[Zurück] [Vor] [Hoch] [Startseite] | Index |
Rudolf Frisius
MUSIQUE CONCRÈTE (II)
Diesseits und jenseits der Klänge von Stimmen und Instrumenten
Technisch produzierte Klänge und Klangkompositionen im Wandel der Jahrzehnte
Z: Daoust take 3, 2´29
Musik des technischen Zeitalters hat viele verschiedene Gesichter.
In vielen Bereichen ist sie stark geprägt dadurch,
daß, zugleich mit neuen Möglichkeiten ihrer technischen Konservierung und Verbreitung,
auch sie selbst sich grundlegend verändert hat.
So ist auch Musik entstanden, der deutlich anzuhören ist,
daß sie nicht für Konzertsaal oder Opernhaus, sondern für den Lautsprecher bestimmt ist.
Selbst dann, wenn sie die Klänge von Stimmen und Instrumenten verarbeitet,
präsentiert sie diese oft so, daß niemand sie mit live Gesungenem oder Gespieltem verwechseln kann.
Der kanadische Komponist Yves Daoust hat dies deutlich gemacht,
als er 1989 eine Tonbandmusik mit einem programmatischen Titel produzierte:
"Qu´ai-je entendu?" ("Was habe ich gehört?")
Hier und auch in anderen Kompositionen hat er deutlich gemacht, worum es ihm geht:
Um die sinnfällige Darstellung dessen,
daß die Technik unser Verhältnis zur Musik insgesamt verändert hat
nicht nur Musik von heute, sondern zur Musik aller Zeiten.
Auch scheinbar konventionelle Klänge, die wir hören,
erscheinen oft in veränderter Funktion:
Als zweite Realität
als Klangbilder, die nicht live produziert,
sondern vorproduziert und über Lautsprecher produziert werden.
Z: Daoust take 4 Anfang 59´´ (bis Pause)
Im technischen Zeitalter ist die klingende und klangliche konservierte Musik
selbst zum potentiellen musikalischen Material geworden.
Neue Musik kann sogar daraus entstehen,
daß vorgefundene Musik z. B. durch Schnitt und Montage
sich in etwas Neues verwandelt:
Als Musik über Musik.
Z: Henry, La dixième Symphonie de Beethoven take 1 Anfang Blende 2´20 Hp vor 2´40 Schnitt
Der französische Komponist Pierre Henry brachte 1979 in der Beethoven-Stadt Bonn ein Werk zur Uraufführung, das sich als Musik zweiten Grades schon im Titel zu erkennen gibt:
"La dixième Symphonie de Beethoven" ("Die 10. Symphonie von Beethoven").
Aus Aufnahmen der neun Sinfonien Beethovens ergibt sich eine zehnte Sinfonie durch Montage.
Strukturelle Montagen stiften Zusammenhänge zwischen diesen Musikstücken,
die uns bei ihrem isolierten Hören womöglich gar nicht auffallen würden.
Die konkrete Musik hat sich daraus entwickelt,
daß gehörte Klänge technisch konserviertbar und damit beliebig oft wiederholbar geworden sind.
Dies ist jedem Hörer seit vielen Jahrzehnten geläufig worden -
sei es auch nur bei relativ banalen Anlässen, etwa bei technischen Effekten.
Z: Sillons fermés: Defekte Musikaufnahme
Mechanisch wiederholte Klänge können sich in technisch produzierter Musik
auch unfreiwillig ergeben, als Konsequenzen technischer Defekte.
Diese Defekte lassen sich aber auch produktiv umfunktionieren:
Künstlich wiederholte Klänge lassen sich als Klangmuster auch planmäßig herstellen
als technisch vervielfältige Klangsplitter, vergleichbar gereihten Photokopien in der pop art.
Z: Sillons fermés: Klangmuster
Durch Schnitt und Montage lassen sich Tonaufnahmen in beliebig kleine Fragmente zerlegen,
die dann mechanisch wiederholt und/ oder klanglich weiter verarbeitet werden können.
Z: SHS Erotica
Schnitt und Montage gehören zu den wichtigsten technischen Mitteln
der technisch produzierten Musik
und vor allem der konkreten Musik,
der Lautsprechermusik aus aufgenommenen Klängen.
Diese Musik läßt sich komponieren aus kleinsten Montage-Einheiten, aus Klangobjekten.
Z: Etude aux objets Ansage Objekte, Anfang
Unter dem Einfluß der Technik haben sich Komponieren und Hören verändert
sei es, durch Schnitt und Montage, in Gestaltungen geschnittener Zeit,
sei es in bruchlosen Verwandlungen als fließende Zeit.
Z: Histoire agitée mit Kommentar
Konkrete Musik entsteht aus der Vielfalt klanglicher Möglichkeiten,
die uns heute im technischen Zeitalter zur Verfügung steht.
