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Rudolf Frisius

Fixiertes und nicht Fixiertes: diesseits und jenseits des Klischees?

Die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts unter neuen Perspektiven:

Komposition und Improvisation -

Fixiertes und nicht Fixiertes - Auseinandersetzung mit Klischees

Es gibt Jahrhunderte, deren Musikentwicklung sich aus der Perspektive bestimmter Begriffe darstellen läßt. Es gibt Begriffe, die sich in besonderer Weise dazu eignen, wichtige Spezifika einer Musikepoche zu bezeichnen - unabhängig davon, ob die mit ihnen gekennzeichnete Perspektive die einzig mögliche ist oder nur eine von verschiedenen Möglichkeiten darstellt. Hierfür ist nicht einmal unbedingt notwendig, daß solche Begriffe exklusiv für die betreffende Epoche gelten; es kann beispielsweise auch genügen, daß diese Begriffe in der betreffenden Epoche einen wesentlichen Bedeutungswandel erfahren.

Man kann die Frage aufwerfen, ob und in welcher Weise sich wesentliche Charakteristika der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts beschreiben lassen unter der Perspektive der Begriffe "Komposition" und "Improvisation" (und damit beispielsweise auch unter den Aspekten einer Dialektik des Fixierten und Nicht-Fixierten und der Respektierung oder Außerkraftsetzung von Klischees). Wenn man nach positiven Antworten sucht, hat man sich mit der Schwierigkeit auseinanderzusetzen, daß die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bis heute meistens unter ganz anderen Gesichtspunkten beschrieben worden ist. Wenn man versucht, es anders zu machen, muß man also bereit sein, sich von vielen weit verbreiteten Vorstellungen zu lösen; vielleicht ergibt sich damit aber auch die Chance, Einsichten zu gewinnen, die auf anderen Wegen vielleicht nur erheblich schwieriger oder gar nicht zu erreichen wären.

Vieles spricht für den Versuch, die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts zu beschreiben aus einer bisher nur wenig beachteten Perspektive - aus der Perspektive radikaler Veränderungen in den Bereichen der Komposition und der Improvisation und im Verhältnis beider Bereiche zueinander. Der Versuch, beide Begriffe zu bestimmen, abzugrenzen und aufeinander zu beziehen, könnte ein Licht werfen auf wichtige musikalische und musikübergreifende Einsichten, die in dieser Form wahrscheinlich in früheren Jahrhunderten noch nicht gewonnen werden konnten.

Komposition und Improvisation - Fixiertes und nicht Fixiertes

Wie radikal die Musik und das Musikverständnis sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert haben, kann man sich klar machen am Beispiel der Begriffe "Komposition" und "Improvisation". Beide Begriffe haben sich in diesem Jahrhundert grundlegend verändert, und dies hat sich auch ausgewirkt auf ihre Abgrenzung und auf ihr Verhältnis zueinander.

Im traditionellen Musikverständnis erschien es selbstverständlich, beide Begriffe einzuschränken auf den Bereich der abendländischen Musikentwicklung. In diesem Bereich schienen ihre Definition und ihre Abgrenzung relativ einfach zu sein: Komposition ließ sich beschreiben als Fixierung neu erfundener Musik in der überlieferten abendländischen Notenschrift, Improvisation hingegen als Musikerfindung in engster Verbindung mit der musikalischen Aufführung (im einfachsten Falle als spontane Musikerfindung im Moment der Aufführung). In dieser Unterscheidung war festgelegt, daß die im voraus, d. h. vor der Aufführung erfolgende Notation für die Komposition konstitutiv ist, während andererseits Improvisation nicht in vergleichbarer Weise im voraus notiert ist. Daraus ergibt sich, daß in dieser Weise komponierte Musik als schriftlich fixierter Text analysierbar ist, während es zu improvisierter Musik in den allermeisten Fällen kein in vergleichbarer Weise notiertes und analysierbares Substrat gibt. Natürlich kann man sich die Möglichkeit vorstellen, daß eine traditionelle Improvisation nachträglich in der überlieferten Notenschrift fixiert wird. Denkbar wäre sogar, daß ein so entstandener Notentext in ähnlicher Weise analysiert wird wie die Partitur einer Komposition. Nicht jeder Leser eines solchen Notentextes wird ohne zusätzliche Informationen in jedem Falle gleich erkennen, daß es sich um eine nachträglich notierte Improvisation handelt und nicht um eine Komposition. (Aus neuerer Zeit kennen wir vergleichbare Probleme aus Diskussionen über Musikstücke von Giacinto Scelsi, bei denen umstritten ist, ob es sich um Kompositionen im traditionellen Sinne handelt oder um nachträglich notierte Improvisationen.) Dennoch spricht vieles für die Annahme, daß die Unterscheidung zwischen Komposition und Improvisation sich in traditioneller Musik häufig leichter machen läßt als in bestimmten Bereichen der Musik des 20. Jahrhunderts. In der traditionellen abendländischen Musik ließen sich Komponiertes und Improvisiertes in der Regel nicht weniger klar voneinander abgrenzen als im voraus aufgeschriebene von spontanen sprachlichen Äußerungen. Wenn wir jemanden sprechen hören, können wir in den meisten Fällen klar heraushören, ob ein schriftlich fixierter Text vorgetragen oder frei gesprochen wird; in der traditionellen abendländischen Musik ist eine vergleichbare Unterscheidung weniger einfach, aber gleichwohl läßt sie sich in vielen Fällen mit relativ großer Sicherheit vornehmen. Dennoch ist die Auseinandersetzung mit improvisierter Musik viel schwieriger als die Auseinandersetzung mit improvisierter Sprache - zumindest dann, wenn man an traditionellen, aus dem Umgang mit schriftlichen Texten entwickelten Analysemethoden festzuhalten versucht; denn gehörte Musik läßt sich in der Regel nicht so leicht schriftlich protokollieren wie gehörte Sprache, die man ja beispielsweise in einer standardisierten Stenographie zu fixieren versuchen kann. Erst in neuerer Zeit beginnen wir zu lernen, daß dann eine andere Situation sich ergeben kann, wenn wir Musik oder Sprache nicht nur in schriftlicher Fixierung studieren (sei sie im voraus vorgegeben oder nachträglich erfolgt), sondern auch in technischer Verbreitung und Speicherung. Im Zeitalter der technische Reproduzierbarkeit ist deutlich geworden, daß nicht nur Kompositionen fixierbar sind, sondern auch Improvisationen - wobei sich allerdings neue Probleme ergeben können im Vergleich zwischen dem Hören einer Aufführung und dem Hören ihrer technischen Übermittlung oder Reproduktion. Komponiertes und Improvisiertes, Fixiertes und nicht Fixiertes können so in neue Konstellationen geraten.

evtl. Hörbeispiele O-Ton: Weekend, Der Tribun, Ein Aufnahmezustand, Innen

In traditionellen Verständnis, das von den neuartigen Bedingungen der Musikübermittlung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und Produzierbarkeit absieht, scheint die Unterscheidung zwischen Komposition und Improvisation relativ einfach zu sein: Komponiert ist eine Musik, die im voraus, vor ihrer klanglichen Realisierung, aufgeschrieben worden ist und deren Aufführung nach den Kriterien des vorgegebenen Notentextes beurteilt werden kann. Improvisiert ist eine Musik, zu der es keine Notation gibt, die in vergleichbarer Präzision im voraus notiert worden wäre. Man könnte versuchen, den Unterschied noch einfacher zu beschreiben und zu sagen: Im traditionellen Verständnis unterscheiden sich Komposition und Improvisation wie Fixiertes und nicht Fixiertes. Diese Vereinfachung scheint den Sachverhalt noch weiter zu verdeutlichen. Sie läßt allerdings auch um so klarer erkennen, daß eine solche Unterscheidung nicht ganz unproblematisch ist; sie wird der vielschichtigen Komplexität der hier anstehenden Probleme nicht im erforderlichen Ausmaße gerecht.

Schwierige Fragen und Probleme ergeben sich daraus, daß Fixiertes und nicht Fixiertes in allzu einfacher Weise definiert sind: Das Fixierte wird in der vereinfachten Beschreibung ohne weiteres gleichgesetzt mit dem schriftlich Fixierten. Das Sichtbare wird so zum Kriterium des Hörbaren und seiner Differenzierungen. Dabei wird zunächst nicht hinreichend gründlich geprüft, was diese Fixierung bedeutet, welche Möglichkeiten sich durch sie eröffnen und welche Grenzen ihr gesetzt sind.

Zu beachten ist, daß die traditionelle Notation das Klangbild der Musik nicht in allen konkret hörbaren Einzelheiten fixiert, sondern nur einzelne, als vorrangig angesehene Aspekte in einer weitgehend abstrahierten Form. Notiert werden in erster Linie, mit Grundzeichen, feste Tonhöhen und ihnen zugeordnete Zeitwerte sowie in zweiter Linie, mit Zusatzzeichen, Details der Lautstärkebestimmung, der Artikulation und der Klangfarbe. Die Konventionen der traditionellen Notation haben sich im Laufe eines langen und komplizierten historischen Prozesses bis in das 20. Jahrhundert hinein weiter entwickelt in der Tendenz einer zunehmenden Präzisierung.

Der Versuch, Hörbares (die Musik) als Sichtbares (eine geschriebene Notation) zu fixieren, kann allerdings an Grenzen stoßen gerade dann, wenn er sich um immer größere Präzision bemüht. In älterer Musik wird dieses Problem noch nicht so deutlich, so lange Einigkeit darüber besteht, daß nur die exakt notierten Merkmale als primäre Eigenschaften für das betreffende Musikstück wesentlich sind, während die weniger exakt notierten Merkmale als sekundäre Eigenschaften teils abhängig von den primären Eigenschaften bestimmt werden sollen, teils den Interpreten gewisse Spielräume für individuell unterschiedliche Interpretationen belassen. Je genauer der Komponist das klangliche Ergebnis im voraus zu fixieren versucht, desto deutlicher können ihm die Grenzen der traditionellen Tradition werden. Dies ist in einer Entwicklung deutlich geworden, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts so weit führte, daß Komponisten elektroakustischer Musik die Aufgabe der klanglichen Realisation mit übernahmen, daß also die überlieferte Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret aufgehoben wurde.

Spätestens in diesem Entwicklungsstadium drängten sich dann aber auch Fragen auf, die in eine ganz andere Richtung führen sollten: Wenn wichtige Funktionen des ausführenden Musikers durch die moderne Technik überflüssig zu werden drohten, dann stellte sich die Frage, ob man, anstatt den Interpreten abzuschaffen, ihm nicht auch neue Aufgaben zuweisen konnte, die sich auch in der Konkurrenz oder sogar in der Verbindung mit der elektroakustischen Musik behaupten konnten. Gerade im Kontrast mit der exakt fixierenden Tonbandmusik konnte deutlich werden, wie wichtig nach wie vor die Funktion des spontan reagierenden Interpreten werden konnte, wenn man ihm geeignete neue Aufgaben zuwies. Die Komponisten entdeckten aufs neue, was schon ihre Vorgänger in früheren Zeiten gewußt hatten: Eine notierte Vorlage muß nicht in allen Einzelheiten auf größtmögliche Fixierung ausgerichtet sein; sie kann ihre Qualitäten auch daran beweisen, daß sie Interpreten zu interessanten, mehr oder weniger freien und spontanen Entscheidungen anregt. Je stärker dies der Fall ist, um so fragwürdiger wird dann auch die starre Abgrenzung der fixierten Komposition von der nicht fixierten Interpretation oder sogar Improvisation.

evtl. Elektroakustische Musik:

Etude aux chemins de fer (typische Studioproduktion: Montage)

(dagegen u. U. Musik mit improvisatorischen Elementen: Concertino Diapason, Jazz et Jazz)

Studie I

Der Begriff "Improvisation" ist dem Wortsinne nach abgeleitet aus dem lateinischen "improvisus", was "unvorhersehbar" bedeutet. "Unvorhersehbare" Musik kann beispielsweise dann entstehen, wenn sie im Moment der Aufführung von dem oder den ausführenden Musikern erfunden wird; dies wäre die Aufführungssituation, die nach traditionellem Verständnis als prototypisch für die Improvisation angesehen werden kann. Man sollte aber nicht vergessen, daß auch im Bereich der Improvisation solche Situationen der völligen Spontaneität und Unvorhersehbarkeit eher Extremfälle darstellen. Ebenso wie es Elemente des nicht Fixierten in Kompositionen und musikalischen Interpretationen gibt, gibt es andererseits auch Elemente des Fixierten im Bereich der Improvisation. Sie können beispielsweise darin bestehen, daß jemand nach einem vorgegebenen, z. B. in Noten aufgeschriebenen Thema improvisiert, daß er standardisierte Tonleitern oder Rhythmen verwendet oder sich nach im voraus festgelegten, z. B. mit anderen Musikern vereinbarten oder auf andere Musiker ausgerichteten Stilkonventionen oder formalen Ablaufmustern richtet.

(Un)voraussehbarkeit - (Un)erwartbarkeit

Die eben genannten Beispiele zeigen, daß der Begriff der Improvisation im engsten Wortsinne des Unvorhersehbaren hier eigentlich zu eng ist: Er bindet sich zu eng an das Sichtbare, wie es in der traditionellen Musik vor allem in den Notationen komponierter Musik eine dominierende Rolle spielt. Voraussehbarkeit im engsten Sinne wäre die Möglichkeit, sich in einer Aufführung künftige Klänge vorzustellen auf Grund einer im voraus existierenden, mehr oder weniger exakten Notation: Man sieht im voraus eine Notation, der dann später die real erklingenden Klänge dann tatsächlich folgen. Damit ist aber nur ein Sonderfall dessen beschrieben, was Fixierung in den Bereichen von Komposition, Interpretation und Improvisation leisten kann. Um ein breiteres Spektrum abzudecken, empfiehlt es sich, einen weiter gefaßten Begriff zu verwenden: Den Begriff der "Unerwartbarkeit".

"Unvorsehbarkeit" und "Unerwartbarkeit" sind relative Begriffe. Nur bedingt eignen sie sich als radikale Antithesen gegen die Beschreibung einer Komposition, deren klangliches Ergebnis bei einer Aufführung als weitgehend "vorhersehbar" und "erwartbar" bezeichnet wird. Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit, Erwartbarkeit und Unerwartbarkeit kann man in der Regel nur unter bestimmten Aspekten konstatieren. Unvorhergesehenes, Unerwartbares kann sich nicht nur in einer Improvisation ergeben, sondern auch beispielsweise in einer Interpretation notierter Musik - allerdings unter anderen Aspekten. Besonders aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen wir viele Musikstücke, zu denen es einerseits schriftliche Vorlagen gibt, wie man sie bei einer Komposition erwartet, in denen aber andererseits die Notation dem Ausführenden beträchtliche Gestaltungsspielräume gibt, die Gelegenheit auch zu improvisatorischen Verfahren bieten können. Wichtige Aspekte der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts lassen sich beschreiben unter dem Aspekt der Veränderung des Verhältnisses nicht nur zwischen Fixiertem und nicht Fixiertem, sondern auch zwischen Vorhersehbarem und Unvorhersehbarem, zwischen Erwartbarem und Unerwartbarem.

