Rudolf Frisius
Rudolf Frisius
UNSICHTBARE MUSIK ALS AKUSTISCHE KUNST - MUSIK IM WEITEREN SINNE:
TECHNISCH PRODUZIERTE ALLKLANG-KUNST - DIE MUSIQUE CONCRÈTE
I.
Diesseits und jenseits der Neuen Musik
Wandlungen der Musik und des musikalischen Hörens
Beispiel 1: Pierre Schaeffer: Pochette surprise. WER 30252, take 1
55´´
Was ist konkrete Musik? Gefällt diese Musik dem Hörer oder nicht?
Pierre Schaeffer, der 1948 diese Musikart begründet
und die Leitung ihres ersten Produktionsstudios übernommen hat,
hat in einem kleinen Hörspot, der 1952 entstanden ist,
vorgeführt, wie schwierig diese Frage zu beantworten ist:
Man hört, wie verschiedene Musikausschnitte vorgeführt werden
und wie ein Mann seine Kommentare dazu abgibt:
Populäre Filmmusik und radikal avantgardistische Musik mag er nicht.
Er liebt das Volkslied in klassischer (oder auch pseudo-klassischer) Aufbereitung.
Als ihm aber schließlich konkrete Musik vorgeführt wird, bleibt er stumm:
Er kann nicht spontan sagen, ob ihm diese Musik gefällt oder nicht.
Statt dessen ist die Stimme des Autors Schaeffer zu hören:
Er fragt seinen Hörer nach dem Urteil über diese Musik. Die Antwort aber bleibt offen.
Deutlich wird allerdings, daß die konkrete Musik kein eindeutiges Profil hat:
Bald erscheint sie im radikal avantgardistischen Klangbild,
bald in rätselhaft subtilen, schwer zu bewertenden Klangstrukturen
als Lautsprechermusik, die sich nur schwer rubrizieren läßt.
Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der etikettierten Musik.
Besonders beliebt geworden sind etikettierende Unterscheidungen
zwischen dem eingängig Populären und dem sperrig Avantgardistischen.
In vielen Bereichen des Musiklebens dominiert Musik, die sich leicht einordnen läßt
und dies gilt nicht nur im Bereich der live dargebotenen,
in Aufführungen präsentierten Musik,
sondern vor allem auch für die über Massenmedien verbreitete Musik
für Musik auf Tonträgern, für Musik in Radio, Fernsehen und Film.
Es gibt viele Musik,
zu der der Hörer sich schon nach wenigen Sekunden eine Meinung bilden kann
sei sie positiv oder auch negativ.
Beispiel 2: Ausschnitt aus Beispiel 1 (4´´-12´´)
Filmmusik "Der dritte Mann" Männerstimme: Oh non, non, pas ca! Non!
8´´
Musik, die sich schon nach wenigen Sekunden identifizieren läßt, macht es dem Hörer einfach:
Er kann sich ziemlich leicht vorstellen, wie es weitergeht.
Wenn keine größeren Überraschungen zu erwarten sind, erleichtert ihm das die rasche Urteilsbildung.
Insofern ist er selbst dann zufrieden,
wenn er rasch herausfindet, daß die Musik nicht nach seinem Geschmack ist.
Dies zeigt Schaeffer zu Beginn seiner Hörszene:
Ein Hit aus der damaligen Zeit wird angespielt: Musik zum Film "Der dritte Mann."
Dann meldet sich ein französischer Hörer mit gehobenem Durchschnittsgeschmack:
Diese Musik ist ihm offensichtlich zu vordergründig populär, zu vulgär.
Die Fortsetzung der Szene zeigt dann aber, daß auch das andere Extrem ihm nicht gefällt:
Eine radikal avantgardistische konkrete Musik.
Beispiel 3: Ausschnitt aus Beispiel 1 (12´´-20´´)
Konkrete Musik "Antiphonie" (Pierre Henry) Männerstimme: Ah, ce n´est pas possible!
8´´
Pierre Schaeffer, der französische Radiopionier, zeigt in dieser kleinen Hörszene,
daß Musik des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich klingen kann
daß z. B. auch die konkrete Musik
sich keineswegs immer auf rigorosen Avantgardismus festlegen läßt.
