufe höher ein als zu Beginn des ersten Teiles (1-2-3-4). Dabei kommt ein neuer höchster Ton als Ton 6 (es2) ins Spiel, während der tiefste Ton des 1. Teils, der Ton 1 (fis1), ausfällt. Die Signale verlagern sich also in eine etwas höhere Tonlage. (Der erste, tiefere Motivton eröffnet den ersten Teil in tiefster Lage; der zweite, etwas höhere Motivton wird zum Ausgangston des zweiten Teils in etwas höherer Lage: Die Ordnung der Details wirkt sich aus auf die Ordnung größerer Zusammenhänge - im Sinne eines Strukturalismus, den wir aus der Rhythmusmusik des jungen Cage und, in der Übertragung auf die Sprache, aus seiner bereits erwähnten "Lecture on Nothing" kennen.) Man kann es auch anders formulieren: Die Tonfolge 2-3-4-5 wird umgedeutet zu einer neuen Ausgangstonfolge 1-2-3-4, die dann anschließend zum Ausgangspunkt neuer Motivverwandlungen wird. Und genau diese Umdeutung hat Johnson zuvor dadurch sinnfällig gemacht, daß er nach der Tonfolge 15 (2-3-4-5) nochmals dieselbe Tonfolge bringt: Es sind dieselben Töne, aber jetzt als Ankündigung der Umdeutung in eine neue Zahlenfolge, nämlich in die (der bis dahin geltenden Regel gemäß) erwartete Gruppe (1-2-3-4)!

4 Töne bilden eine Tongruppe; 4 Tongruppen bilden einen Abschnitt; 4 Abschnitt bilden einen Teil; in entsprechender Weise bilden 4 Teile als zusammengehörige, durch einen charakteristischen Formprozeß zusammengehaltene wiederum höhere formale Einheit. Die Abfolge der 4 Teile erscheint insofern plausibel, als das Ausgangsmotiv, aus dem alle (in demselben Teil) folgenden Motive abgeleitet sind, von Teil zu Teil zum eine Tonleiterstufe höher rückt:

1-2-3-4

2-3-4-5

3-4-5-6

4-5-6-7

Der Übergang von Abschnitten zu Teilen erfolgt also nach dem gleichen Schema wie der Übergang von Tönen zu Abschnitten.

Auch nach dem vierten Teil gibt es wieder - in analoger Weise wie nach dem vierten Abschnitt (und weiterhin nach jeweils 4 Abschnitten) und nach dem vierten Motiv (und weiterhin nach jeweils 4 Motiven) - eine strukturelle Veränderung. Im Sprechtext wird sie wird sie (im Verlaufe des fünften Teiles) angesprochen, aber nicht genauer erläutert:

(1. Stimme:) Die Trompetenmusik klingt anders.

(2. Stimme:) So geht es in der zweiten Hälfte.

Die wichtigste Veränderung läßt sich leicht heraushören: Nachdem die ersten vier Teile jeweils mit aufsteigenden Trompetenmotiven begonnen hatten, hört man zu Beginn des fünften Teiles ein absteigendes Motiv - und kann dann, wenn man dies wahrgenommen und die Annoncierung "der zweiten Hälfte" durch den Sprecher vernommen hat, erwarten, daß im Stück noch drei weitere Teile folgen, die wiederum mit absteigenden Trompetenmotiven beginnen:

8-7-6-5

7-6-5-4

6-5-4-3

5-4-3-2

Nicht nur die Abfolge der Töne folgt einer relativ leicht heraushörbaren strukturellen Regel, sondern auch die Intervallstruktur der Skala, die sich aus ihrer Abfolge bildet. Das Baugesetz dieser Skala läßt sich schon aus den ersten Tönen ablesen. Es ist der regelmäßige Wechsel zwischen zwei verschiedenen Intervallen:

Ein Halbtonschritt aufwärts - drei Halbtonschritte (eine kleine Terz) aufwärts

Nach dieser Intervallfolge ist eine von fis1 ausgehende Skala gebildet. Diese Skala findet sich, wie ziemlich leicht herauszuhören ist, nicht nur in den Trompetensignalen, sondern auch in den Chorpassagen an den Schlüssen der 8 Teile - im Wechsel von auf- und absteigenden Melodietönen, wie er sich auch in der Abfolge der verschiedenen Trompetenmotive und ihren Verlagerungen im Tonraum bei der Abfolge der 8 Teile des Stückes ergibt. Auch die Begleitstimmen der Chorpassagen sind in sind in relativ leicht heraushörbarer Weise aus der zu Grunde liegenden Skala gebildet.

Beim Anhören dieses Stückes kann man sich immer wieder fragen: Was war hier geplant? Welche Spielregeln kann ich beim Hören entdecken und auf Grund dessen den weiteren Verlauf voraussagen? Diese Höreinstellung ist genau entgegengesetzt zu derjenigen, die oft beim Hören improvisierter Musik angemessen ist und bei der man sich fragen kann: Was geschieht hier jenseits des Planbaren und Voraussehbaren?

Es könnte so scheinen, als seien für Tom Johnson die hörbaren Strukturen Manifestationen mathematisch-logischer Zusammenhänge, die eigentlich gar nicht auf die musikalische Inszenierung angewiesen sind oder die auch in anderer Weise, beispielsweise graphisch konkretisiert werden könnten (wie es ja auch in anderen algorithmischen Kompositionen Johnsons tatsächlich geschieht) - und die gleichwohl ein apartes und abwechslungsreiches Resultat im Wechsel von instrumentaler und vokaler Musik, Sprechtexten und Geräuschen ergeben - bis zum Ende, wenn statt des zäsurbildenden Pistolenschusses plötzlich Maschinengewehrfeuer zu hören ist, bevor der Chor seine letzte, längste und am weitesten auf- und absteigende Amen-Musik singt.

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Das Hörspiel "Signale" und andere Kompositionen Tom Johnsons erscheinen in ihren sich selbst offen legenden Strukturierungen als drastische Kontrastmodelle zu improvisierter Musik. Es liegt nahe zu fragen, ob Vergleichbares auch sich über die "Riemannoper" sagen läßt, in der solche automatischen Strukturierungen nicht so leicht zu erkennen sind. Ist in dieser Oper die kritische und parodistische Verarbeitung von Klischees ebenfalls als streng anti-improvisatorische Strukturkomposition zu verstehen oder läßt sie hier größere improvisatorische Spielräume?

In der vollständigen Oper (nicht in der in Luzern präsentierten verkürzten Fassung) ist von Anfang an relativ leicht herauszuhören, daß auch hier bestimmte Strukturkprinzipien in verschiedenen Dimensionen der musikalischen Formgestaltung wirksam sind. Beispielsweise läßt sich herausfinden, daß die 4 Sänger zu der Einleitungsnummer, einem Quartett, in derselben Reihenfolge mit kürzeren Abschnitten eingeführt werden, in der sie später mit umfangreicheren musikalischen Soli auftreten:

Tenor - Bariton - Primadonna - Primadonna assoluta

Auch in einzelnen Nummern lassen sich auf verschiedenen Ebenen ausgestaltete Strukturprinzipien entdecken. Am deutlichsten wird dies in der ersten Arie des Tenors. Ihr Aufbau ergibt sich aus ihren Titel: Da Capo Aria. Maßgeblich ist das Formschema. Es bestimmt die musikalische Gliederung nicht nur im Gesamtaufbau, sondern auch in den Details: Das Stück gliedert sich in drei Teile, von denen Anfangs- und Schlußteil gleich sind und mit einem einzigen Textwort auskommen: Im Mittelteil gibt es mehr Text (nämlich ausführlichere Lexikon-Erklärungen zum gegebenen Stichwort), aber weniger Musik: Melodie und Begleitung pendeln monoton zwischen zwei Tönen hin und her - allerdings sind es, bei dreimaliger Wiederholung des Textsatzes, wechselnde Töne nach dem Ablaufsschema ABA:

1. Textabschnitt (Tenor A-a, Klavieroberstimme a-a1)

2. Textabschnitt (Tenor a-d, Klavieroberstimme a1-d1)

3. Textabschnitt (wie 1. Textabschnitt)

Im Hauptteil wechseln die Töne etwas rascher, aber auch hier in der für alle Nummern dieser Oper typischen Reduktion. Durch kurze Vor- und Zwischenspiele des Klaviers entstehen drei Abschnitte, die wiederum nach dem Schema ABA miteinander verwandt sind:

1. Musikabschnitt (Singstimme in höherer Lage)

2. Musikabschnitt (Singstimme in tieferer Lage)

3. Musikabschnitt (wie 1. Textabschnitt)

Auch die Abschnitte sind jeweils wieder nach dem ABA-Schema in drei Unterabschnitte gegliedert:

1. Unterabschnitt

2. Unterabschnitt (Tonbewegungen in Gegenbewegung zum 1. Tonabschnitt)

3. Unterabschnitt (wie 1. Unterabschnitt)

Auch die Melodien der Unterstimme sind, in einfachster Weise, nach dem ABA-Prinzip gebildet:

Ein Ton

ein anderer Ton

Rückkehr zum Anfangston

All dies geschieht mit zwei Tönen in verschiedenen Oktavlagen:

1. Teil

d1-a-d1 a1-d1-a1 d1-a-d1 a-d-a d1-a-d1 d1-a-d1 d1-a-d1 a1-d1-a1 d1-a-d1

höhere Lage tiefere Lage tiefere Lage

2. Teil

a-a1-a a1-d1-a1 a-a1-a

weiterer Tonumfang engerer Tonumfang engerer Tonumfang

3. Teil: wie 1. Teil

Das Spiel mit 2 Tönen vollzieht sich hier offensichtlich nicht frei improvisierend, sondern nach genau vorformulierten und auskomponierten Regeln.

Die lexikalischen Erklärungen, die in dieser Oper dem Publikum vorgesungen werden, sind tatsächlich von einer Qualität, der auch eine ausschließlich aus zwei Tönen gebildete Musik gerecht werden kann. Der konstruktiv(isti)sche Aufwand, den Tom Johnson hier mit zwei Tönen schreibt, führt hier zur Darstellung musikologischer Gelehrsamkeit als Groteske.

In einfacherer Weise geschieht dies auch in der ersten Arie des Bariton, die den Titel "Aria di Bravura" führt. Auch hier ergibt sich der Aufbau der Musik in zugleich paradoxer und einleuchtender Weise aus dem Text:

"Durch die Aria di Bravura werden Wut, Rache und Triumph ausgedrückt."

Im ersten Teil dieser skurrilen Arie wird der vollständige Text auf drei Tönen gesungen (A-d-a). Im Folgenden werden einzelne Begriffe herausgelöst und in mehrfachen Wiederholungen gesungen - zunächst pendelnd zwischen zwei verschiedenen Tönen (a-d1), dann abschließend mit vier Tönen (A-d-a-d1). So ergibt sich eine variierte dreiteilige Form mit im Tonvorrat erweitertem (allerdings etwas kürzerem) Schlußteil:

Teil A (mit 2taktigem Vorspiel) Teil B Teil A´ (mit 2taktigem Nachspiel)

3 Gesangstöne 2 Gesangstöne 4 Gesangstöne

Dieser dreiteilige Ablauf wird drei Mal vorgetragen, wobei jedes Mal das (einzige) Textwort im Mittelteil wechselt. Für jedes der drei in der Erklärung genannten Gefühlswörter (Wut - Rache - Triumph) gibt es eine Strophe, und anschließend wird der Schlußteil in leicht veränderter und erweiterter Form nochmals als Coda gebracht. Die groteske Wirkung dieses Verfahrens tritt besonders deutlich im Mittelteil hervor, in dem, getrennt durch kurze Tonakzente des Klaviers, unaufhörlich das Schlüsselwort auf zwei Pendeltönen gesungen wird - in 9 Gruppen, mit zunehmender Anzahl der Wiederholungen bis hin zu 9 Exklamationen in der abschließenden Gruppe:

1mal - 2mal - 3mal - 4mal - 5mal - 6mal - 7mal - 8mal - 9mal (also insgesamt 45mal)

Die hier verwendeten Verfahren stehen improvisatorischen Techniken, der hemmungslosen Übertreibung einer Stegreif-Parodie nicht völlig fern. Auch dies trägt dazu bei, daß diese Nummer sich deutlich von den sie umgebenden abhebt. Ihr folgt, erstmals in der Oper, das "Leitmotiv", das drei Sänger (die beiden Frauenstimmen und der Tenor) dreimal nacheinander auf zwei Tönen anstimmen (einem hohen d und einem zwei Oktavräume tieferen a), während die vierte Stimme, der Bariton, auf einem einzigen Ton (dem tiefen a) ergänzende Erklärungen abgibt. Auch diese Nummer ist, wie die ihr vorausgehende Arie, leicht und locker gefügt und verzichtet weitgehend auf genauere kompositorische Strukturierung.

Anders gebaut ist die erste Arie der Primadonna mit dem Titelwort "Sortita" - gleichsam als Rondo in zwei Strophen: Das Hauptthema des Rondos besteht aus fortwährenden Wiederholungen des Titelwortes, das auf zwei verschiedenen Tönen gesungen wird (einem d und einem benachbarten, höheren oder tieferen, a - bald von d, bald von a ausgehend). Zwischen diesen Themeneinsätzen stehen gesungene Erklärungen, die auf einem einzigen Ton (d oder a) gesungen werden. Diese Tonstruktur ist, wie es scheint, an Einfachheit kaum noch zu übertreffen. Dennoch läßt sich beim Studium der Partitur (wohl kaum beim Hören) herausfinden, daß ihr eine für Johnson typische Tonstruktur zu Grunde liegt, und zwar folgende Abfolge der Gesangstöne:

a-d1-a1-d2-a1-d1-a-d1

Dies sind 8 Töne, von denen die letzten beiden mit den ersten beiden identisch sind. Es lassen sich also 6 verschiedene Töne unterscheiden:

1 2 3 4 5 6 1 2

Dies sind die Töne, auf denen der erste Einsatz des "Rondothemas" gesungen wird. Die folgenden Einsätze setzen jeweils auf einem späteren Ton der Abfolge ein - zunächst auf dem zweiten, in den folgenden Durchgängen auf dem dritten, vierten, fünften und sechstenTon; dann bricht die Reihung ab, weil als nächstes keine neue Konstellation, sondern nur noch eine Wiederholung der ersten Konstellation zu erwarten wäre:

1 2 3 4 5 6 1 2

2 3 4 5 6 1 2 3

3 4 5 6 1 2 3 4

4 5 6 1 2 3 4 5

5 6 1 2 3 4 5 6

6 1 2 3 4 5 6 1

Insgesamt gibt es, da dieses Ablaufsschema zweimal nacheinander gebracht wird, in diesem Stück 12, durch kommentierende Einton-Interludien unterbrochene, "Rondothemen", in denen das Titelwort besungen wird: Die Tonstruktur generiert den Eindruck scheinbar endloser, absichtsvoll sinnloser Wiederholung.

Die erste Nummer, die von der Primadonna assoluta gesungen wird, ist ein (unmittelbar an das vorausgegangene Rezitativ anschließendes) Arioso. Es ist die erste geschlossene Nummer, in der auch andere Töne als die Haupttöne d und a gesungen werden dürfen - nämlich verschiedene Töne der A-Dur-Tonleiter, deren Grundton a einer der beiden Haupttöne ist und zugleich den Anfangsbuchstaben des hier besungenen Begriffes darstellt. Johnson schreibt hier eine einfache Gesangs-Tonfolge mit arpeggierender Begleitung auf und gibt anschließend folgende Anweisung:

"Ungefähr zehn Mal zu wiederholen mit Variationen ausgewählt von der Sängerin."