Credo in US (Schlagzeug erwartbar, Plattenspieler und Radio nicht erwartbar außer Rhy, Dyn)

evtl. (falls nicht schon früher) Concertino Diapason, Jazz et Jazz

Wandlungen der Musiksprache: Diesseits und jenseits der KLISCHEES

Wenn man versucht, Komponiertes und Improvisiertes, Fixiertes und nicht Fixiertes voneinander zu unterscheiden, stellt sich die schwierige Frage der Unterscheidungskriterien. Vieles spricht für die Annahme, daß einigermaßen sichere Unterscheidungen nur dann möglich sind, wenn sie auf ein mehr oder weniger präzise bestimmtes musikalisches Vorwissen bezogen sind. Man kann es auch anders ausdrücken: Die Frage stellt sich, ob und inwieweit die Präzisierung dieser Unterscheidungen abhängig von (bewußten oder unbewußten, mehr oder weniger bestimmten oder unbestimmten) Beziehungen auf eine bestimmte Musiksprache.

Wie schwierig diese Frage zu klären und zu beantworten ist, zeigt sich schon an der Komplexität des Begriffes "Musiksprache". Er ist umstritten wie kaum ein anderer musikalischer Begriff. Gestritten wird selbst darüber, ob es diesem Begriff entsprechende Sachverhalte überhaupt gibt. Wohl zeigt die Erfahrung, daß sich in vielfältigen Zusammenhängen und auf höchst unterschiedliche Weisen Musik mit Sprache verbinden läßt - daß also das Thema "Musik und Sprache" zweifellos relevant ist und intensivere Aufmerksamkeit verdient. Anders bestellt ist es um das Thema "Musik als Sprache": Die in dieser Formulierung enthaltene Formulierung, daß es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Musik und Sprache gibt und daß die Musik selbst (in einem noch genauer zu bestimmenden Sinne) eine Art Sprache ist, wird keineswegs allgemein anerkannt.

Wenn man vom traditionellen Musikverständnis und von der traditionellen Musiktheorie ausgeht, könnte man meinen, daß vieles für einen genaueren Strukturvergleich zwischen Musik und Sprache spricht: Im traditionellen und populären Verständnis stellt man sich Musik ähnlich vor wie die Sprache - und zwar weitgehend unabhängig davon, ob man an Gehörtes oder Gelesenes denkt: Der gehörte oder notierte Ton scheint als Grundelement eine ähnliche Funktion zu erfüllen wie der gehörte Sprachlaut oder der gelesene Buchstabe - als kleinste Einheit, aus der sich durch Gruppierungen auf verschiedenen Ebenen Einheiten höherer Ordnung bilden lassen; die Annahme galt als unproblematisch, daß sich beim Strukturvergleich zwischen Musik und Sprache musikalische Äquivalente finden lassen zu den sprachlichen Struktureinheiten nicht nur des einzelnen Lautes oder Buchstabens, sondern auch zu Silben, Wörtern, Sätzen und Satzgruppen verschiedener Ordnung. Die traditionelle musikalische Formenlehre lehnte sich offensichtlich an die traditionelle Sprachlehre an, wenn sie Gliederungseinheiten wie Motiv und Phrase, Satz und Periode annahm. Während die musikalischen Detailgestaltung vor allem der klassischen und romantischen Musik nach Modellen von Grammatik und Syntax beschrieben wurde, schienen für größere musikalische Zusammenhänge Analogiebegriffe zur traditionellen Rhetorik sinnvoll (vor allem in barocker Vokalmusik und in mit ihr vergleichbaren Formgestaltungen der Instrumentalmusik).

Viele Charakteristika traditioneller abendländischer Musik lassen sich genauer beschreiben im Strukturvergleich zwischen Musik und Sprache. Bei genauerer Prüfung kann allerdings auch deutlich werden, daß diesem Vergleich Grenzen gesetzt sind und daß die Grundannahmen über die Struktur von Musik und Sprache, die ihm zu Grunde liegen, in beiden Bereichen keineswegs unanfechtbar sind: Es kann nicht befriedigen, wenn man Sprache ausschließlich als Resultat der Aneinanderreihung von Lauten und Lautkombinationen versteht - oder Musik als Resultat der Gruppierung von Tönen. Dies kann besonders im Bereich der Musik deutlich werden, wenn man nach Beispielen sucht, in denen ein solches Musikverständnis gleichsam auf die Probe gestellt wird.

Henry: Vocalises (evtl. zuvor isoliertes gesungenes a, aus Tb. Soirée Schaeffer)

(Stück aus CD Henry Les années 50)

Eine der ersten Tonbandkompositionen, die Pierre Henry im Jahre 1951 realisierte, ist eine Mikromontage, die aus einem einzigen Stimmlaut hergestellt wurde - aus einem gesungenen a. Diesen Gesangston hat Henry mit einer Transpositionsmaschine auf verschiedene Tonhöhen versetzt, so daß er entweder - in Zeitlupe - tiefer und länger ausgehalten klan oder - im Zeitraffer - höher und schneller. In diesem Stück sind also tatsächlich einzelne Töne aneinandergesetzt: komponiert im Wortsinne, im Studio geschnitten und aneinander geklebt. So wird deutlich, wie eine Musik klingen kann, die tatsächlich so, wie es häufig im traditionellen Musikverständnis und in traditioneller Musiktheorie angenommen wird, aus der Aneinanderreihung von Tönen entsteht: Was auf diese Weise entsteht, ist alles andere als traditionelle Musik. Es ergibt sich vielmehr ein synthetisches Kunstprodukt, das sich von gesungener oder gespielter Musik nicht weniger deutlich unterscheidet als eine im Studio produzierte Lautmontage von geprochener Sprache. Wenn man künstlich zusammenmontierte Stimmlaute anhört, kann man sich also deutlich machen, wie künstlich eigentlich traditionelle Beschreibungsmodelle von Sprache und Musik sind, die von kleinsten Bestandteilen und deren Auseinanderreihungen ausgehen. Es wird also deutlich, daß diese Beschreibungsmodelle, die das Denken vieler Generationen geprägt haben, eigentlich nur grobe und sachlich problematische Vereinfachungen sind. Man kann dies übrigens auch dann einsehen, wenn man beispielsweise synthetisch produzierte Musik hört, in der Stimmlaute, Wörter oder Sätze künstlich gereiht, zerlegt oder technisch manipuliert werden.

evtl. Beispiele: Lucier, I am sitting in a room (umzuschneiden von LP auf Kassette oder DAT)

Dodge, I am sitting in the cafeteria (speech songs)

Bayle, It

Im allgemeinen Bewußtsein ebenso wie in der konventionellen, bis in die heutige Ausbildung hineinwirkenden Theorie ist bis heute noch nicht hinreichend deutlich geworden, daß die Beschreibung der Musik als Tonkunst, als Kunst der gruppierten Töne, eigentlich unzureichend und unangemessen ist - in ähnlicher Weise, wie es die Beschreibung der Sprache als Reihung von Sprachlauten oder Buchstaben wäre. Das Unzulängliche dieser Beschreibungsweisen wäre im allgemeinen Bewußtsein heute sicher schon stärker verankert als es tatsächlich ist, wenn sich schon stärker die Einsicht durchgesetzt hätte, daß Musik und Sprache heute, im Zeitalter der technisch reproduzierbaren und produzierbaren Klänge, stärker aus der Perspektive realer klanglicher Erfahrung beschrieben werden müssen als aus der Perspektive eines schriftlich fixierten Textes. Wenn dies geschehen wäre, wüßten wir wahrscheinlich heute schon wesentlich mehr über die vielfältigen Möglichkeiten des Hörens und Verstehens von Klängen - und mehr wohl auch über die Improvisation, die Möglichkeiten ihrer Produktion und Rezeption, ihrer Erfindung und Wahrnehmung.

Wenn wir mit aus der Tradition übernommenen Begriffen über Komposition und Improvisation, über Fixiertes und nicht Fixiertes, über Musik und Sprache oder über Musik als Sprache sprechen, dann müssen wir uns bewußt sein, wie leicht es geschehen kann, daß wir mit einem unangemessenen begrifflichen und gedanklichen Instrumentarium nicht den richtigen Zugang zu diesen Phänomenen finden. Dennoch kann es sinnvoll erscheinen, in einer gründlichen Prüfung traditioneller Vorstellungen und ihrer historischen Konsequenzen Wege nach Alternativen zu suchen.

Henry: Kesquidi 1954 Anfang bis Sprache Männerstimme ... un ver Porto (evtl. länger)

Pierre Henry hat 1954 ein Stück realisiert, das unter den Aspekten "Musik mit Stimmlauten - Musik und Sprache - Musik als Sprache" offensichtlich eine radikale Antithese darstellt zu seiner drei Jahre zuvor entstandenen Vokalmontage "Vocalises". In dem älteren Stück ist der natürliche Stimmklang reduziert auf ein winziges Montagestück - auf einen einzigen gesungenen Ton; und selbst dieser einzelne Ton prägt die Musik nicht im natürlichen Stimmklang, sondern in vielfältigen technischen Verfremdungen. In dem neueren Stück, das den Titel "Kesquidi" führt, ist die Stimme ganz anders verwendet: Man hört nicht einzelne Stimmlaute, sondern komplexe stimmliche Äußerungen - nicht eine Homunculus-Stimme wie in den "Vocalises", sondern sprachliche oder sprachähnliche Lautstrukturen: Musik als Sprache, Sprache als Musik. "Vocalises" markiert eine Extremposition der Komposition mit einer strengen, der frühen seriellen Musik nahe stehenden Struktur; in "Kesquidi" hingegen verwendet Henry stimmliche Äußerungen in quasi improvisatorischer Sponaneität und Ungezwungenheit. Beide Stücke definieren verschiedene Extreme dessen, was in traditioneller Vokalmusik eben so wenig möglich ist wie insgesamt in der traditionellen Musiksprache: Es gibt keine Töne im traditionellen Sinne mehr, die man als Elemente eines abstrakten Musiksystems beliebig transponieren, verlängern oder verkürzen und in verschiedenen Eigenschaften genau abgestuft verändern könnte. Es handelt sich auch nicht um traditionelle Vokalmusik in dem Sinne, daß (worauf der Titel des älteren Stückes ironisch anspielt) melodisch eingängige Vokalisen gesungen würden oder daß ein vorgegebener Text vertont würde, d. h. daß den Vokalen seiner Silben bestimmte Tonhöhen zugeordnet würden. Im älteren Stück verschwindet der Text, indem er auf das Minimum eines einzigen neuen Vokals reduziert wird. Das neuere Stück löst sich vom Modell der Textvertonung dadurch, daß verständlicher Text nur an wenigen Stellen zu hören ist und auch dort nur in der Konfrontation mit freien, von festen sprachlichen Bedeutungen gelösten Stimmäußerungen und mit technisch manipulierten Klängen verstanden werden kann. Das Stück ist angelegt wie ein - von konkreten Klängen begleiteter - Dialog einer französisch sprechenden Stimme mit einer Stimme, die surrealistisch-nonverbale Stimmlaute hervorbringt. Die surrealistischen Stimmlaute drücken gerade deswegen etwas aus, weil sie sich von fixierten sprachlichen Bedeutungen lösen; um so drastischer präsentieren sich die Worte der französisch sprechenden Männerstimme, die gleichsam auf die nonverbalen Stimme reeagiert und mit der surrealen Stimme zu kommunizieren versucht. Die surrealistischen Stimmlaute präsentieren sich wie Bruchstücke freier vokaler Improvisationen, die nachträglich durch Montage und Mischung zu Elementen einer Komposition geworden sind. Musik präsentiert hier Möglichkeiten einer Sprache ohne Worte, die ihre Besonderheiten gerade in der Konfrontation mit sprachlichen Bedeutungen um so deutlicher zeigt. So verbinden sich wortlose "Musik mit Stimmen" und klingende Sprache in einer musikübergreifenden Einheit der Akustischen Kunst, in der auch Fixiertes und nicht Fixiertes, Komponiertes und Improvisiertes wechselseitig aufeinander bezogen sind. An dieses Modell hat noch in den frühen siebziger Jahren Michel Chion angeknüpft, als er in seinem 1972 entstandenen Hörstück "Le prisonnier du son" (Der Gefangene des Klanges) die sprachlich verständliche Stimme des Autors konfrontierte mit dem nonverbalen Gesang der Musik, den er als Zitat aus Luciano Berios Komposition "Visage" in seine Komposition integrierte.

evtl. Chion, Le prisonnier du son, Zitat Berio Visage mit verbalen Antworten (Stimme Chion)

Das Material der traditionellen, als Tonkunst definierten Musik ist klanglich einfacher als das Material der Sprachlaute, weil es sich ausschließlich auf bestimmte Tonhöhen beschränkt und, zumindest im musiktheoretisch abstrahierten Regelwerk, den Bereich der Geräusche vollständig ausspart. So erklärt es sich, daß traditionelle Vokalmusik sich in erster Linie an den Vokalen des vorgegebenen Textes orientiert, nicht an seinen Konsonanten. Wagners Stabreime sind, in einem historisch relativ späten Stadium, der Versuch, den Konsonanten stärker zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne daß dabei der Primat der Tonkunst grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre - einer Tonkunst immerhin, die sich um äußerste deklamatorische Präzision bemühte. Nur der junge Wagner hat einmal in einem kurzen Stück versucht, in der Annäherung der Musik an die Geräusch-Vielfalt der Sprache noch einen Schritt weiter zu gehen und Musik mit gesprochener Sprache zu kombinieren im Melodram - so wie es vor ihm beispielsweise Ludwig van Beethoven im "Fidelio" und Carl Maria von Weber im "Freischütz" getan hatten und wie es nach ihm Schönberg in seinen Komposition mit Sprechstimme versuchte.

Die Gegensätze zwischen einer Musik, die sich auf bestimmte Tonhöhen konzentriert, und einer dezidiert geräuschhaften Musik konkretisieren sich dann, wenn Stimme und Sprache einbezogen wird, am deutlichsten in den extremen Gegensätzen zwischen der reinen Vokalise (etwa im Sirenengesang des Schlußstückes der "Trois Nocturnes" von Claude Debussy) und der Musik mit Sprechstimmen (etwa bei Arnold Schönberg: in den "Gurre-Liedern"; im "Pierrot lunaire"; in den religiösen Werken "Die Jakobsleiter" und "Moses und Aron" - besonders deutlich in einigen rein vokalen Sprechchor-Passagen des letzteren Werkes; in den politisch engagierten Spätwerken "Ode an Napoleon" und "Ein Überlebender aus Warschau"; in der letzten Komposition, im unvollendet gebliebenen "Modernen Psalm"). Vor allem Schönbergs Arbeiten haben den Weg bereitet für neue Integrationsformen von Musik und Sprache, in denen auch das Verhältnis zwischen Fixiertem und nicht Fixiertem, zwischen Komposition und Improvisation vollständig verändert ist - in "Musik mit Stimmen" etwa aus dem Bereich der elektroakustischen Musik oder von Dieter Schnebel, in Vokal- improvisationen etwa von Francois Dufrène oder Henri Chopin, von Joan la Barbara oder David Moss.