Andererseits bleibt unbestritten, daß Musik auch in extrem unterschiedlichen Erscheinungsformen
sich oft für einfache Etikettierungen anbietet.
Unter dieser Perspektive erscheinen marktgängige Massenmusik
und experimentelle Avantgardemusik wie zwei Seiten derselben Medaille
zumindest dann, wenn im einen wie im anderen Falle
die Musik so weitergeht, wie sie angefangen hat;
wenn der Hörer also rasch das passende Etikett finden
und sich seine Meinung dazu bilden kann.
Überraschende Vielfalt, die sich wirksam gegen voreilige, klischeebelastete Wertungen sperrt,
bleibt dennoch für konkrete Musik ein hohes, allerdings schwer erreichbares Ideal.
Pierre Schaeffer hat in seiner Radioarbeit schon frühzeitig versucht,
etablierte Abgrenzungen zwischen verschiedenen Sektoren des Musiklebens aufzubrechen
und dabei auch dem scheinbar Bekannten neue Seiten abzugewinnen.
Er ging davon aus, daß hierfür die Arbeit in einem modernen Massenmedium wie dem Radio
wichtige Ansatzmöglichkeiten bietet
zumindest dann, wenn die Radioprogramme über die etablierten Spartentrennungen hinausführen;
wenn also Musik gesendet wird, die von den spezifischen
Produktions- und Verbreitungsmöglichkeiten des Radios Gebrauch macht.
Deswegen hat Schaeffer im Rundfunk Musik realisiert,
obwohl er eigentlich kein professionell ausgebildeter Komponist,
sondern gelernter Radioingenieur war.
Überdies hat er schon frühzeitig Sorge dafür getragen,
daß in seinem Studio auch Musiker arbeiten konnten,
die nicht unbedingt den standards eines professionellen Avantgarde-Komponisten entsprechen.
Dies kümmerte ihn nicht, sofern nur sichergestellt war,
daß in seinem Studio medienspezifische Musik produziert wurde,
die anders klingt als live Gesungenes und Gespieltes:
Konkrete Musik als radiophon produzierte Lautsprechermusik.
Eines der ersten Beispiele dieser spartenübergreifenden Medienmusik
war eine Produktion, zu der Pierre Schaeffer 1951
den Jazzexperten André Hodeir in sein Studio eingeladen hatte.
Dieses Stück läßt sich beschreiben als Musik zweiten Grades:
Komponiert sind nicht notierte, von Interpreten klanglich zu realisierende Klänge,
sondern Aufnahmen gespielter Jazzmusik, die sich verbinden
mit verfremdeten, im Studio produzierten Klängen.
So erscheint scheinbar wohlbekannte Jazzmusik in neuartigen Zusammenhängen,
z. B. ein vom Komponisten ausnotiertes Klaviersolo
und ein Tutti mit Passagen von Trompete, Kontrabaß und Schlagzeug.
So entsteht eine Musik mit zwei Gesichtern, auf die auch der Doppeltitel verweist:
"Jazz et Jazz"
Musik im Niemandsland zwischen improvisierten und komponierten,
zwischen live gespielten und technisch produzierten Klängen.
Beispiel 4: André Hodeir, Jazz et Jazz (1951) vollständig. Archiv GRM Paris, Band 014
3´02´´
"Jazz et Jazz", Aufnahmen gespielter und technisch produzierter Klänge, verbindet André Hodeir 1951 in einer Produktion, die sich nur schwer klassifizieren läßt. Sie paßt weder zu den standards der Jazzmusik noch zu denen der Neuen Musik. Klangkunst aus dem Lautsprecher artikuliert sich hier als ästhetische Grenzüberschreitung: Musik zwischen E und U, zwischen konventionellem Jazz und experimenteller Moderne.
Was André Hodeir 1951 mit Jazzmusik versuchte, hat 1969, fast zwei Jahrzehnte später, Bernard Parmegiani auf den Bereich der Popmusik übertragen. Auch er hat seine Absicht programmatisch schon im Werktitel deutlich gemacht. Das Stück heißt "Popeclectic". Bei der kompositorischen Ausführung geht Parmegiani allerdings noch einen Schritt weiter als Hodeir: Ihm geht es nicht nur um eine einzige Musikart und um ihre Konfrontation mit technischen Klängen. Wichtiger erscheint ihm der Versuch einer umfassenden klanglichen Integration: Popularmusik wird hier bruchlos eingeschmolzen in ein umfassendes Klangkontinuum. Man hört nicht nur an Popmusik erinnernde Schlagzeugrhythmen und Synthesizerklänge, sondern auch Anklänge an klassische Musik und sogar an Alltagsklänge: an Motorgengeräusche.