Auffallend ist, daß Johnson hier einerseits darauf verzichtet, der Sängerin völlige improvisatorische Freiheit zu geben (und ihr statt dessen lediglich mehrere ausnotierte Varianten zur Wahl stellt), während andererseits die 18 Varianten, die er notiert hat, kein systematisches Variationsprinzip erkennen lassen und eher als ungefilterte Zitate traditioneller Koloratur-Klischees erscheinen. (Diese Pseudo-Zitattechnik imaginärer Gesangsübungen unterscheidet sich also grundlegend von Modellen struktureller Variation, wie sie sich etwa in Kagels "Staatstheater" studieren ließen.) -

Die genannten und andere Beispiele aus dieser Komposition können belegen, daß in der kompositorischen Auseinandersetzung mit musikalischen Klischees grundsätzlich andere Lösungen denkbar sind als in der Improvisation - auch dann, wenn improvisatorische Elemente gelegentlich in die Komposition einbezogen sind. Auch in diesem Beispiel wird deutlich, daß Tendenzen der strukturell-antiimprovisatorischen Komposition, wie sie in der Musik des 20. Jahrhunderts spätestens seit der Etablierung der Zwölftontechnik eine wichtige Rolle spielen, über diesen Bereich und seine Weiterentwicklung in der seriellen und stochastischen Komposition hinaus eine wesentliche Rolle auch in der minimal music spielen, in der strukturelles kompositorisches Denken, anders als etwa im spontaneistischen Komponieren Wolfgang Rihms, nicht aufgegeben, sondern nur in neue Zusammenhänge zum Höreindruck gebracht worden ist (auf der Suche nach neuen Affinitäten zwischen Form und Struktur, wie sie in anderer Weise seit den siebziger Jahren auch in der Rhythmusmusik von Iannis Xenakis und in den Formelkompositionen von Iannis Xenakis sich ergeben haben). So finden sich auch in der minimal music Belege dafür, daß Komposition und Improvisation, die in den fünfziger und vor allem in den sechziger sich wesentlich annäherten, sich seit den siebziger Jahren wieder stärker voneinander entfernt haben. Um so wichtiger könnten Versuche erscheinen, in intensiver analytischer und musiktheoretischer Auseinandersetzung mit beiden Bereichen den Tendenzen der zunehmenden Entfernung und Entfremdung beider Bereicher zumindest ansatzweise entgegenzuwirken - sei es auch nur in der Beschreibung beziehungsreicher Kontraste.

Schlußbemerkung

Höranalyse und Improvisation sind in der musikwissenschaftlichen Arbeit bis heute weitgehend unbewältigte Probleme geblieben. Der Versuch, beide Stichworte aufeinander zu beziehen, kann einerseits zur Vervielfachung der ohnehin bestehenden Schwierigkeiten führen, andererseits aber auch zu neuen, unkonventionelle Lösungsansätze herausfordernden Fragestellungen. Die auf der Luzerner Improvisationstagung gesammelten Erfahrungen könnten dafür sprechen, in einer Folgeveranstaltung nicht nur die Konzerte in Aufnahmen dokumentarisch festzuhalten und, gestützt auf diese Aufnahmen, auszuwerten, sondern auch die diese Konzerte begleitenden Diskussionen zwischen Musikwissenschaftlern, ausübenden Musikern und Zuhörern (die ihrerseits selbst auch oft ausübende Musiker und insbesondere Improvisatoren sind). Vielleicht könnte dies dazu beitragen, in der musikalischen Diskussion die Isolierung der individuellen Standpunkte zu überwinden und Genaueres über differenziertere Prozesse musikalischer Kommunikation zu erfahren.

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