Wandlungen der Musiksprache, die sich in Integrationsformen zwischen Musik und Sprache vollziehen, in traditioneller oder modern-experimenteller "Musik mit Stimmen", in Vokalmusik oder in musikübergreifender Akustischer Kunst, können in besonders sinnfälliger Weise verbunden sein mit der Problematik des Einfachen oder Komplizierten, des Alten oder Neuen, des noch Unerschlossenen oder des in der Tradition bereits Abgenutzten, des Spannungsverhältnisses zwischen Innovation und Klischee. Dabei kann auch das scheinbar Einfache oder Wohlbekannte in neuartigen Konstellationen seine Funktion verändern - zum Beispiel dann, wenn John Cage in "The Wonderful Widow of Eighteen Springs" eine einfache, beliebig transponierbare Melodie aus 3 Tönen kombiniert mit einer Klavierbegleitung, in der kein einziger Ton zu hören ist, sondern nur exakt vorgeschriebene Holzgeräusche an verschiedenen Stellen des Flügels. Das später in fragwürdigem Zusammenhang kreierte Schlagwort von der "Neuen Einfachheit" paßt für diese Musik in durchaus unverdächtigem Sinne.

evtl. Cage: The Wonderful Widow of Eighteen Springs (Aufnahme Jubiläumskonz. mit Cage)

Viele Werke, die John Cage etwa in den dreißiger, vierziger und frühen fünfziger Jahren komponiert hat, lassen sich interpretieren als Beispiele dafür, wie das scheinbar alltäglich Abgenutzte in künstlerischer Verwendung vollkommen umfunktioniert werden kann. Die im Bereich der abendländischen Kunstmusik weit verbreitete Klischeevorstellung, daß Geräusche nur für die außermusikalische Alltagserfahrung, nicht aber für die musikalische Erfahrung relevant sein können, hat Cage schon frühzeitig in Frage gestellt. Scheinbar wohlbekannte, aus der alltäglichen Erfahrung geläufige Geräuscherzeuger hat er umfunktioniert zu Schlaginstrumenten neuer Art, die völlig neuartige rhythmische und klangliche Strukturen produzieren. Neue Aspekte der Verbindung von Musik und Sprache ergaben sich in seinen frühen Werken als Konsequenzen aus rein musikalischen Veränderungen - insbesondere aus der Entwicklung einer neuartigen, rhythmisch strukturierten Geräuschmusik. Diese entwickelte sich einerseits in Musik für spezielle Schlagzeugensembles (in der teilweise auch scheinbar triviale Alltagsgegenstände oder technische Medien zu Musikinstrumenten umfunktioniert waren), andererseits in Musik für ein zum Pseudo-Schlagzeugorchester umfunktioniertes traditionelles Instrument, nämlich das präparierte Klavier. Im einen wie im anderen Falle konnte sich Neues ergeben aus der produktiven Kritik von Klischeevorstellungen, die weit verbreitet aber gleichwohl widerlegbar waren. Damit war einer Entwicklung der Weg bereitet, die in der Folgezeit die Bereiche nicht nur der Komposition, sondern auch der Improvisation einschneidend verändern sollte. Dies war allerdings nicht von Anfang an klar. Die frühen Werke von Cage stehen vielmehr noch im engen Zusammenhang mit Entwicklungen, die eine Erneuerung der musikalischen Sprache primär unter den Perspektiven der musikalischen Komposition versuchten. Erst später wurde deutlich, daß diese Versuche auch den Bereich der klanglichen Realisierung grundlegend veränderten, so daß neben der exakten Reproduktion einer mehr oder weniger exakten Notation mehr und mehr auch Realisationen mit improvisatorischen Freiheiten an Bedeutung gewannen.

Wandlungen der Musiksprache, die letztlich auch zu neuen Überlegungen über die Funktion des Alten und Neuen, von Innovation und Klischee Anlaß geben sollten, zeigen sich in ersten Ansätzen schon in frühen Werken von Cage. Die Ambivalenz des Alten und des Neuen, des alltäglich Trivialen und des unverbraucht Neuen wird offensichtlich bereits in der 1940 entstandenen "Living room music": Diese Partitur unterscheidet sich von Werken anderer Komponisten dieser Zeit, auch von Schlagzeugmusik anderer Komponisten, vor allem dadurch, daß Cage hier nicht nur die Fixierung von Tonhöhen aufgibt, sondern auch die Instrumentenangaben. Zu diesem Verzicht war Cage sogar schon einige Jahre zuvor bereit gewesen - in seinem "Quartet" für frei wählbare Schlaginstrumente. In dem früheren Stück allerdings ließ die interpretatorische Freiheit sich noch mit aufführungspraktischen Ungewißheiten erklären, da Cage damals mit einem ad hoc zu bildenden, unaufwendigen, notfalls auch mit unkonventionellen Klangerzeugern auskommenden Schlagzeugensemble rechnete. In der "Living Room" Musik hingegen wird die Unbestimmtheit der Interpretation zur ausdrücklichen ästhetischen Absicht: Vier Spieler sollen diese Wohnzimmermusik aufführen mit Klangerzeugern, die sie selbst im Wohnzimmer auswählen. Die Rhythmen, die Cage vorschlägt, werden teils mit unkonventionellen Schlaginstrumenten realisiert, teils mit Sprechstimmen, die einen vorgegebenen Text rezitieren, teils sogar mit einem frei wählbaren Melodieinstrument. Die kompositorische Innovation, die sich auf den Rhythmus konzentriert, läßt dem Interpreten hier Entscheidungsmöglichkeiten, die bis dahin in der Musik des 20. Jahrhunderts ausdrücklich dem Komponisten vorbehalten geblieben waren.

Cage war nicht der einzige profilierte Komponist des 20. Jahrhunderts, der zeitlebens der Komposition den Primat vor der Improvisation zugewiesen hatte und der innovatives Potential eher im Bereich der Komposition vermutete als im Bereich der Improvisation, der ihm wegen seiner angeblich zu großen Abhängigkeit von traditionellen Klischees verdächtig war. Cage unterscheidet sich aber von vielen seiner Kollegen dadurch, daß er gleichwohl maßgeblich dazu beigetragen hat, die Musiksprache und die musikalische Praxis zu verändern weit über den Bereich der Improvisation hinaus. Cage gehört zu den profiliertesten Exponenten einer Neubestimmung der Musiksprache unter der Perspektive der Komposition, die gleichwohl auch den Bereich der klanglichen Realisation, insbesondere der Interpretation und der Improvisation, grundlegend verändert hat - im Kontext einer Entwicklung, die sich öffnete vom Fixierten zum nicht Fixierten, von der Komposition zur Interpretation, von der Tabuisierung gängiger Klischees bis zu ihrer produktiven Kritik und ihrer kreativen Umfunktionierung in neuen Zusammenhängen.

evtl. Cage, Living Room Musik

Wandlungen der KOMPOSITION im 20. Jahrhundert:

Klischee-Vermeidung und Klischee-Verarbeitung

Schönberg: 1. Satire, op. 28 Nr. 1: Tonal oder atonal?

Tonal oder atonal?

Nun sagt einmal

in welchem Stall

in diesem Fall

die größre Zahl,

daß man sich hal-

ten, halten kann am sichern Wall.

Dies ist der erste Text der 1925 entstandenen "Drei Satiren für gemischten Chor" opus 28 von Arnold Schoenberg, dem Schoenberg den Titel "Am Scheideweg" gegeben hat. Im Vorwort seiner Partitur hat Schoenberg genauer mitgeteilt, wen er mit diesen Spottversen und dem Ensemble der drei Satiren treffen wollte. Als erste Gruppe nennt er:

"solche, die an den Dissonanzen naschen, also für modern gelten wollen, aber zu vorsichtig sind, die Konsequenzen daraus zu ziehen; die Konsequenzen nicht bloß aus den Dissonanzen, sondern weit mehr noch, die aus den Konsonanzen sich ergebenden."

In Text und Musik spielt Schoenberg mit Klischees, um sie zu verspotten. Am deutlichsten wird dies in der Vertonung des Textanfangs: Das erste Textwort heißt "Tonal". Es wird auf den Tönen eines aufsteigenden C-Dur-Dreiklanges gesungen: Laut, mit aufsteigenden Tönen. Die aufsteigende Melodiebewegung ist allerdings auch doppeldeutig: In der Deklamation des Textes artikuliert sie eine Frage. Das Klischee der Tonalität, das so laut gesungen wird, wird dabei zugleich in Frage gestellt.

Auch die letzten Worte des Textes, den Schönberg seiner Partitur vorangestellt hat, werden auf einem C-Dur-Dreiklang gesungen. Diesmal ist es ein absteigender Dreiklang. Dies erklärt sich daraus, daß Schönberg die Melodie zu diesem Text in besonderer Weise konstruiert hat: Die zweite Hälfte des Textes verwendet dieselben Tonhöhen wie die erste, aber in rückläufiger Reihenfolge. Der Textanfang wird also auf den aufsteigenden Tönen c-e-g gesungen, das Textende auf den absteigenden Tönen g-e-c. Interessant ist allerdings, daß Schönberg die aufsteigenden Töne in seiner Komposition ganz anders behandelt als die aufsteigenden: Wenn das Wort "tonal" (in aufsteigendem C-Dur) im fragenden Ton gesungen wird, erklingt es sehr laut. So wird deutlich, daß das scheinbar Sichere in Wirklichkeit durchaus fragwürdig ist. Dies wird um so deutlicher, wenn alle vier Stimmen nacheinander kanonisch in diesem patzig lauten C-Dur einsetzen: Sie parodieren die trügerische Sicherheit des Immergleichen. Der Hörer kann rasch bemerken, daß die leise Fortsetzung musikalisch eigentlich viel interessanter ist als der laute Beginn. So läßt sich auch erklären, daß, wenn die Melodie am Textende im Krebsgange wieder zu den Tönen des C-Dur-Dreiklanges zurückkehren muß, dies keineswegs reibungslos geschieht. Dies wird schon in der Textvorlage deutlich. Schönberg gibt diesen Tönen zwei absichtlich holprig gehaltene Verse, in denen der Wunsch nach trügerischer Sicherheit in verräterischer Weise stockend und stotternd sich äußert:

daß man sich hal-

ten, halten kann am sichern Wall.

Die erste dieser beiden Textzeilen wird, gleichsam ängstlich, im Pianissimo gesungen. In der zweiten Zeile steigert sich auf dem absteigenden Dreiklang die Lautstärke vom Piano zum Forto - so, als sollte dem Ängstlichen wieder Mut gemacht werden, sich wieder der Macht des Klischees auszuliefern. Die Ironie von Text und Musik wird vollends deutlich dadurch, daß Schönberg in den letzten Takten des Stückes eine weitere Textzeile anfügt, die damit eingeführt wird, daß der absteigende Dreiklang erstmals im Decrescendo gesungen wird - als Zeichen der Rückkehr zur Furcht und Unsicherheit. Danach verwandelt sich das C-Dur in atonale Tonfolgen - und gleichzeitig vom Forte zum Pianississimo.

evtl. Wiederholung Satire 1: Tonal oder atonal

Schönberg gestaltet seine Kritik am musikalischen Klischee als genauestens auskonstruierte Komposition: Alle vier kanonischen Stimmen beginnen mit einer Zwölftonreihe, in der den drei C-Dur-Tönen zwei weitere, atonale Tongruppe folgen, so daß sich eine Gruppierung mit 3+5+4 Tönen ergibt; im abschließenden Krebsgang dieser Reihe hört man durchweg atonale Gruppen von drei Tönen - also bestimmte Negationen des Dreiklanges. Diese Tonkonstruktion und ihre bis in die Dynamik hineinwirkende differenzierte Ausgestaltung machen deutlich, daß Schönberg die produktive Kritik am musikalischen Klischee hier ausdrücklich als Komponist vorträgt; eine solche Musik ließe sich auf dem Wege der Improvisation schwerlich gewinnen. Schönbergs Musik steht prototypisch für die Auffassung, daß radikale neue Musik sich nur in der Komposition realisieren kann, aber nicht in der Improvisation. In der tonalen Musik und selbst noch im Stadium der freien Atonalität können in den meistens Fällen noch gemeinsame Wurzeln von Komposition und Improvisation angenommen werden: Beide sind dabei grundlegend wichtige Konkretisierungen musikalischer Erfindung. Kompositionen können in diesem Zusammenhang entstehen als Ausarbeitung von Improvisationen. So läßt es sich auch erklären, daß viele bedeutende Komponisten der Vergangenheit zugleich auch bedeutende Improvisatoren waren und umgekehrt.

Das Klischee des Dreiklangs, das Schönberg in den kühlen Zwölftonstrukturen seiner ersten Satire ironisch kritisierte, klingt wie der kühl auskonstruierte endgültige Abschied von einem musikalischen Symbol, das seine ästhetische Dominanz verloren hatte, das zum Wahrzeichen des Abgebrauchten und der reflektierten Traditionpflege zu werden drohte. In Schönbergs Satire scheint vergessen sogar der Moment, in dem wenige Jahre zuvor sein Schüler Alban Berg den Abschied von C-Dur auskomponiert hatte: Im "Wozzeck" erscheint der C-Dur-Dreiklang als Symbol des nüchternen Geldes - und damit zugleich auch als Symbol gesellschaftlicher Verhältnisse, die ein menschliche Vertrauensverhältnis zerstören: die Beziehung zwischen dem armen Wozzeck, der seiner Marie nur wenig Geld zum Lebensunterhalt geben kann, und seiner Geliebten Marie, die ihn mit dem Tambourmajor betrügt und von diesem mit Schmuck beschenkt wird. Der Durdreiklang wird hier zur radikalen Antithese seiner traditionellen Funktion als Darstellung einer triumphalen Apotheose: Er steht zwischen zwei katastrophischen Entwicklungen - der Katastrophenmusik des Wozzeck und der Katastrophenmusik der Marie.

Der C-Dur-Dreiklang erscheint bei Alban Berg nicht als Höhepunkt, sondern als radikale Abschwächung eines extrem dichten dissonanten Akkordes. Am klarsten tritt er hervor, wenn Marie sich für das empfangene Geld bedankt mit einem "Gott vergelt´s, Franz". Danach, bei Wozzecks Verabschiedung, verdüstert sich die Harmonie zum Molldreiklang und führt zurück zur Reprise, in die Realität der psychischen Katastrophe.