Beispiel 5: Bernard Parmegiani, Popeclectic (Ausschnitt). Klett 3-12-08762 0-3
2´17´´
Lautsprechermusik, die sich über die Grenzen vorgegebener Musikarten hinausbegibt, kann sich verwandeln in "Musik im weiteren Sinne": Als technisch produzierte Allklang-Kunst, als deren Material sogar vorgegebene, musiksprachlich und stilistisch vorfixierte Musik dienen kann, die sich vielfältig weiterverarbeiten läßt in Montagen, Klangveränderungen und Mischungen. Diese Musik präsentiert zugleich das Bekannte im Unbekannten und das Unbekannte im Bekannten. Es ist dabei zu vielfältigen Grenzüberschreitungen zwischen populärer und avantgardistischer Musik gekommen. In diesem Kontext einer grenzüberschreitenden Musik konnten neuartige experimentelle Klänge auch weitere Publikumsschichten erreichen, die bis dahin mit Neuer Musik wenig in Berührung gekommen waren. Eines der bekanntesten Beispiele für solchen Avantgarde-Pop (bzw. für solche Pop-Avantgarde) ist eine 1967 entstandene Produktion, in der der Tonbandmusiker Pierre Henry und der Popmusiker Michel Colombier zusammenarbeiteten: "Messe pour le temps présent" ("Messe für die gegenwärtige Zeit"). Als Ballettmusik für Maurice Béjart, aber auch als Schallplatte und als Musikkonserve für die juke box wurde diese Musik außerordentlich populär. Eine ihrer Nummern erschien interessant und eingängig genug, um lange Zeit als Erkennungsmusik einer Abendsendung des Südwestfunks zu fungieren: der "Jéricho Jerk".
Beispiel 6: Henry, Messe pour le temps présent, 4. Satz Anfang)
Jéricho Jerk. Philips 412 706-2, take 4
1´03´´
Eine der erfolgreichsten Schallplatten Neuer Musik, die später auch als CD herausgebracht worden ist, war die Kopplung der populären "Messe pour le temps présent" mit einer radikal experimentellen Tonbandkomposition: "Le Voyage" (Die Reise) Musik nach dem tibetanischen Totenbuch von Pierre Henry. In dieser Komposition gibt es keinerlei Anklänge an Muster der Popularmusik. Dennoch ist sie in dieser originellen und wagemutigen Schallplatten-Kopplung einem breiteren Publikum zugänglich geworden als Musik, die sich dem Stempel des angeblich Exklusiven, Unzugänglichen widersetzt. Diese Lautsprechermusik stellt sich einem größeren Publikum, ohne sich dabei im mindesten anzubiedern.
Beispiel 7: Henry: Le Voyage, 4. Satz: Divinités irrités (Anfang). Philips 412 706-2, take 10
1´02´´
Die 1962 entstandene Komposition "Le Voyage" von Pierre Henry ist klanglich radikale konkrete Musik, die gleichwohl weiteren Hörerkreisen zugänglich geworden ist. Sie steht in einer Tradition radikal-experimenteller konkreter Musik, die sich bis in die frühen fünfziger Jahre zurückverfolgen läßt als Musik, die zu ihrer Entstehungszeit mit heftigem Hörerprotest rechnen durfte.
Beispiel 8: Pierre Schaeffer: Pochette surprise (Ausschnitt 12´´-20´´). WER 30 252, take 1
Antiphonie (Henry) - Männerstimme: Ah, ce n´est pas possible Schott 1, 12´´ - 20´´
8´´
Was in den frühen fünfziger Jahren manchen Hörer zu schockieren vermochte, hat auch am Ende des 20. Jahrhunderts seine provozierende Kraft noch nicht verloren. In knapp drei Minuten präsentiert sich das Stück "Antiphonie" als schroffe Absage an alle kulinarischen Hörerwartungen.