Wozzeck II. Szene 1. Akt: Was der Bub... bis Schluß

Alban Bergs Musik gehört zu den wichtigsten Beispielen einer produktiven kompositorischen Kritik von Klischees - einer Kritik von Stereotypen, die in ihrer realen Bedeutung erkannt, aber gleichwohl nicht kritiklos hingenommen werden. Tradition und Gegenwart erscheinen in Bergs Musik, anders als in Schönbergs Satire, nicht in polemisch antithetischen Konstellationen, sondern eingeschmolzen in Formprozesse, die die polare Gegensätzlichkeiten überwinden. Noch der "Wozzeck" steht - ähnlich wie die meisten Werke Bergs, Schönbergs und Weberns aus der Zeit der sogenannten "freien Atonalität" - unmißverständlich in einer Tradition der musikalischen und musikdramatischen Formgestaltung, die sich entwickelt hat als gemeinsame Grundlage sowohl für die Komposition als auch für die Improvisation.

Im 20. Jahrhundert ist die Personalunion von Komponist und Improvisator eher zur Ausnahme geworden, obwohl sich vereinzelte bemerkenswerte Ausnahmen nennen lassen - beispielsweise Olivier Messiaen, in anderer Weise auch Wolfgang Rihm. Ein wichtiger Grund hierfür war, daß die von Schönberg und seinen Schülern praktizierte Zwölftontechnik neuartige kompositorische Prozeduren erforderlich machte, die sich von improvisatorischen Verfahren grundlegend unterscheiden: Ein spontaner Umgang mit dem Material ist im Regelfalle schon deswegen nicht möglich, weil dieses Material für jede Komposition in vielen Arbeitsschritten gleichsam erst neu erschaffen werden muß. Die Trennung zwischen vorbereitender Material-Disposition und anschließender Material-Ausarbeitung stellte vor so schwierige Probleme, daß die Frage sich stellte, ob radikale Alternativen zu allen aus der Tradition bekannten kompositorischen Arbeitsverfahren entwickelt werden mußten. Bei Schönberg führte dies so weit, daß selbst aus der Tradition bekannte Konstellation in Zusammenhang einer Reihenkonstruktion in gewisser Weise neu erfunden werden mußten - beispielsweise in seiner ersten Satire der Durdreiklang als Tongruppe, die sich mit anderen, aus ganztönigen Strukturen entwickelten Tongruppen zum chromatischen Total entwickelt. Die konkrete Erscheinungsform des Stückes, seine Gestaltung mit kanonischen Stimmen und unterschiedlichen Tongruppen, ergibt sich erst im zweiten Schritt, auf der Grundlage einer komplexen Vorstrukturierung des Materials. Schon am Beispiel dieses einfachen Stückes wird deutlich, wie stark sich das Komponieren im 20. Jahrhundert, vor allem die Reihenkomposition, von traditionellen Verfahren und von traditionellen Wechselwirkungen zwischen Komposition und Improvisation entfernen konnte. Dies gilt natürlich, stärker noch als für die auf Tonstrukturen sich konzentrierende klassische Zwölftonmusik, in besonderem Maße für die serielle Musik, in der nicht nur die Tonhöhen nach Reihen strukturiert sind, sondern auch andere Toneigenschaften. Die nochmals radikalisierte Antithese zwischen Komposition und Improvisation, die sich daraus ergeben mußte, hat 1952 der junge Karlheinz Stockhausen beschrieben. In seinem Aufsatz "Situation des Handwerks" (Kriterien der punktuellen Musik) schreibt er (Texte Bd. 1, S. 19):

"Versteht man unter ´Improvisation´ das geschickte Reagieren auf unvorhergesehene Einzelheiten in der Weise einer Arrangiertechnik, so haben wir es beim Improvisieren mit Tönen, das auf solche Weise geschieht, nicht mit Tonordnung, sondern mit einer Sammlung von Tönen und Tongruppen zu tun.

Bereits vorhandene Tonordnungen (Tonsysteme, Themen, Motive, Reihen, ´Rhythmen´, Folklorismen u. a.) sind gleich improvisatorischen Einzelheiten unbrauchbar..."

Stockhausen geht in diesem Text so weit, daß er sich von allen Kompositionstechniken radikal distanziert, die auch nur im entferntesten noch an improvisatorische Verfahren erinnern könnten. Er kritisiert sogar die Arbeitsweise seines damaligen Lehrers Olivier Messiaen, wenn er schreibt:

"Nichts erfüllt weniger den Anspruch auf Widerspruchslosigkeit von Ordnung wie zum Beispiel eine Musik mit indischen Rhythmen mit einer vorbestimmten Tonauswahl (Modus, Reihe); die Absicht, für ein bestimmtes Instrument oder eine bestimmte Orchesterbesetzung zu schreiben; am Ende noch die Absicht, eine Musik von 15 Minuten Dauer zu ´erfinden´-: Absicht. Das Ganze als ´Materialvorbereitung´ zu bezeichnen und dazu am Klavier, pfeifend oder ´innerlich singend´ musikalische Brocken zu sammeln: dieses vereitelt im Vorhinein bereits die Möglichkeit, eine Ordnung von Tönen zu verwirklichen, die aus einer Vorstellung der Einheit des Hervor-zu-bringenden Einzelnen heraus erst existieren kann und dann integral anwesend sein soll."

Man könnte die Frage aufwerfen, wie viele Kompositionen unseres Jahrhunderts Stockhausens radikalen Kriterien genügen, auch in seiner eigenen Musik. Wie wenig Stockhausens radikale Absage an die Improvisation nicht zuletzt auch in seiner eigenen Arbeit Geltung beanspruchen kann, ist schon im Mai 1953 deutlich geworden, als er an seinen damaligen Freund Karel Goeyvaerts schrieb (Sabbe, Die Einheit der musikalischen Zeit S. 51):

"Jetzt kommt etwas, was mich so froh sein läßt: Ohne besondere Absicht setzte ich mich nach dem Abendessen an den Flügel und improvisierte. Und ich habe das erste Mal ein ganzes geschlossenes Stück improvisiert, wie ich mir immer meine Musik vorgestellt habe: Ich fand diese improvisierte Musik wunderschön. Wie so etwas geschehen kann... Noch ist mir das so überraschend, daß ich es in allen Nerven spüre. Aber denken darüber will ich jetzt nicht. Himmlich schön ist unsere Musik - manchmal -, heut abend war es wunderschön."

Was Karlheinz Stockhausen bei seiner Improvisation im Mai 1953 erlebte, läßt sich für andere, denen das damals Gespielte nicht einmal als Aufnahme zugänglich ist, nicht ohne weiteres nachvollziehen - zumal dieses Ereignis für ihn in der damaligen Zeit durchaus ungewöhnlich, wenn nicht einmalig war. Immerhin läßt sich aus Stockhausens Bericht entnehmen, daß er seine Improvisation vor allem deswegen akzeptierte, weil sie ihm zu beweisen schien, daß eine völlig neuartige Musik, so wie er sie sich nach seinen Worten schon immer vorgestellt hatte, auch ohne umfangreiche Konstruktions-Vorarbeit zustande kommen konnte. Die direkte Erfahrung schien ihm zu beweisen, daß auch in der spontanen Improvisation eine völlig neue, von abgenutzten Klischees befreite Musik entstehen kann. Es läßt sich heute allerdings nicht mehr rekonstruieren, wie diese Musik geklungen hat und wie sich ihr Klangbild verhielt zu der Musik, die Stockhausen damals komponierte - etwa zu der Elektronischen Studie Nr. 1.

Studie 1: Anfang

Karlheinz Stockhausen hat 1953 mit seiner ersten Elektronischen Studie eine Musik geschaffen, die eine Extremposition des Komponierens markiert, in schroffer Antithese zur Improvisation. Um so interessanter ist es, daß Stockhausen schon in demselben Jahr positive Erfahrungen mit freier

(Solo-)Improvisation gemacht hat - und zwar auf einem traditionellen Instrument, dem Klavier. Später hat Stockhausen auch im Medium der Elektronischen Musik Möglichkeiten einer freieren, sich in Richtung der Improvisation verändernden musikalischen Gestaltung entdeckt. Die schockierende Grenzerfahrung einer vollkommen durchkonstruierten Musik hat bei ihm, in ähnlicher Weise wie auch bei anderen Komponisten seiner Generation, Abwehrimpulse freigesetzt und zur Entwicklung neuer Verfahren der klanglichen Erfindung und Realisation geführt, in der die mühsam konstruierende Rationalität und die spontane Intuition wieder stärker aufeinander bezogen waren. Stockhausen gehört - neben Cage - in die Gruppe der Komponisten, in deren Arbeit sich die Dialektik zwischen Komposition und Improvisation besonders deutlich ausgeprägt hat. Dies verbindet beide Komponisten miteinander - trotz der ansonsten enormen Gegensätzlichkeit ihrer kompositionstechnischen und ästhetischen Positionen. Vielleicht läßt sich die Gemeinsamkeit im Gegensätzlichen auch damit erklären, daß beide ihre Positionen gefunden haben in der Auseinandersetzung mit der von Schönberg und seinen Schülern entwickelten Reihentechnik. Die aus ihr entwickelten radikal-konstruktivistischen Ansätze führten zu Grenzerfahrungen nicht nur im engeren Bereiche der Komposition, sondern auch im größeren Bereich der Praxis musikalischer Erfindung und klanglicher Realisation - auch im Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation.

Die Reihenkomposition hat das Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation vor allem deswegen verändert, weil sie sich ausgewirkt hat auf ein zentrales Problem des musikalischen Denkens und der musikalischen Praxis: auf das Problem der Musiksprache. Wie fragwürdig man immer diesen Begriff finden mag - er eignet sich gleichwohl in besonderer Weise dafür, daß man an ihm eine radikale Veränderung des musikalischen Bewußtseins in unserem Jahrhundert abliest. Gemeint ist damit Folgendes: Seit dem Bekanntwerden der musikalischen Reihentechnik (im Geiste der klassischen Zwölftontechnik und der klassischen seriellen Technik) ist deutlich geworden, daß die Regeln, nach denen ein Komponist sein Musikstück entwirft - die Regeln der musikalischen Codierung kompositorischer Ideen - sich grundsätzlich unterscheiden können von den Regeln, nach denen ein Hörer die Musik zu verstehen, zu entziffern, zu decodieren versucht. Schoenberg machte auf dieses Problem aufmerksam, als er seinen Schwager, den Geiger Rudolf Kolisch, am 27. Juli 1932 in einem Brief davor warnte, das dritte Streichquartett durch Aufdeckung der Reihenkonstruktionen sich verständlich zu machen. Schoenberg war der Auffassung, daß dies nicht der richtige Weg zum Verständnis des Stückes war. Schoenberg schrieb (Stein, S. 179):

"Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist."

Die unterschiedlichen Aspekte der Beschreibung von Musik, die Schoenberg hier erwähnt, spielen vor allem in komponierter Musik eine Rolle, und im Zusammenhang neuer Musik, etwa in zwölftöniger und serieller Musik, können diese beiden Aspekte sich radikal voneinander unterscheiden: Die Struktur, d. h. die Machart eines Musikstückes und seine Form, d. h. sein konkret hörbares Erscheinungsbild. Man kann diesen Unterschied auch anders charakterisieren: Ein Musikstück läßt sich beschreiben einerseits aus der Perspektive des Komponisten als Resultat kompositorischer Arbeitsprozesse, andererseits aus der Perspektive des Hörers als unmittelbar sinnlich erfaßbares Phänomen. Es ist offensichtlich, daß sich beispielsweise in zwölftönigen und seriellen Kompositionen beide Ausgangspunkte der Beschreibung radikal voneinander unterscheiden können und daß es hier vielfach äußerst schwierig ist, beide Aspekte differenziert zu erfassen und aufeinander zu beziehen. Dieses Problem tritt ist schon seit den frühesten Zwölftonkompositionen in den zwanziger und dreißiger Jahren deutlich in Erscheinung getreten. In noch extremerer Ausprägung artikulierte es sich in der Entwicklung der seriellen Musik, vor allem in den fünfziger Jahren. Die seriellen Komponisten entwarfen noch radikalere, in verschiedenen Parametern wirksame Konstruktionen, weil ihnen Schönbergs Lösungen noch zu traditionell und inkonsequent erschienen. Pierre Boulez, der seit den frühen fünfziger Jahren wohl prominenteste Kritiker Schoenbergs, hat damals ebenso wie später immer wieder strukturelle Unstimmigkeiten vor allem in Schoenbergs Zwölftonmusik bemängelt - in einer Musik, für die er sich gleichwohl als Dirigent immer wieder nachdrücklich eingesetzt hat. Seine Kritik läßt sich so interpretieren, daß er Schoenbergs Lösung von den Klischees und Stereotypen der tonalen Musik für nicht entschieden hält. Diese Kritik hat er beharrlich fortgesetzt - noch im Jahre 1996, als er auf den Salzburger Festspielen "Moses und Aaron" dirigierte und im Programmheft ein Gespräch mit Josef Häusler abdrucken ließ, in dem er seine kritischen Einwände wiederholte und aktualisierte. Schönbergs Zwölftontechnik beschrieb er vor allem den von ihm als traditionalistisch eingestuften Aspekten. Über Schoenbergs Verfahrensweisen sagte er (Häusler XV):

"Er hat sich von der harmonischen Tradition gelöst, aber er hat dafür mit dem Rückweg in eine andere Tradition bezahlt: in die Tradition des Kontrapunkts... In der Zwölftontechnik ist die harmonische Dimension ganz künstlich, es mußte also ein anderes Regulativ an deren Stelle treten. Bei Bach, in der Barockmusik und in der klassischen Musik des 18. Jahrhunderts existierte eine akustische Einheit zwischen Kontrapunkt und Harmonik. Bei Schönberg hat das harmonische Gesetz überhaupt nichts mit Akustik zu tun... Es hat nichts zu tun mit einer harmonischen Sprache, es ist eine Komplementarität... Deshalb sind die Resultate am überzeugendsten bei einer kontrapunktischen Schreibweise, denn Kontrapunkt bedeutet die Verantwortung einer Linie für eine andere... Aber im Fall einer Melodielinie mit Begleitung ist dieses Komplementaritätsprinzip wirklich ungenügend, und darum könnte man eine melodische Linie wie die am Anfang des Klavierkonzerts genau so gut im Stil von Brahms harmonisieren. Übrigens steht Schönbergs eigene Harmonisierung hier Brahms ja nahe."