Beispiel 9: Pierre Henry: Antiphonie. Les années 50, disque 2 take 6. Mantra 032, WM 366, 64 2032
2´58´´
In der Tonbandkomposition "Antiphonie" arbeitet Pierre Henry mit winzigen, minutiös geschnittenenen und kontrastweise montierten Fragmenten auf Tonband aufgenommener Klänge. Die kurzen Tonbandfragmente lassen häufig noch ihre ursprüngliche Herkunft erkennen zum Beispiel dann, wenn es sich um aufgenommene Stimm- und Sprachfetzen handelt. Andererseits ist aber auch unverkennbar, daß die Verarbeitung der Klänge, ihre Einbindung in rigoros durchkonstruierte Montagestrukturen, hier wichtiger ist als ihre ursprüngliche Herkunft. Dennoch bleibt die Musik janusköpfig: Die Klänge verleugnen nicht ihre Herkunft aus der alltäglichen Hörwelt, die zuvor in der Musik weitgehend tabuisiert gewesen war. Andererseits steht ihre anekdotische Herkunft in produktiver Spannung zu ihrer radikal konstruktiven Verwendung. Das Stück entstand zu einer Zeit, in der auch außerhalb des Pariser konkreten Musikstudios jüngere Komponisten Interesse an kompromißlos rigorosen musikalischen Konstruktionen gefunden hatten. Erste Anregungen hierfür hatte Olivier Messiaen schon vor 1950 gegeben. Einige seiner Schüler gingen noch weiter und entwickelten erste Modelle radikal durchkonstruierter serieller Musik. Einer der ersten unter ihnen war Pierre Boulez. Serielle Verfahren erprobte er zunächst in instrumentalen Werken, dann auch in der Arbeit mit konkreten Klängen. 1951, also in demselben Jahr wie Henrys "Antiphonie", entstand seine "Etude 1" für Tonband ein Werk, dessen gesamtes Material aus einem einzigen Ausgangsklang abgeleitet ist.
Beispiel 10: Boulez, Etude 1 (1951). Archiv GRM, Band 017,1
2´25´´
Ende 1952 bekam auch Karlheinz Stockhausen Gelegenheit, in Schaeffers Studio eine konkrete Etüde zu realisieren. Auch seine Komposition verarbeitet aufgenommenes Material in strengen Reihenstrukturen, die durch mechanische Transposition und Bandschnitt genauestens reguliert werden.
Beispiel 11: Karlheinz Stockhausen: Etude, Musique concrète (1952).
CD-Edition Stockhausen, CD 3 take 1
3´15´´
(Eine kürzere Fassung des Stückes findet sich im Archiv GRM: Band 064, Dauer 1´13´´)
1´13´´
Radikal durchkonstruierte, exponiert avantgardistische konkrete Musik entstand vor allem in den frühen fünfziger Jahren Musik aus präzis geschnittenen, montierten und (z. B. durch Transposition oder Rückwärtswiedergabe) veränderten Klängen. Besonderheiten im Klangbild dieser Musik ergaben sich daraus, daß rigorose, theoretisch exakt vorbestimmte kompositionstechnische Verfahren hier ausprobiert werden an aufgenommenen, der empirischen Realität entnommenen Klängen, die eigentlich sich gegen theoretische Vorausbestimmungen weitgehend sperren. So kann hörbar werden, daß Klänge, die sich im ursprünglichen Zustand frei artikuliert hatten, in der technischen Verarbeitung geradezu malträtiert erscheinen. Dieses paradoxe Spannungsverhältnis zwischen Klangmaterial und Kompositionstechnik kann beim Hören solcher Stücke extrem deutlich werden. Mit geradezu sarkastischer Schärfe hat dies Pierre Henry herausgearbeitet, als er 1952 seine "Vocalises" (Vokalisen) realisierte, die aus einem einzigen Gesangslaut abgeleitet sind, der dann aber in extremen Transpositionen mit Zeitraffer- und Zeitlupeneffekten vielfältig verzerrt und verfremdet wird.