Schoenberg: Klavierkonzert Anfang

In seinem Gespräch über Schönberg mit Josef Häusler wiederholt Pierre Boulez eine Kritik, die er schon bei früheren Gelegenheiten geäußert hat, beispielsweise 1960 auf den Darmstädter Ferienkursen: Spuren traditioneller Klischees glaubt er bei Schoenberg selbst dann zu finden, wenn dieser seine Regeln nach den Regeln der Zwölftontechnik harmonisiert - nach Regeln also, bei denen Boulez selbst den Sprachcharakter der traditionellen Harmonieregeln vermißt (was ja zumindest sicherstellen müßte, daß Boulez hier keine traditionellen harmonischen Klischees zu beanstanden hat). Boulez erhebt hier offensichtlich den rigorosen Anspruch einer Vermeidung traditioneller Klischees - einer Reinigung der Musik von allen Spuren nicht nur der tradierten Tonalität, sondern auch der traditionellen Satztechnik in allen ihren homophonen und polyphonen Facetten. Schönbergs Verfahren, Melodietöne aus einer bestimmten Tonreihe komplementär zu begleiten, d. h. mit anderen Tönen aus derselben oder aus einer eng verwandten anderen Reihe, genügte Boulez nicht, weil die Melodien, teilweise auch die Harmonien ihn noch allzu sehr an traditionelle Gestaltbildungen erinnerten. Boulez hat es offensichtlich gestört, daß Schoenberg nicht davor zurückgeschreckt ist, 1931, in einer populären Einführung zu seinen Orchestervariationen, dem Publikum zuliebe das zwölftönige Thema auch einmal in spätromantischer Harmonisierung vorzuführen (nicht nur in der originalen, sehr viel schwieriger musiksprachlich zu dechiffrierenden zwölftönigen Akkordbegleitung).

evtl. Schönberg op. 31 a)tonale Harmonisierung, b) zwölftönige Harmonisierung

jeweils nur Grundreihe

NOCH NICHT AUF HAUPT-DAT und -KASSETTE

Der Standpunkt einer radikalen Vermeidungsästhetik, den Boulez auch heute noch bezieht, spielte in der avantgardistischen Musik der fünfziger und sechziger Jahre eine wichtige Rolle. Es ist ein Standpunkt, der in der Musik des 20. Jahrhunderts zuerst von den Komponisten bezogen worden ist und der sich erst später etwa auch im Bereich der Improvisation ausgewirkt hat. Wenn man die kompositorische Entwicklung dieses Jahrhunderts auch in ihrem Verhältnis zum Bereich der Improvisation richtig verstehen will, sollte man sich klar machen, daß dieser Standpunkt selbst unter den Komponisten nicht unumstritten geblieben ist. Von Karlheinz Stockhausen beispielsweise, der noch in den fünfziger Jahren in diesem Punkt ähnlich dachte wie Pierre Boulez, wissen wir, daß sich seine Position in den sechziger Jahren grundlegend verändert hat. Er selbst hat seinen Positionswandel bilanziert in einem Kommentar zu seiner ästhetischen Entwicklung in den fünfziger und sechziger Jahren anläßlich der Uraufführung seiner "Hymnen" - des Werkes also, daß seine neuen Positionen wohl am eindrücklichsten manifestiert. In einem Rundfunkkommentar vom 12. Dezember 1967 sagt Stockhausen (Texte V, S. 27, 28):

"Die Arbeit zahlreicher Komponisten - auch meine eigene - bestand und besteht zum großen Teil aus Tabus. Ich habe mir immer wieder bewußt gemacht, was ich nicht machen wollte, was ich aus der Musik, die ich komponiere, auslassen will... Für viele Jahre ist in der Musik - in meiner Musik jedenfalls - eine gewisse Ausmerzung aller musikalischen "Objekte" zu bemerken gewesen. Seit 1952 habe ich versucht, weder bekannte Rhythmen noch Melodien noch harmonische Kombinationen noch Figuren zu komponieren; also alles zu vermeiden, was bekannt, allgemein bekannt ist oder an bereits komponierte Musik erinnert. Ich wollte quasi eine Musik ex nihilo schaffen: eine komplett non-figurative, extra-objektive, außerhalb der Objektwelt existierende Musik... Die HYMNEN sind - als Ergebnis einer fast zweijährigen kompositorischen Arbeit - eine Weiterentwicklung über die "abstrakte" Konzeption der Musik hinaus."

Hymnen: 4. Region Erinnerung Großbritannien mit russischem Akkord (rein elektroakustisch)

Die "Hymnen" sind die radikalste Gegenposition zur klassisch-avantgardistischen Vermeidungsästhetik, die Stockhausen jemals bezogen hat. Stockhausen will das Allerbekannteste, die bekanntesten und berüchtigsten Prototypen musikalischer Klischees und Stereotypen, hier keineswegs aussparen, sondern er sucht es ausdrücklich auf, um es zu verwandeln. In seinem Kommentar sagt er hierzu (Texte V, S. 30):

"Hymnen, die Nationalhymnen, sind das Populärste, was es überhaupt gibt. Sie sind Klang-Zeichen, Klang-Objekte, die viele Leute kennen. Eigentlich kennt doch jeder zwei oder drei Hymnen, wenigstens die Anfänge der Melodien... Nationalhymnen sind musikalische Erkennungszeichen von Völkern, also etwas Allgemeingültiges. In meiner Komposition HYMNEN wollte ich... als erkennbares Material das Allgemeinste verwenden, was es überhaupt gibt. Hätte es noch irgend etwas Allgemeineres an musikalisch Erkennbarem - an musikalischen Objekten, die möglichst viele kennen - auf dieser Erde gegeben, so hätte ich es gewählt. Ich kann mir nichts Allgemeineres, Populäreres, Bekannteres vorstellen als die Hymnen der Nationen. Deshalb habe ich sie als Objekte gewählt, die ich nun vielfältig modulieren und komponieren kann in einer unbekannten Welt elektronischer Musik."

Es ist möglicherweise kein Zufall, daß gerade die Komposition "Hymnen", das wohl wichtigste Beispiel der Abkehr von einer rigorosen Vermeidungsästhetik, das erste Werk Stockhausens ist, in dem im Studio produzierte elektroakustische Klänge sich mit improvisierter Musik verbinden können. Die Nationalhymnen und Umweltgeräusche, die Stockhausen in seiner Tonbandkomposition verarbeitet, sind aus der allgemeinen Hörerfahrung so gut bekannt, daß Stockhausen es zulassen konnte, daß in Konzertaufführungen Musiker frei auf die Klänge des Tonbandes reagieren.

Hymnen: 4. Region Erinnerung Großbritannien mit russ. Akkord (elektroakust. mit Solisten)

Es gibt wohl kein anderes Stück in der Musik des 20. Jahrhunderts, in dem die Zitierung und Verarbeitung musikalischer Klischees und Stereotypen eine so wichtige Rolle spielt wie in den "Hymnen" von Karlheinz Stockhausen. Die Prozesse der musikalischen Verwandlung des musikalisch Wohlbekannten hielt Stockhausen in dieser Komposition für so deutlich und für so klar nachvollziehbar, daß er es für möglich hielt, in Konzertaufführungen frei improvisierende Solisten an ihnen teilhaben zu lassen. So ergibt sich in Konzertaufführungen eine Symbiose zwischen der genau fixierten Tonbandmusik (die auch, z. B. im Radio und auf Schallplatte, als autonome Komposition, als reine Lautsprechermusik gehört werden kann) und dem freien Spiel von vier Solisten, die auf die Klänge der vierkanaligen Komposition reagieren. Die im Studio produzierten Klänge hat Stockhausen auf Tonband fixiert und von der Tonbandproduktion anschließend eine Mitlesepartitur hergestellt, an der mitspielende Solisten und Hörer sich orientieren können. Für die improvisatorischen Kommentare hat Stockhausen keine Notation vorgegeben. Nur für Teile des Stückes wurde nachträglich protokolliert, was die mit Stockhausen zusammenarbeitenden Solisten tatsächlich in Aufführungen gespielt hatten; diese nachträgliche Notation aber ist bisher nicht als Partitur veröffentlicht worden; der Komponist läßt nach wie vor zu, daß für neue Aufführungen mit Solisten neue musikalische Lösungen gefunden werden, die von den bisher bekannten mehr oder weniger drastisch abweichen. Somit ergeben sich in der Aufführungspraxis dieses Stückes interessante Möglichkeiten, Komposition und Improvisation miteinander zu verbinden. Selbst einige Anregungen für die Interpreten, die Stockhausen erst bei Gelegenheit einer späteren Einstudierung in den frühen neunziger Jahren zu Papier gebracht hat, müssen keineswegs als kompositorische Reglementierungen gelesen werden, sondern sind verwendbar als Impulse zur fantasievollen reaktiven Improvisation - auf verschiedenen Wegen, die Stockhausen in seinen Vorschlägen andeutet:

"Markierungen, Kommentare

Möglichst nichts vom Tonband verdecken:

Verdopplungen einzelner Töne, um zu färben.

Verlängerung einzelner Töne, vor allem im Baß

(heterophone Pedalton-Melodie, zum Teil sehr langsam).

Polyphone Gegenstimmen in exponierten Lagen, auch über lange Zeiträume.

Kommentare mit wenigen Tönen über längere Strecken -

gewählt aus einem Fragment, das variiert wird,

bzw. aus einer Zentralhymne oder einer Hymne, die in der Gegend deutlich auftritt;

zeitlich gespreizt, oder als kurze Figur gestaucht

über längere Strecken transformiert in ein anderes Fragment.

Ein aufgegriffenes Fragment (einzelner Ton, Intervall, kurze Figur)

soll über lange Strecken (auch über eine ganze Region) von Zeit zu Zeit wieder auftauchen.

Ankündigungen von etwas, was viel später kommt;

Erinnerungen bis zurück zum Anfang;

musikalische Gedankenfetzen aus den Hymnen, die sich beim Anhören des Tonbandes einstellen -

zurückgreifend, vorgreifend -

sollen gespielt werden.

Brücken zwischen weit auseinanerliegenden Stellen mit Unterbrechungen spielen.

Im allgemeinen soll also ein einmal gewähltes Fragment

länger beibehalten und mit Ziel verändert werden

(Beispiel: Fragment einer Hymne auseinandernehmen und langsam "mikroskopieren".)

Elemente in neuem Kontext erinnern

und rhythmisch (mit einigen akzentuierten Tönen), melodisch mit gegenwärtigen verbinden.

Immer genügend "Fenster" lassen:

nach jedem Einwurf auf Tonband und auf die anderen Solisten hören,

bis man einige Ereignisse verstanden hat;

erst dann wieder selbst markieren oder kommentieren.

Fragment eines anderen Spielers fortsetzen, mit Einzeltönen ergänzen.

Jedes gespielte Ereignis visuell klar verständlich

zu einem anderen Solisten bzw. zu den anderen Solisten hin spielen."

Stockhausens Anregungen gehen teilweise weit über die bisher in Aufführungen tatsächlich erprobten Möglichkeiten hinaus. Sie machen deutlich, daß in dieser Komposition kein starrer Dualismus zwischen fixierter Komposition und frei gestaltbarer Improvisation mehr existiert - zumal dann nicht, wenn auch die Solisten elektrifizierte Instrumente verwenden. Die auf Tonband fixierten Klänge sind in ihren musikalischen Eigenschaften und in den Assoziationen, die sie freisetzen können, so vielfältig und vieldeutig gestaltet, daß sie höchst unterschiedliche Reaktionen mitspielender Solisten ermöglichen. Bekanntes kann sich so in Unbekanntes verwandeln; nicht nur die vielen Menschen bekannten Nationalhymnen, sondern auch die aus ihnen entwickelten Klangstrukturen in Stockhausens Tonbandmusik präsentieren sich in Zusammenhängen, die nicht nur mitspielende Musiker vielseitig zu aktivieren vermögen, sondern auch die Hörer. So zeigt sich, welche weitreichenden Möglichkeiten sich ergeben können aus einer kompositorischen Umorientierung, die von der Klischee-Vermeidung zur Klischee-Verarbeitung geführt hat.

Hymnen mit Solisten: Schluß Brücke III-IV - Anfang IV (bis Zitat Schweiz)

Neue Möglichkeiten der IMPROVISATION in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts:

Improvisation als Grenz- oder Grunderfahrung?

Die Bedeutung der Improvisation in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts ist einerseits unbestreitbar, andererseits in der wünschenswerten Konkretion nicht leicht zu belegen. Dies liegt hauptsächlich daran, daß die Musikentwicklung im Bereich der Improvisation keineswegs so reichhaltig dokumentiert ist wie im Bereich der Komposition. Dafür gibt es vielfältige Gründe.

Wie kompliziert es ist, etwas über Musikgeschichte im Bereich der Improvisation zu erfahren, ist offensichtlich, wenn man an die Geschichte früherer Jahrhunderte denkt: Die Entwicklung einer der schriftlichen Fixierung sich entziehenden Musikpraxis ist schwierig zu erkennen, wenn man dabei in hohem Maße von schriftlichen Quellen abhängig ist. Wenn wir uns über Improvisationspraktiken früher Jahrhunderte in traditionell notierten Notenbeispielen zu informieren gezwungen sind, dann dürfen wir dabei nicht vergessen, daß die traditionelle Notation das Wesentliche improvisierter Musik meistens nur unvollkommen zu erfassen vermag: Die notierte Improvisation nähert sich dem verbindlich notierten musikalischen Text, der Komposition. Sie mag unentbehrlich sein als Hilfsmittel der Konkretion, aber sie unterschlägt in ihrer eindeutigen Fixierung häufig auch die Tatsache, daß - selbst dann, wenn sie tatsächlich Improvisiertes einigermaßen zutreffend wiedergibt - der Notentext in der Regel nicht so eindeutig verbindlich ist wie in einer notierten Komposition.

Man könnte hiergegen einwenden, daß eine notierte Improvisation aus ähnlichen Gründen nützlich sein kann wie etwa eine schriftlich, etwa stenographisch protokollierte freie Rede. Das Interesse daran, was bei einer bestimmten Gelegenheit in (mehr oder weniger) freier Improvisation musiziert worden ist, kann ähnlich stark sein wie das Interesse daran, was bei einer bestimmten Gelegenheit in (mehr oder weniger) freier Rede gesagt wurde. Die Einschränkung des "mehr oder weniger" könnte ja - was die Schwierigkeit des Problems möglicherweise verringert - auch in vielen Fällen darauf verweisen, daß die starre Unterscheidung zwischen dem schriftlich im voraus Fixierten und dem frei Musizierten oder Gesprochenen in der Realität ohnehin oft aufgebrochen wird:

Es kann wichtige Gründe dafür geben, daß ein Redner von seinem vorbereiteten Manuskript abweicht. In der Theaterpraxis sind Abweichungen von einer vorgegebenen Textvorlage, sei es auch nur in Kürzungen oder in Verbesserungen einer Übersetzung, vielleicht umstritten, aber dennoch keineswegs unüblich. Noch weiter reichende Abweichungen zwischen schriftlicher Vorlage und klingender Realisation gibt es in der Hörspielpraxis. Jeder Kenner weiß, daß viele Hörspielrealisationen sich in wesentlichen Aspekten von den Vorschriften der Textvorlage entfernen.