Beispiel 12: Pierre Henry: Vocalises:
Ausgangsmaterial (Vokal a, auf g1 gesungen von einer Frauenstimme) - Stück
WER 30 252, take 14
2´49´´
Musique concréte im Sinne einer radikal durchkonstruierten Musik hat es nur in wenigen historischen Ausnahmesituationen gegeben. Viele Musiker, die dies zunächst in den frühen fünfziger Jahren versucht hatten, wandten sich bald wieder davon ab und gaben die konkrete Musik auf, um entweder wie Pierre Boulez zur Instrumentalmusik zurückzukehren oder wie Karlheinz Stockhausen theoretische Konstruktionen im Bereich der Arbeit mit synthetischen Klängen, in der elektronischen Musik zu erproben, die sich besser hierfür zu eignen schien. Es stellte sich dann relativ rasch heraus, daß seriell-konstruktives Musikdenken, das damals viele jüngere Komponisten lebhaft interessierte, sich nicht ohne weiteres aus der Instrumentalmusik in den Bereich der elektroakustischen Musik übertragen ließ. Insofern klingen die "Vocalises" von Pierre Henry aus heutiger Sicht wie ein Adieu an eine in allen Details fixierte serielle Tonbandmusik als auskomponierte Paradoxie, vergleichbar der fast gleichzeitig entstandenen Tonbandcollage "Williams Mix" von John Cage, deren Klang- und Zeitorganisation sich aus der Synthese von strukturierendem Denken und Zufallsmanipulationen ergibt. Bei Cage zeigt sich, wie auch in anderer Weise bei Henry, das schwierige Spannungsverhältnis zwischen Zufälligkeit und Vorherbestimmung in der elektroakustischen Musik.
Beispiel 13: John Cage: Williams Mix. WER 6247-2, CD 3, take 2
4´13´´
Die konkrete Musik ist entstanden als Kunst der aufgenommenen, technisch verarbeiteten und über Lautsprecher wiedergegebenen Klänge.
Um ihr Wesen genauer zu ergründen, empfiehlt sich die genauere Bestimmung ihres Verhältnisses
nicht nur zur gegenwärtigen, sondern auch zur traditionellen Musik.
Dieses Verhältnis hat Pierre Schaeffer in eigenwilliger Weise charakterisiert,
als er 1952 in seinem Hörspot "Pochette surprise" darstellte,
wie ein Hörer einerseits auf traditionelle Musik reagiert,
anderseits auf konkrete Musik, die sich vom eindeutig Avantgardistischen entfernt.
Beispiel 14: Pierre Schaeffer: Pochette surprise. Ausschnitt aus WER 30 252 (20´´-55´´)
Populäre Musik: Ah, vous dirais-je, Maman (Gesang und Klavier)
mit Kommentar Jean Toscane: Ah, oui. J´aime mieux ca vraiment. -
Konkrete Musik mit hohen zwitschernden Klängen: Pierre Henry, Les insectes -
Fragen von Pierre Schaeffer an Jean Toscane:
Qu´est-ce que vous dites de ca? Est-ce que c´est plaisant ou non?
35´´
Der Schauspieler Jean Toscane, der in diesem Hörspot die Rolle des Radiohörers spielt,
ist erst dann zufrieden, wenn traditionelle Musik erklingt:
Ein französisches Volkslied,
gesungen von einer Belcanto-Sängerin mit Klavierbegleitung,
findet sein uneingeschränktes Lob.
Es ist das erste Musikbeispiel, das nicht unter Protest abgebrochen wird, sondern sich fortsetzt.
Allerdings verändert sich die Musik:
Zuerst wird das Lied kurz variiert.
Dann wechselt die Musik:
Man hört hohe, zwitschernde Klänge, die anders sind als alles vorher Gehörte.
Pierre Schaeffer fragt seinen Hörer, ob ihm nun diese Klänge gefallen oder nicht. Es sind Klänge, die später in einer Komposition von Pierre Henry,. dem damaligen Mitarbeiter von Pierre Schaeffer, bekannt geworden sind - in einer Musik der Insekten.
Beispiel 15: Pierre Henry: La Reine verte - Les deuxièmes insectes (Anfang). Phi 6332 015, take A5
2´
Pierre Schaeffer ist ein Pionier
neuer Radiokunst und einer neuen, mit radiophonen Mitteln arbeitenden neuen Musik.
Voreilige Etikettierungen, denen solche und andere Musik oft ausgesetzt ist,
greift er auf, um sie in Frage zu stellen.
Deswegen interessiert er sich auch für Klänge und Klangstrukturen,
die sich nicht ohne weiteres einordnen lassen
für Musik, der man längere Zeit zuhören muß, um ihr Wesen zu ergründen;
für Musik jenseits der Abgrenzungen zwischem dem Populären und dem Avantgardistischen,
zwischen dem Altvertrauten und Neuartigen.
Seit den vierziger Jahren hat Schaeffer maßgeblich dazu beigetragen,
die musikalische Erfindung und das Hören von Musik
im Zeitalter des Lautsprechers grundlegend zu verändern.
Die neuartige Lautsprechermusik, die er produzierte,
hat ihn immer wieder dazu angeregt,
Neues genauer zu erforschen auch im Vergleich mit dem scheinbar Wohlbekannten.
In seiner letzten Komposition, die 1979 entstanden ist, ging er so weit,
seine eigenen Klänge zu infiltrieren in ein Präludium von Johann Sebastian Bach.
Beispiel 15: Pierre Schaeffer: Bilude. WER 30 252, take 2
2´15´´
"Bilude" ist eine Komposition für Klavier und Tonband.
Das Stück beginnt mit vier (vom Tonband erklingenden) Metronomschlägen,
die dem Pianisten den Takt angeben sollen.
Er beginnt, ein bekanntes Musikstück zu spielen:
Das c-moll-Präludium aus dem ersten Teil
des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach.
Er spielt zwei Takte und bricht dann ab.
Danach setzt das Tonband ein:
Man hört die zwei folgenden Takte
allerdings nicht auf dem Klavier, sondern auf dem Cembalo.
Wenn das Stück im Konzertsaal aufgeführt wird,
antwortet dem sichtbaren Klavierspieler also ein unsichtbarer Cembalospieler.
Dem live-Spiel auf dem modernen Klavier
folgt technisch konserviertes Spiel auf einem historischen Instrument, dem Cembalo.
Beispiel 16: Pierre Schaeffer: Bilude, Ausschnitt (0´´-12´´)
4 Metronomschläge (2´´), Musik Takt 1-4: 2 Takte Klavier 2 Takte Cembalo
12´´
Wechsel zwischen Klavier und Tonband finden sich auch im weiteren Verlauf,
jetzt aber in kürzeren Abständen zunächst im Wechsel von Takt zu Takt.
Vom Tonband sind jetzt nicht Cembaloklänge zu hören,
sondern technisch verfremdete, gleichsam verwackelte Klavierklänge.
Beispiel 17: Pierre Schaeffer: Bilude, Ausschnitt (13´´-23´´)
Fortsetzung der Musik mit taktweisem Wechsel, T. 5-8: Klavier live verwackelt, live verwackelt
10´´
Im Tonbandpart wird deutlich, daß die Musik sich von den live-Klängen entfernt:
Zu hören sind nicht gespielte, sondern technisch aufzeichnete, aufgenommene Klänge.
Im Folgenden wird dies noch deutlicher,
wenn die Musik sich mehr und mehr von Bachs Tonstrukturen löst
und wenn dann in Bachs Rhythmen nicht mehr Töne,
sondern verfremdete Töne oder sogar Geräusche zu hören sind:
In zunehmend kürzeren Abständen;
mit zunehmend stärker hervortretenden Tonband-Einschüben,
die bald länger werden als die Klavier-Fragmente
und schließlich sogar gleichzeitig mit dem Klavier zu hören sind.
Beispiel 18: Pierre Schaeffer: Bilude, Ausschnitt (24´´-1´12´´)
Fortsetzung der Musik mit verfremdeten Tönen und Geräuschen,
bis 1. Zäsurton auf Orgelpunkt (mit hinzugeblendetem Geräusch klappernder Holzstäbe)
48´´
Sobald die aufgenommenen Geräusche gleichzeitig mit dem live-Klavierspiel zu hören sind, lösen sie sich endgültig vom Rhythmus des Bach-Präludiums:
Gleichzeitig mit der Steigerung, die in Bachs Präludium zu einem Orgelpunktton führt,
hört man sich beschleunigende Klänge eines Blechtellers.