Auch in der Musik kann es vorkommen, daß Interpreten bei einer Aufführung vom notierten Text abweichen bzw. daß sie (absichtlich oder auch unabsichtlich) bestimmte Vorschriften der Notation nicht einhalten. Mit anderen Worten: Ein schriftlich notierter sprachlicher oder musikalischer Text, der für die sprachliche Rezitation oder für die musikalische Aufführung bestimmt ist, kann zwar als verbindliche Vorlage betrachtet werden, so daß jede Abweichung bei der klanglichen Realisation als Fehler gewertet werden müßte. In bestimmten Fällen kann es aber auch sinnvoll sein, der klanglichen Realisation ein eigenes Existenzrecht zuzuerkennen, wobei Abweichungen vom Text, auch und besonders spontane, improvisatorische Abweichungen, wohl begründet und sinnvoll sein können - seien es Abweichungen vom Redetext, die ein Redner in einer konkreten politischen Situation, zum Beispiel im situativen Kontext einer Massenversammlungen für notwendig hält; seien es Abweichungen vom Notentext, wie sie etwa renommierte Pianisten in virtuoser Klaviermusik vornehmen (und wie sie das Interesse von Musikinteressierten wecken können wenn schon nicht unter Aspekten der Kompositionsgeschichte, so doch wenigstens der interpretatorischen oder sogar improvisatorischen Freiheit im Umgang mit notierten Vorlagen).

In Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft spielt die Konzentration auf den geschriebenen Text, der als Maßstab auch der klanglichen Realisation angesehen wird, nach wie vor eine wesentliche Rolle. Dies erklärt die oft nur defizitäre oder stiefmütterliche Behandlung des Hörspiels in der Literaturwissenschaft, der improvisierten und der elektroakustischen Musik in der Musikwissenschaft und der Akustischen Kunst in beiden Disziplinen.

Die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist bisher vorwiegend als Kompositionsgeschichte untersucht worden. Von einer zusammenfassenden Kenntnis der Interpretationsgeschichte oder gar der Improvisationsgeschichte dieses Jahrhunderts sind wir noch in seinen letzten Jahren weit entfernt - und es gibt Gründe zum Zweifel daran, ob diese Aspekte jemals in ähnlicher Ausführlichkeit erschlossen werden können wie die Kompositionsgeschichte. Diese Zweifel lassen sich auch dadurch nicht restlos beseitigen, daß man die für dieses Jahrhundert typischen neuen Möglichkeiten nutzt, musikalische Dokumente auch als technische Reproduktionen, als Aufnahmen kennen zu lernen und zu studieren. Denn einerseits sind Tondokumente immer noch nicht in vergleichbarer Ausführlichkeit öffentlich zugänglich wie schriftliche Dokumente, und andererseits ist ihre Menge und Vielfalt trotzdem so groß, daß ihre zusammenfassende Auswertung ohne die Fundierung durch - einstweilen noch ausstehende - Spezialuntersuchungen in vielen verschiedenen Disziplinen und Teilgebieten als nahezu aussichtslos erscheinen muß. Die Zeit dürfte noch nicht gekommen sein, neue Aspekte der Musikgeschichte in einer zusammenfassenden Untersuchung aller relevanten erhaltenen Tondokumente zu erschließen - d. h. Untersuchungen anzustellen über Aufnahmen nicht nur aus den Bereichen der komponierten Neuer Musik, sondern auch aus anderen musikalischen Bereichen, insbesondere der populären Musik, der Musik verschiedener Kulturkreise und ihrer Verbindungen etwa in Pop und Jazz oder in verschiedenen Ausformungen einer sich interkulturell öffnenden "Weltmusik".

In dieser Situation können, wie es scheint, vorerst nur Notlösungen weiterhelfen. Beispielsweise wäre es denkbar, in einem ersten Schritt nach Phasen in der - schon relativ gründlich erschlossenen - Kompositionsgeschichte zu suchen, in denen sich Öffnungen zu anderen Bereichen abzeichnen, insbesondere Öffnungen in den Bereich der Improvisation. Sicherlich ist es richtig, daß auf diesen Bereichen zunächst nur Grenzfälle der Improvisation ins Blickfeld geraten. Dennoch könnte es nützlich sein, in einem ersten Schritt gerade an diesen Grenzfällen genauere Einsichten zu gewinnen über neue Tendenzen der Improvisation, die sichergeben in ihrer Berührung oder in ihrer Konfrontation mit dem Bereich der Komposition.

Zu den wenigen auch in den neunziger Jahren noch relativ leicht zugänglichen historischen Tondokumenten der Improvisationsgeschichte Neuer Musik gehört eine 1992 in Berlin publizierte compact disc, in der Aufnahmen der Improvisationsgruppe "Nuova Consonanza" aus den sechziger und siebziger Jahren zusammengestellt sind. Gianmario Borio hat in einem Kommentar, der im booklet dieser CD abgedruckt ist, darauf hingewiesen, daß diese Aufnahmen einen Extremfall im Spannungsfeld zwischen Komposition und Improvisation darstellen: Die Musikergruppe, die hier zu hören ist, entstand 1964 Jahren auf Anregung eines Komponisten, und sie setzte sich zusammen aus improvisierenden Komponisten.

Es ist aufschlußreich, wie Gianmario Borio in seinem Kommentar die Intentionen des Komponisten Franco Evangelisti, des Initiators der Gruppe, darstellt. Borio schreibt:

"Evangelisti sah die Gruppe als Ausweg aus dem etablierten Musikbetrieb mit seinen Auftragswerken, seinen Einschränkungen, seinen abgenutzten Kommunikationsformen. Er sah Nuova Consonanza als ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen Klangwelt, die nicht mehr Musik heißen kann. Dieser Schritt war einer der Negation. Die kollektive Arbeit setzte einen Katalog der Verbote voraus, der von allen Mitgliedern akzeptiert wurde: keine Priorität eines einzelnen Spielers zulassen, keinen an das tonale System gebundenen Klang hervorbringen, keine rhythmische Periodik gestalten, keine einprägsamen Motive einfügen, keine genaue Wiederholung eines Gewesenen ausführen. Der Katalog war auf alle Klischees erweiterbar, auch auf die der Avantgarde: keinen Jargon der Negativität bilden, das Sichtbare nicht über das Klangliche vorherrschen lassen..."

In dieser Charakterisierung wird deutlich, daß es darum geht, Konzeptionen einer Ästhetik der Vermeidung von Klischees, wie sie sich seit den fünfziger Jahren in der komponierten Musik durchgesetzt hatte, zu übertragen auf den Bereich der Improvisation. Natürlich kann diese Charakterisierung die Frage provozieren, ob die alleinige die Absicht, Klischees zu vermeiden, schon wirklich ausreichende Impulse zur spontanen improvisatorischen Erfindung freizusetzen vermag.

Die Probleme einer negativen Improvisationsästhetik, einer Ästhetik der Klischeevermeidung in der Komposition, erscheinen in extremer Zuspitzung in einem Zitat von Franco Evangelisti, mit dem Gianmaria Borio seinen Schallplattenkommentar beschließt. Es heißt dort:

"In dieser Fähigkeit des Anhörens der eigenen Fehler und der Fehler der anderen und in der unmittelbaren Reaktion sich entsprechend zu korrigieren, also in der Verteilung der individuellen Energie im Dienste der gemeinsamen Idee, liegt das Wesen der Improvisation."

Man könnte meinen, die Vorstellung, musikalische Erfindung ergebe sich allein aus der fortlaufenden Korrektur von Fehlern, sei schon im Bereich der Komposition unzureichend - und um so mehr noch im Bereich der Improvisation. Wenn von vorneherein feststeht, daß alle Ausgangsideen zunächst einmal fehlerhaft sind und wenn dies den Musik-Erfindenden bewußt geworden ist, dann kann sich die Frage stellen, ob die ständige Konfrontation mit Fehlern die Kraft der musikalischen Imagination nicht auch lähmen kann. Wer überall die Gefahr von Fehlern wittert, könnte letztlich auch befürchten, daß bei fortlaufenden Versuchen, Fehler zu korrigieren, letztlich doch nur wieder neue, womöglich nicht weniger gravierende Fehler entstehen. In dieser Perspektive wird zu wenig Rücksicht darauf genommen, daß die improvisatorische oder kompositorische Erfindung, die musikalische Fakten setzt, ohne ein gewisses Maß Vertrauen auf die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen nur schwer vorstellbar ist. Wer hierüber theoretisieren und gleichwohl noch Musik erfinden kann, wird womöglich nur dann erfolgreich sein, wenn er seine theoretischen Skrupel in der eigenen Arbeit bündig widerlegt.

Gianmaria Borio hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Konzept der Improvisation, das er in der Arbeit der Gruppe "Nuova Consonanza" findet, sich in paradoxer Weise der Komposition nähert - und zwar in einer Weise, die schon aus traditionellen Vorstellungen über Komposition und Improvisation geläufig ist: Improvisation wird definiert als instantaneous composition - als spontane, "instantane" Komposition. Von aus der Tradition bekannten Verfahren unterscheidet sie sich nach Borio vor allem dadurch, daß musikalische Entscheidungen hier nicht von einem einzelnen Hauptverantwortlichen getroffen werden, sondern in gleichberechtigter Zusammenarbeit mehrerer Musiker: Die "instantane" Komposition realisiert sich im Prozeß der emanzipatorischen Gruppenimprovisation - also in anderer Weise als in der Soloimprovisation oder auch in einer Gruppenimprovisation, in der alle Musiker etwa Anweisungen eines einzelnen befolgen (oder auch Anweisungen einer Gruppe von Musikern, die nicht vollständig identisch mit ihrer eigenen Gruppe ist). Die Emanzipation des musikalischen Materials in seinen verschiedenen Eigenschaften und Bereichen hat sich also auf die Praxis der musikalischen Realisation so weitgehend übertragen, daß hierarchische Abstufungen zwischen den Funktionen der verschiedenen beteiligten Musiker abgeschafft sind. Bei einer völlig konsequenten Anwendung dieser Prinzipien wäre es also ausgeschlossen, daß etwa eine Improvisationsgruppe sich den Anweisungen einer einzelnen Person fügt; Vorschriften eines einzelnen Komponisten, den ausführenden Musikern übergeordneten Komponisten wären selbst dann inakzeptabel, wenn der Komponist bei der Realisierung seiner Anweisungen selbst als Mitglied der Gruppe mitwirkt.

Das Konzept emanzipatorischer Gruppenimprovisation, das Borio in der Gruppe "Nuova Consonanza" realisiert findet, artikuliert - zumindest in seinem theoretischen Anspruch, wenngleich womöglich nicht immer in dessen musikalischer Realisierung - eine Extremposition der freien Gruppenimprovisation, wie man sie auch anderwärts in Neuer Musik jener Zeit und auch in anderen Bereichen des experimentellen Musiklebens aufsuchen könnte (etwa im free jazz); eine Position, die durchaus typisch ist für avancierte experimentelle Musik der sechziger und frühen siebziger Jahre.

Die Musiker der Gruppe "Nuova Consonanza" waren nicht die einzigen, denen sich die Absicht zuschreiben läßt, eine spontane und zugleich von allen traditionellen oder avantgardistischen Klischees befreite Musik zu realisieren - gleichsam ein extremes Kontrastmodell zu den radikal durchkonstruierten seriellen Kompositionen der frühen fünfziger Jahre. Gleichwohl lassen sich in ihrer Musik instruktive Beispiele dafür finden, daß eine solche Vermeidungsästhetik in der Improvisation interessante Möglichkeiten eröffnen, aber auch leicht an ihre Grenzen stoßen kann.

Nuova Consonanza: Nr. 6 "Wenig aber kurz" (SFB - 15. 12. 69). ed RZ 1009

Die Schwierigkeitenen einer Musik der Klischee-Vermeidung sind evident - nicht nur in der Komposition, sondern auch in der Improvisation. Die Gefahr besteht, daß Versuche der Klischee-Vermeidung rasch wieder selbst zu Klischees werden, daß also Klischees der Klischee-Vermeidung entstehen. Dies kann auch dann geschehen, wenn - wie Franco Evangelisti, den Komponisten nagende Zweifel am avantgardistisch etablierten Musikbetrieb befallen haben, und vor allem wohl auch Zweifel am avantgardistisch etablierten Komponieren. Die Hoffnung, daß Auswege aus diesen Zweifeln sich in Versuchen kollektiver Musikerfindung entdecken lassen, liegt nahe - aber es liegt nicht ohne weiteres nahe, ob sie in jedem Falle begründet ist. Improvisation, inbesondere Gruppenimprovisation als kompositorische Grenzerfahrung ist wohl niemals so aktuell gewesen wie in bestimmten kritischen Situationen der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl wäre es vermessen, die Bedeutung solcher Grenzerfahrungen für Komposition und Improvisation im 20. Jahrhundert überzubewerten. Es gibt wichtige Beispiele auch dafür, daß selbst in Bereichen, wo Komposition und Improvisation sehr nahe beieinander liegen, auch ganz andere Lösungen möglich sind.

Messiaen: Improvisation aus "L´ame en bourgeon"

Einleitung und 1. Textstrophe zu "Enfant, pale embryon"

1977 wurde in Paris eine Schallplatte produziert, die Orgelimprovisationen von Olivier Messiaen und Rezitationen von Gedichten seiner Mutter Cécile Sauvage enthält. Es ist meines Wissens die einzige Schallplatte, auf der Improvisationen von Messiaen zu hören sind. Insofern lassen sich diese Orgelimprovisationen als Grenzfall beschreiben - als vereinzelter Sonderfall im Vergleich zu seiner umfangreichen kompositorischen Arbeit, insbesondere auch zu seinen Orgelkompositionen, von denen die meisten nicht nur von anderen Organisten, sondern auch von Messiaen selbst auf Schallplatte eingespielt worden sind. Andererseits wäre es nicht richtig zu behaupten, daß die Aufnahmen für "L´ame en bourgeon" für Messiaen als kompositorische Grenzerfahrung zu beschreiben sind - so, wie es für die "Nuova Consonanza" zutreffen könnte.

Vieles spricht dafür, daß genau das Gegenteil richtig ist: Für Olivier Messiaen war die Improvisation nicht eine kompositorische Grenzerfahrung, sondern eine kompositorische Grunderfahrung. Wir haben Grund zu der Annahme, daß die Orgelimprovisation, die Messiaen gründlich bei seinem Lehrer Marcel Dupré studiert hat, ihm die erste und wichtigste Erfahrungsbasis für die Entwicklung der Technik seiner "musikalischen Sprache" gab, die Messiaen seit den späten zwanziger Jahren kompositorisch ausgeformte und die er, auf der Basis seiner eigenen Kompositionen, später auch theoretisch beschrieben hat. Da es Bücher sowohl von Marcel Dupré über seinen Ansatz der Improvisation als auch von Messiaen über die Technik seiner musikalischen Kompositionen gibt, lassen sich die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ansätzen auch im Detail verifizieren. Auch unabhängig davon ist evident, daß Messiaens Ansatz, der von melodisch-harmonischen und rhythmischen Modi ausgeht, sich, anders als zum Beispiele die Ansätze der Zwölftonmusik und der seriellen Musik, keineswegs primär auf den Bereich der Komposition ausgerichtet ist. Messiaens musikalische Sprache ist, ähnlich wie die traditionelle tonale Musiksprache, so definiert, daß sie auch von Komponisten durchaus auf der Basis musikalischer Improvisation erlernt werden könnte.