Später werden die Geräusche noch wichtiger,
da sie die Musik nicht nur überlagern, sondern auch dabei verändern:
Jedes Mal, wenn der Orgelpunktton erreicht ist,
bleibt die Musik stehen,
und der ausgehaltene Klavierton überlagert sich dann mit Tonbandklängen.
Beispiel 19: Pierre Schaeffer: Bilude, Ausschnitt (53´´-1´35)
Einsatz f-moll bis Einsatz des Orgelpunkttones zu Beginn der Stretta,
Hinführung zum Orgelpunktton, umspielter Orgelpunkt, mit Einblendungen konkreter Klänge:
accelerierend rotierender Blechteller klappernde Stäbe - Impulse - mexikanische Flöte (Ausschnitt aus Schaeffer, Flute mexicaine) - Eisenbahn (Ausschnitt aus Schaeffer, Etude aux chemins de fer)
42´´
Am Schluß des Stückes erklingt die Musik Bachs gleichzeitig vom Klavier
und (teilweise mit verfremdeten, präparierten Klavierklängen) vom Tonband.
Hier wird vollends deutlich, daß selbst Bachs Notentext
die live gespielten und die aufgenommenen Klänge nicht zu vereinigen vermag:
Ein synchrones Miteinander beider Klangschichten gelingt nicht,
die Musik fällt auseinander.
Beispiel 20: Bilude, Schluß: Stretta (1´35 2´15)
40´´
Die kurze Tonbandkomposition "Bilude" läßt sich interpretieren als umfunktionierte traditionelle Musik: Eine vollständige traditionelle Komposition erklingt im antitraditionellen Kontext:
Nicht live gespielt im Konzert, auch nicht in einer die live-Atmosphäre suggerierenden technischen Aufzeichnung, sondern im Kontext von Klängen, die sich live im Konzertsaal nicht produzieren lassen. Das Stück präsentiert sich als ironisch-nostalgisches Eingeständnis dessen, daß beide Welten anscheinend miteinander unvereinbar sind die traditionelle live-Musik und die moderne technisch produzierte Musik. Bachs Musik ertönt gleichsam geklont als technisches Abbild des eigentlich technisch nicht Abbildbaren.
Die Tonbandklänge, die Schaeffer in Bachs Präludium einschiebt, münden ein in Ausschnitte aus seinen eigenen Kompositionen - inStationen konkreter Musik, denen später verzerrte Bach-Imitationen folgen. So entstehen konkrete Konkrapunkt zur Musik Bachs.
Beispiel 21: Bilude, konkrete Zuspielungen (Zuspielband). Archiv GRM
1´47´´
Konkrete Musik ist die Absage
an alle trügerischen Gewißheiten über das angebliche Wesen der Musik.
Ihre Musiker versuchen, die verwirrende Vielfalt
der bekannten und unbekannten, der dokumentarischen und imaginären Klänge
zum Sprechen zu bringen.
In dieser Musik geht es nicht darum, alte oder neue Klänge
vorgegebenen musikalischen Regeln zu unterwerfen.
Dieser technisch produzierten Musik steht potentiell
die unendliche Vielfalt aller Klänge zur Verfügung,
die sich aufnehmen oder synthetisch erzeugen
und, gegebenenfalls in klanglicher Verarbeitung,
konservieren und hörbar machen lassen.
Zu ihrem klanglichen Potential gehört also auch alle bereits existierende Musik,
sofern sie der technischen Konservierung und Verarbeitung zugänglich ist.
So entwickelt sich ein ambivalentes Konzept der Musik:
Einerseits erweitert sich ihr Areal
durch die Erweiterung der Tonkunst zur universellen Klangkunst
(unter Einbeziehung nicht nur beliebiger Geräusche oder Stimmäußerungen,
sondern auch beliebiger vorgefundener Musik).
Andererseits erweist Musik im bisher bekannten Sinne
sich als Spezialfall:
Klänge, die wir leicht als Musik identifizieren können,
werden hörbar in Verbindungen mit anderen Hörereignissen,
von denen wir vielleicht (noch) nicht wissen,
ob auch sie Musik sind
oder ob sie in Zusammenhänge hineinführen,
die über die Musik hinausreichen.
Wenn wir konkrete Musik hören,
dann kann uns auch an scheinbar altvertrauten Klängen deutlich werden,
daß wir eigentlich nicht wissen, was sie sind.