Das Beispiel Messiaens gibt wichtige Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation im 20. Jahrhundert; es belegt, daß innovative Improvisation sich auch in unserem Jahrhundert nicht nur, abweichend von der Tradition, als kompositorische Grenzerfahrung ergeben kann, sondern auch als musikalische Grunderfahrung: Die musikalische Erfindung kann sich nach wie vor so entwickeln, daß sie ausgeht von der Improvisation - in ähnlicher Weise, wie der Spracherwerb ausgeht vom freien Sprechen, das vielleicht von der Imitation ausgeht, aber von dort aus so rasch wie möglich den Weg zur eigenen Aussage findet.

Die Orgelimprovisationen, mit denen Olivier Messiaen die Gedichte seiner Mutter begleitet, markieren eine besondere Position im Grenzbereich zwischen Komposition und Improvisation. Der geschulte Hörer wird viele melodische und harmonische Wendungen wiederfinden, die er auch aus Kompositionen Olivier Messiaens kennt (nicht nur aus seinen Orgelwerken, sondern auch aus Kompositionen für andere Besetzungen). Dennoch hat diese improvisierte Musik den Charakter der musikalischen freien Rede keineswegs verloren; vielleicht kann sie sogar die Überlegung nahelegen, ob nicht auch viele Kompositionen Messiaens besser verstanden werden könnten, wenn man in ihnen improvisatorische Wurzeln erkennt. Dies gilt nicht nur für Messiaens Frühwerk, sondern für sein gesamtes Schaffen. An der Orgel der Pariser Eglise de la Trinité hat er jahrzehntelang als Organist gewirkt; auf dieser Orgel hat er nicht nur die meisten seiner Orgelwerke auf Schallplatte eingespielt, sondern auch häufig improvisiert. Die Bedeutung dieser Improvisationen auch für seine kompositorische Arbeit bis in das Spätwerk der achtziger Jahre hinein wird unterstrichen in Berichten, daß es sogar so weit kommen konnte, daß seine Improvisationen aufgenommen wurden und teilweise als Transkriptionen Eingang fanden in Messiaens komponierte Musik. Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es in manchen Fällen werden kann, Komposition und Improvisation klar voneinander zu unterscheiden: Wie kann man aus einem Notentext allein, ohne zusätzliche Informationen über den Entstehungsprozeß der Musik, ablesen, ob es sich um eine Komposition im engeren Sinne handelt oder um eine transkribierte Improvisation?

Bei Messiaen lassen sich nicht nur improvisatorische Elemente in der Komposition entdecken, sondern auch das Umgekehrte - nämlich kompositorische Elemente in der Improvisation. Seine Improvisations-Schallplatte "L´ame en bourgeon" ist ein Dokument, in dem sich gerade der letztere Aspekt besonders sinnfällig studieren läßt. Dies zeigt sich nicht so sehr wie in den musikalischen Details, in denen man durchaus noch einen improvisatorischen Duktus erkennen kann; es wird aber um so deutlicher, je stärker man auf größere Zusammenhänge achtet. Man bemerkt großformale Entsprechungen, die weniger dem Charakter einer spontanen Improvisation entsprechen als einer kompositorischen Disposition - etwa in dem Sinne, daß bestimmte improvisatorische Passagen nicht spontan mit der Musik kombiniert wurden, sondern erst nachträglich zur Musik hinzugemischt worden sind. Am deutlichsten wird dies in einer Passage, die zunächst als Einleitung zu einem Gedicht zu hören ist, in dem Cécile Sauvage ihren Sohn als Fötus im Mutterleib anspricht. Der Charakter der, wie es zunächst scheinen mag, spontanen Einleitung ändert sich, wenn die Musik am Ende dies Gedichtes wiederkehrt und sich dann mit der Rezitation der letzten Strophen verbindet. Dann ergeben sich plötzlich Zusammenhänge zwischen Musik und gesprochenem Text, wie man sie weniger in einer Improvisation erwarten würde als in einem komponierten Melodram: Die leise Unruhe von Figuren, die vorausweisen auf die Geliebte des Herangewachsenen - das kahle Unisono als Symbol der Einsamkeit der schwangeren Mutter - die Naturharmonie als Symbol der Hoffnung auf das Neugeborene.

Messiaen: L´ame en bourgeon - Envant pale embryons, 2 Schlußstrophen mit Musik

In Olivier Messiaens Musik wird deutlich, daß Komposition und Improvisation im 20. Jahrhundert sich nach wie vor auch aus anderen Quellen speisen können als aus dem Wunsch, Klischees zu vermeiden. In seiner Musik spielen Aspekte der "Gestaltbildung" und Konfigurationen von "Gesten" eine wesentliche Rolle. Dies ermöglicht musikalische "Faßlichkeit". - In Verbindung mit musikalisch ausgedeuteten Texten (oder in anderen Fällen auch mit die Musik interpretierenden sprachlichen Kommentaren) ergeben sich "Beziehungen zwischen Mitteilung und Mitteilungsform, zwischen Sinn u nd Sinnträger". In seinen umfangreicheren Arbeiten läßt sich auch "Syntaktisches" und die "Organisation von Energieverläufen" studieren - ebenso wie das Spannungsverhältnis zwischen "Originalität" und "Redundanz" oder "Funktion von Klischees". - Seine musikalische Sprache definiert sich nicht nur in ihren technischen Grundlagen, sondern auch in der Übermittlung von Bedeutungen, "als Trägerin außermusikalischer Inhalte". Die Frage bietet sich an, wie sich in seiner Musik und in der Musik des 20. Jahrhundert unter diesen Aspekten die Erfindung und klangliche Realisation von Musik beschreiben läßt - insbesondere die Improvisation in ihrer Beziehung zur musikalischen Komposition.

Aus der Sicht des Komponisten könnte es naheliegen, Improvisation als musikalische Grunderfahrung in dem Sinne zu definieren, daß sie den Weg zur Komposition ebnen kann, also gleichsam deren Vorstufe darstellt. Diese Betrachtungsweise wäre aber zweifellos zu eng. Sie wäre nicht weniger kurzschlüssig als die Vermutung, daß die freie Rede nur als Vorstufe zum geschriebenen Text von Belang sein kann.

Im Bereich der Sprache wissen wir, daß dies nicht zutrifft, so unerfreulich diese Einsicht manchmal auch sein kann - wenn wir uns etwa auf den Sonderfall der politischen Rede, der Ansprache eines einzelnen an mehrere, beschränken und bedenken, wie viele Politiker in der Rolle des demagogisch geschickten Redners viel erfolgreicher waren als in der Rolle des politischen Schriftstellers. (Dies dürfte unbestritten sein selbst in extrem unterschiedlichen und kontroversen Beispielen, wenn man etwa einerseits an Adolf Hitler, andererseits an Rudi Dutschke denkt.)

Im Bereich der Musik gibt es viele erfreulichere und weniger umstrittene Beispiele dafür, daß die Bedeutung der freien, von einer kompositorischen Vorlage weitgehend oder gänzlich unabhängigen musikalischen Äußerung nicht unterschätzt werden darf. Selbst komponierte Musik wird im Zeitalter der audiovisuellen Massenmedien von den meisten Hörern gar nicht mehr als Komposition wahrgenommen. Das Bewußtsein, daß ein Interpret populärer Musik nicht seine eigene Musik singt, sondern Musik, die andere für ihn komponiert und arrangiert haben - dieses Bewußtsein ist vielen Hörern verloren gegangen. Mehr noch: Es ist davon auszugehen, daß heute eine Fülle von Musik erklingt, in der viele Hörer sich nicht dafür interessieren, vielleicht sogar auch gar nicht beurteilen können, ob es sich im die Intepretation komponierter Musik oder um improvisierte Musik handelt - ob die Musiker die von ihnen ausgeführte Musik selbst erfunden haben oder ob sie darbieten, was ein anderer oder andere erfunden haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Machart und klingendem Resultat, zwischen Struktur und Form, spielt nicht nur im Bereich der Komposition eine Rolle, sondern auch im Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation. Es lassen sich musikalische Situationen und Ereignisse vorstellen, in denen eine klare Abgrenzung zwischen beiden Bereichen nicht mehr möglich ist - sei es, daß sie tatsächlich unlösbar miteinander verbunden sind; sei es, daß für die Unterscheidung notwendige Informationen z. B. über Komponisten, Interpreten und Hörer (einschließlich möglicher Wechselbeziehungen zwischen diesen Personen und Personengruppen) sowie über Aufführungsbedingungen nicht zu erhalten sind.

Improvisation als Grenz- oder Grunderfahrung läßt sich selbst dann nicht ohne weiteres genauer bestimmen, wenn sie sich mit kompositorischen Elementen verbindet, die in der Regel leichter zu beschreiben sind. Relativ einfach zu beurteilen sind Sonderfälle wie Olivier Messiaens Orgelmusik, die sich traditioneller Notation angemessen fixieren läßt - und zwar nicht nur dann, wenn die Notation die Musik im voraus kompositorisch fixiert, sondern auch dann, wenn eine Improvisation nachträglich in konventioneller Notenschrift transkribiert wird. Schwierigere Situationen können sich dann ergeben, wenn die Improvisation den Rahmen des traditionell Notierbaren sprengt.

Dieses Problem ist spätestens seit der Zeit ins Bewußtsein gedrungen, als die Jazzmusik sich zu entwickeln und, vor allem über Radio und Tonträger, weltweit zu verbreiten begann. Die wichtigsten Besonderheiten dieser Musik lassen sich in traditioneller Notenschrift nicht wiedergeben - beispielsweise Tongebung, Artikulation und Klangfärbung sowie typische Besonderheiten der rhythmisch flexiblen Ausführung. Am Beispiel dieser Musik hat sich deutlich gezeigt, wie stark die Möglichkeiten der traditionellen Notenschrift auf die Musikkultur eingeschränkt sind, in der sie entwickelt worden ist: Der in traditioneller Notenschrift fixierten Transkription entzieht sich nicht nur die Jazzmusik, sondern alle Musik, die nicht in den Traditionszusammenhang der abendländischen Kunstmusik gehört - also Musik der anderen Weltkulturen, sogar bestimmte Bereiche autonomer, von der Kunstmusik mehr oder weniger unabhängiger europäischer Folklore. Versuche, solche Musik in traditioneller Notenschrift zu transkribieren und anschließend in traditionell notierten Kompositionen zu verwenden, hat es immer wieder gegeben - etwa bei Bela Bartok mit Melodien aus Ungarn oder seinen Nachbarländern oder bei Igor Strawinsky zunächst (in seinen "russischen Balletten") folkloristische Melodien aus einem Heimatland, später auch (seit der "Geschichte vom Soldaten") außereuropäische Anspielungen, etwa an Jazz oder Tango.

Erst im Laufe einer längeren Entwicklung ist deutlich geworden, wie schwierig es ist, den Stellenwert abendländisch geprägter Improvisation zu bestimmen im Vergleich mit der sogenannten "außereuropäischen Musik". Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, daß sich darüber streiten läßt, ob der Begriff "Improvisation" für außereuropäische Musik überhaupt angemessen ist - ob er, zumal als Gegenbegriff zur Kompositionen, nicht allzu stark an die Musikpraxis der abendländischen Musik gebunden ist. Noch schwieriger wird die Situation, wenn man über die Art und Weise nachdenkt, in der abendländische Komponisten Musik mit improvisatorischen Elementen, die an die mündliche Überlieferung gebunden ist, notiert und in traditionell notierte Kompositionen einbezogen haben. Derek Bailey hat uns daran erinnert, daß die wesentlichen Merkmale spontaner Improvisation bereits dann unkenntlich werden können, wenn man diese - sich eigentlich jeglicher Fixierung entziehende - Musikpraxis in Tonaufzeichnungen fixiert; um so fragwürdiger ist es aus dieser Perspektive, diese Musik zu fixieren in transkribierender Notenschrift und in der kompositorisch ausgestaltenden Notation einer Partitur. Eine Musik, die diesen Schwierigkeiten Rechnung tragen will, könnte versuchen, sie ausdrücklich zum Thema zu machen. Dies hat Mauricio Kagel getan, als er in seiner Musik die Schwierigkeit vorführte, außereuropäische Musik in der Nachahmung europäischer Improvisation.

Kagel: Ein Aufnahmezustand, 1. Dosis ca. 2´40 - 3´31 (ausgeblendet)

(quasi-außereuropäische Improvisation mit Christoph Caskel)

Am 4. Dezember 1969 kam im Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks ein Stück von Mauricio Kagel zur Ursendung, das die Paradoxie seines Vorhabens schon im Titel deutlich macht. Es heißt: "Ein Aufnahmezustand". Kagel thematisiert hier, besonders in dem damals gesendeten ersten Teil (den Kagel als "erste Dosis" bezeichnet), die Situation der Aufnahme im Studio, auch die Situation der Aufnahme improvisierter Musik, der Fixierung des eigentlich nicht Fixierbaren. Besonders deutlich wird die Merkwürdigkeit dieser Situation, wenn das Spiel exotischer Musik simuliert wird in der Nachahmung eines europäischen Improvisators. Kagel hatte hier, ebenso wie im gesamten Stück, sich einer List bedient, um trotz der Künstlichkeit der Studioatmosphäre die von ihm gewünschte Spontaneität zu erreichen. Er brachte alle beteiligten Musiker dadurch zum Improvisieren, daß er sie um improvisatorisches Üben bat, als Vorbereitung zur späteren Realisation der Begleitmusik zu einem Hörspiel. Die List bestand darin, daß ein Hörspiel, das eine Begleitmusik erfordert hätte, gar nicht vorgesehen war, sondern das die scheinbar vorläufigen Improvisationen selbst das Grundmaterial zum Hörspiel bilden sollten. Kagel kehrte das Prinzip der traditionellen Studiopraxis um: Anstatt sich auf die fertigen Klangresultate zu konzentrieren und die vorläufigen und vorbereitenden Aufnahme-Takes wegzuwerfen wählte er das scheinbar Vorläufige aus und verzichtete auf die angeblich idealen Endresultate. Gleichwohl sorgte er dafür, daß die fiktive Aufnahmesituation auch dem Hörer deutlich blieb - zum Beispiel dadurch, daß er im Hörspiel selbst vor dem Beginn der Pseudo-Improvisation die Studiosituation hörbar machte: Das Quietschen der Studiotür - den Dialog des Musikers mit dem Aufnahmeleiter, dessen Stimme über den Kommandolautsprecher zu hören ist, die gemeinsame Suche nach einem Titel für die merkwürdige quasi-exotische Musik - das vorbereitende Üben.

Ein Aufnahmezustand, 1. Dosis: 1. Teil Quasi-exotische Szene (Dialog vor der Aufnahme)

Mauricio Kagels experimentelles Hörspiel "Ein Aufnahmezustand" thematisiert die radikalen Veränderungen der musikalischen Praxis im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Außereuropäische Musik wird, im Widerspruch zu ihrer eigentlichen Zweckbestimmung, fixiert nicht einmal in ihrem originalen Klangbild, sondern sogar in Klischees der nachahmenden europäischen Improvisation. Kagel negiert diese Klischees nicht, sondern er provoziert sie ausdrücklich, um sie in seiner Musik verarbeiten zu können. Dies wird, besonders in der Auseinandersetzung mit außereuropäischer Musik, noch deutlicher in einer Komposition mit improvisatorischen Elementen, die in den Jahren 1970 und 1971 entstand: "Exotica für außereuropäische Instrumente".

Kagel: Exotica 21´ bis 22´53: Blasakzent, quasi-exot. Sprachfragmente, Trommeln

In "Exotica" kombiniert Kagel sechs solistische Partien mit der Wiedergabe von Tonbandeinspielungen "authentischer außereuropäischer Musik". Schon in den live-Partien, im Klang außereuropäischer Instrumente (die den Spielern in der Regel weniger vertraut sind) und in Kagels auf diese Situation abgestimmter, in manchen Aspekten unbestimmter Notation können sich gelegentlich quasi-improvisatorische Resultate ergeben - Resultate jedenfalls, die deutlich kontrastieren zum Klangbild nicht nur exotischer, sondern auch abendländisch-avantgardistischer Musik.

Vor allem Kagels Vorschriften, wie die Solisten auf diese Musikzuspielungen reagieren sollen, machen deutlich, daß in der Musik selbst die Fragwürdigkeit quasi-exotischer Improvisation offenbar werden soll. Kagel schreibt:

"Diese Einspielmodelle... werden ausgezeichnet, gut, mäßig oder sehr schlecht variiert oder nachgeahmt, und zwar in der Art, daß jeweils nur einzelne Parameter... in enger Beziehung zur ausgewählten Einspielmusik stehen."

So entsteht nach Kagels Worten

"eine sozillierende, zunehmend scharfe/unscharfe Nachahmung außereuropäischer Klangwelten mit täuschungsnahen Imitationen ("authentische" Apokryphen) und ungelenken Beschwörungsformeln."

Mauricio Kagel arbeitet mit Klischees vorgegebener, insbesondere auch exotischer Musik. Klischees und musikalische Stereotype werden in seiner Musik als solche erkennbar durch die Art, in der Kagel sie verfremdet. Kagel verleugnet nicht, daß er sich an einer Paradoxie versucht: an der Paradoxie der Komposition des nicht Komponierbaren. Seine Kompositionstechnik öffnet sich für improvisatorische Verfahren, weil sie in Grenzsituationen gerät - in Grenzsituationen sei es der traditionellen Hörspielregie und Aufnahmepraxis, sei es in der Konfrontation technisch konservierter Musik mit einem Notentext, bei dessen Ausführung Interpretation und Improvisation sich miteinander verbinden sollen. So artikuliert sich die Ambivalenz nicht nur der technischen Reproduktion, sondern auch der musikalischen Erfindung und der klanglichen Realisation - d. h. der Komposition, der Interpretation und der Improvisation: Die Auseinandersetzung mit musikalischen Klischees erweist sich als unvermeidlich - allerdings nicht in der Reduktion auf den simplen Versuch der Imitation, sondern im Versuch der kritischen Aufarbeitung im Bewußtsein dessen, daß die reine Imitation unmöglich und überdies sinnlos wäre.

Die Bereitschaft, Vorhandenes, Klischees und Stereotypen zur Kenntnis zu nehmen und sich produktiv damit auseinander zu setzen, hat in vielen wichtigen Stationen der Musikentwicklung des 20.Jahrhunderts die Suche nach neuen Wegen erleichtert. Wie stark dabei improvisatorische Aspekte auch in Bereiche des scheinbar unveränderlich Fixierten eingedrungen sind, läßt sich schon im frühesten Stadium einer Musik beobachten, die oft als radikales Gegenmodell zur improvisierten Musik beschrieben worden ist: In der Frühzeit der musique concrète - der ersten ausschließlich im Studio produzierten und über Lautsprecher abhörbaren Musik.

Der Zyklus der "Etudes de bruit" (Geräuschetüden), mit dem Pierre Schaeffer damals die von ihm erfundene musique concrète erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, schließt mit einem Stück, das nicht nur durch die Vielfalt seines Klangmaterials auffällt, sondern auch durch die große Bedeutung improvisatorischer Elemente. Schaeffer schreibt über diese Etüde (Musique concrète dt. S. 67):

"Zwei Sequenzen von rollenden Blechdosen... rahmen eine Reihe von Elementen ein, von denen der Autor gesteht, daß er sie wählte, ohne recht voraussehen zu können, was bei ihrer Überlagerung herauskäme...

Die Schallplatte, die mir in die Hand fällt, enthält die kostbare Stimme von Sascha Guitry: ´Sur tes lèvres, sur tes lèvres, sur tès levres...´, unterbrochen vom Husten des Scriptgrils, weshalb die Platte unter den Ausschuß geriet... Auf einen anderen Plattenteller lege ich den ruhigen Rhythmus eines biederen Schleppkahns; dann auf zwei weitere Teller, was mir gerade unter die Hand kommt: eine amerikanische Akkordeon- oder Harmonikaplatte und eine Platte aus Bali. Dann folgt ein Virtousenstück mit vier Reglern und acht Schaltern... Der Kanalschlepper aus Frankreich, die amerikanische Harmonika, die Priester aus Bali und das eintönige ´Sur tes lèvres´ gehorchen auf wunderbare Weise dem Gott der Plattenteller."

Schaeffer: Etude pathétique (1. Teil, ab 2. Blechgeräusch bis sur tes lèvres)

Schaeffers Beschreibung macht deutlich, daß sein Stück nicht nur als klanglich restlos fixiertes Studioprodukt beschrieben werden kann, sondern auch als improvisierte Schallplattencollage. Die Auseinandersetzung mit der klanglichen Realität, auch mit den von vielen Avantgardekomponisten seiner Zeit heftig abgelehnten Geräuschen des Alltags, die Aufarbeitung der Klischees und Stereotypen, die unsere Hörerfahrung prägen, hat er stets für wichtiger gehalten als Verfahren der musikalischen Erfindung, die von abstrakten Ideen ausgehen. Seine Opposition gegen den Rigorismus des abstrakten seriellen Musikdenkens, gegen den er seit den frühen fünfziger Jahren schwer zu kämpfen hatte, hat er einmal auf eine griffige Formel gebracht (Schaeffer S. 15):

"Die konkreten Musiker zweifelten an der Urzeugung, in der Musik wie anderswo."

Der Empirismus der konkreten Musiker führte zu Konzepten der musikalischen Erfindung, in denen, anders als in der frühen seriellen Musik, schon von Anfang an neben der Komposition auch die Improvisation eine wichtige Rolle spielte. Noch deutlicher als bei Schaeffer zeigt sich dies bei Pierre Henry, seinem kompositorischen Partner in der frühen Blütezeit der musique concrète. Henry hat später in seinem "Journal de mes sons", seinem kompositorischen Credo in Form eines Radiostückes aus fiktiven Tagebuchnotizen, berichtet, wie er zur musique concrète gekommen ist: Er experimentierte mit neuartig präparierten Instrumenten für eine Filmmusik. Schaeffer gab ihm die Anregung, die Improvisation mit Instrumenten und Klangerzeugern zu verbinden mit der Improvisation mit technischen Geräten. So ergab sich extrem genau, in der technischen Konserve fixierte Musik, das Idealbild der präzisen Komposition, im dialektischen Umschlag aus der potenzierten Improvisation.

Henry: Journal, Das Unsichtbare sehen

Freie Improvisation als Modell des spontan erfundenen, nicht im voraus fixierten Musik, ist schon frühzeitig in der direkten Konfrontation mit der streng fixierenden Lautsprechermusik in Erscheinung getreten. Schon 1948 experimentierte Pierre Schaeffer mit der Mischung von Klavierimprovisationen mit technisch manipulierten Klavierklängen. Noch weiter ging André Hodeir drei Jahre später: Er schuf gleichsam Musik auf zwei Ebenen, indem er eine aus improvisatorischen Wurzeln entwickelte Musikart sowohl im live-Spiel als auch mit technisch vorproduzierten Klängen ausgestaltete: Die Jazzmusik - vervielfältigt mit sich selbst in seiner Komposition "Jazz et Jazz".

Hodeir: Jazz et Jazz (Ausschnitt)

Die technischen Medien schaffen paradoxe Möglichkeiten der Speicherung und beliebig häufigen Wiederholung improvisierter Musik - einer Musik, die ihrer ursprünglichen Bestimmung nach eigentlich nur zum einmaligen Erklingen bestimmt ist. In diesem Sinne kann sich Improvisation als Grenzerfahrung gerade in der Konfrontation mit technisch produzierter und fixierter Musik bewähren. Dies wird besonders in der Arbeit von Pierre Henry schon frühzeitig deutlich - etwa in dem 1954 entstandenen Stück "Kesquidi", das im quasi-improvisatorischen Duktus gestaltet ist, wie ein surrealistischer Dialog eines Sprechers mit einer Stimme, die völlig unverständliche und fremdartige Laute hervorbringt.

Henry: Kesquidi

Ein neueres Beispiel für die Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren, für die Integration von Improvisation und technisch fixierter Musik, ist das 1993 entstandene Tonbandstück "Kilim" von Alistair Macdonald. Macdonald betrachtet dieses Stück als Antwort auf sein Ausgangsmaterial, das viele improvisierte Instrumentalklänge enthält. Das Interesse dieser Komposition richtet sich nach seinen Worten darauf, das Dilemma aufzulösen, das darin besteht, daß man den Klängen erlaubt, instrumental wiedererkennbar zu sein, all ihre Energie zu bewahren - und daß die Klänge trotzdem benutzt werden, um Gesten komponierter Lautsprechermusik zu erzeugen.

In der Musik von Alistair Macdonald läßt sich sowohl Komposition als auch Improvisation als Grenzerfahrung erleben - im dialektischen Umschlag des einen in das andere. Fixiertes und nicht Fixiertes begegnen sich diesseits und jenseits des Klischees.

Alistair Macdonald: Kilim

Die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts unter neuen Perspektiven:

Komposition und Improvisation -

Fixiertes und nicht Fixiertes - Auseinandersetzung mit Klischees

S. 1

Komposition und Improvisation - Fixiertes und nicht Fixiertes

S. 1

(Un)voraussehbarkeit - (Un)erwartbarkeit

S. 3

Wandlungen der Musiksprache:

Diesseits und jenseits der KLISCHEES

S. 4

Wandlungen der KOMPOSITION im 20. Jahrhundert:

Klischee-Vermeidung und Klischee-Verarbeitung

S. 8

Neue Möglichkeiten der IMPROVISATION in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts:

Improvisation als Grenz- oder Grunderfahrung?

S. 16

(Fixiertes und nicht Fixiertes in Komposition und Improvisation)

(Respektierung und Tabuisierung von Klischees in Komposition und Improvisation)

Die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts unter neuen Perspektiven:

Komposition und Improvisation -

Fixiertes und nicht Fixiertes - Auseinandersetzung mit Klischees

(kein Hörbeispiel)

Komposition und Improvisation - Fixiertes und nicht Fixiertes

(S. 2 evtl. Weekend, Der Tribun, Aufnahmezustand, Innen)

(S. 3 evtl. elektroak. Musik: Et. aux ch. de fer, Conc. Diapason, Jazz et Jazz, Studie I)

(Un)voraussehbarkeit - (Un)erwartbarkeit

(S. 4 Credo un US, evtl. - falls nicht schon vorher - Conc. Diapason, Jazz et Jazz)

Wandlungen der Musiksprache: Diesseits und jenseits der KLISCHEES

(S. 5 Henry: Vocalises, evtl. dazu gesungener Ausgangston auf Vokal a)

(S. 5 Lucier: I am sitting in a romm; Dodge, Speech Songs Nr. 1; Bayle, It)

(S. 6 evtl. Chion, Le prisonnier du son, Zitat Berio Visage)

(S. 8 oben evtl. Cage, Living Room Music)

Wandlungen der KOMPOSITION im 20. Jahrhundert:

Klischee-Vermeidung und Klischee-Verarbeitung

1) 0´10: S. 8: Tonal oder atonal? (Schönberg, Satire op. 28 Nr. 1)

(S. 9: evtl. Wiederholung: Tonal oder atonal?)

2,3) 1´08: S. 10: Wozzeck II, 1: Was der Bub...

3)Geld, Marie - Gott vergelts, Franz - bis Schluß

4) 3´24: S. 11: Stockhausen, Studie I

5) 4´13: S. 13: Schönberg, Klavierkonzert, Anfang

(evtl. S. 13: Schönberg op. 31 a) tonale Harmonisierung, b) zwölftönige Harmonisierung)

6) 4´59: S. 14: Stockhausen, Hymnen: 4. Region Erinnerung GB (nur elektronische Musik)

7) 5´56: S. 14: Stockhausen, Hymnen: 4. Region Erinnerung GB (el. Musik mit Solisten)

8) 6´53: S. 14: Stockhausen, Hymnen mit Solisten: Schluß Brücke Region III-IV, Anfang Region IV

Neue Möglichkeiten der IMPROVISATION in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts:

Improvisation als Grenz- oder Grunderfahrung?

9) 9´18: S. 19: Nuova Cons. 6: Wenig aber kurz (SFB 15. 12. 69)

10) 11´25: S. 19: Messiaen: L´ame en bourgeon -

Einl. und 1. Textstrophe zu Enfant, pale embryon

11), 12´40: S. 20: Messiaen: L´ame en bourgeon - Enfant pale embryon, 2 Schlußstrophen mit Musik

12) 13´23: Messiaen: L´ame - Enfant: Nachspiel A-Dur

13) 14´38: S. 22: Kagel: Ein Aufnahmezustand,

1. Dosis: Quasi-exotische Improvisation Caskel

14) 15´30: S. 22: Kagel: Ein Aufnahmezustand, 1. Dosis: Dialog vor quasi-exotischer Improvisation

15) 17´00: S. 22: Kagel: Exotica 21´bis 22´53 (Blasakzent, quasi-exot. Sprachfragmente, Trommeln)

16) 18´48: S. 24: Schaeffer: Etude pathétique (1. Teil, ab 2. Blechgeräusch bis sur tes lèvres)

17) 20´53: S. 24: Henry: Journal: Das Unsichtbare sehen

18) 21´52: S. 24: Hodeir: Jazz et Jazz

19) 20´42: S. 24: Henry: Kesquidi

20) 24´09: S. 25: Macdonald: Kilim
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