(Z: Olga)
Z: Klangtest: L´aura d´Olga (Schaeffer 1962) Schott 19. 53´´
9 Hörbeispiele Auswahl von Nr. 3
1 Ecran sonore nr. 1 ecran nr. 2 mit Vibrato ecran nr. 3, pulsierend, Zustimmung
4 Klangfläche 5 Impulse 6 Klangfläche 7 hohe Impulse Zustimmung
8 Klangfläche 9 Impulse, Hallklänge
Präferenz für 3 (F) Ansage 3 (M)
Dialog Männerstimme (Präsentator) Frauenstimme (Auswählende)
Ein Mann führt einen Klangtest vor.
Seine Versuchsperson ist eine junge Frau, der er neun verschiedene Klänge vorführt.
Der Mann sagt jedes einzelne Beispiel an.
Er möchte herausfinden, welches Beispiel der Frau am besten gefällt.
Der Dialog läßt erkennen, wie der Test ausgeht:
Bei einigen Beispielen bleibt die Frau stumm,
bei anderen reagiert sie (und zwar meistens zustimmend).
Am besten gefällt ihr das dritte Beispiel.
Dieser Klangtest ist eine Szene aus dem Hörspiel "L´aura d´Olga"
das 1962 im französischen Rundfunk produziert worden ist.
Den Text schrieb Pierre Schaeffer,
die experimentellen Klangbeispiele produzierte Bernard Parmegiani.
Die Abfolge der Testbeispiele macht deutlich,
wie schwer es ist, die Vielfalt der experimentellen Klänge systematisch zu ordnen:
Jeder dieser Klänge hat ein unverwechselbares Gepräge, sein eigenes Gesicht.
Die konkrete Musik ist die Kunst der unsichtbaren Klänge.
Alle diese unsichtbaren Klänge und Klangvorgänge haben ein unverwechselbares Profil
ähnlich wie die einzelnen Einstellungen oder Sequenzen
in den bewegten Bildern eines Stummfilms.
Die unsichtbaren Klänge und die stummen Bilder gleichen sich auch darin,
daß sie nicht direkt wahrnehmbar sind, sondern nur in technischer Vermittlung:
Als Bilder, die technisch produziert und projiziert werden müssen.
Jedes Hörereignis, das sich aufnehmen, technisch verarbeiten, speichern
und über Lautsprecher wiedergeben läßt,
kann zum Material unsichtbarer Lautsprechermusik werden.
Diese Musik entstand als Konsequenz einer technischen Entwicklung,
die die Speicherung und massenhafte Verbreitung von Klängen ermöglicht hat.
Die technischen Möglichkeiten dieser neuen Hörkunst erschlossen sich
im Kontext einer Entwicklung, die bis in die späten 1870er Jahre zurückreicht
und die auch im letzten System des 20. Jahrhunderts
immer noch nicht endgültig abgeschlossen ist.
Unverkennbar ist überdies, daß die Entwicklung der technischen Hörkunst
anders verlaufen ist als die Entwicklung der technischen Sehkunst:
Sie beginnt mit der Erfindung des Phonographen durch Edison im Jahre 1877 -
also früher als die Geschichte der Photographie, aber später als die Geschichte des Films.
Der 1895 erfundene Film hatte gegenüber der Klangkonserve einen Entwicklungsvorsprung,
da die Kunst der Montage im Bereich des Films, der geschnittenen Bilder, schon von Anfang an möglich war; es sollte mehr als drei Jahrzehnte dauern, bis sich vergleichbar differenzierte Möglichkeiten auch im Bereich der Klangmontage, in der Kunst der geschnittenen Klänge entwickeln konnten.
Z: Ruttmann Weekend Anfang bis aber Fräulein 1´58
Walter Ruttmann, einer der wichtigsten Vertreter des experimentellen Stummfilms in den 1920er Jahren, hat 1930, also kurz nach der Erfindung des Tonfilms, seine Erfahrungen übertragen vom Sehfilm auf den Hörfilm von klanglosen Bildern auf bildlosen Klänge. Seine Produktion "Weekend" ist das erste Beispiel einer künstlerisch differenzierten experimentellen Klangmontage. Technisch ging Ruttmann so vor, daß er einen Tonfilm ohne Bilder realisierte. Seine Klangmontagen sind vieldeutig im Niemandsland zwischen Hörspiel und Musik als Hörbilder, die an alltägliche Begebenheiten erinnern, aber auch unmittelbares klangliches Interesse wecken können. Dieses Stück geriet nach seiner Entstehung jahrzehntelang in Vergessenheit, und es dauerte fast ein halbes Jahrzehnt, bis es wieder entdeckt wurde. Es ist Hörkunst mit aufgenommenen und montierten Klängen konkrete Musik also, die als bemerkenswerter, aber vorerst vereinzelt gebliebener Versuch - fast zwei Jahre vor denjenigen Produktionen entstand, die als konkrete Musik entscheidenden Einflu auf die Musikentwicklung der zweiten Jahrhunderthälfte gewinnen sollte.
Konkrete Musik hat als Medienkunst Ursprünge auch jenseits der Musik im engeren Sinne beispielsweise im experimentellen Film. Pierre Schaeffer, der 1948 die eigentliche Tradition der musique concrète begründet hat, ging bei seinen klanglichen Innvovationen von einem anderen musikübergreifenden Erfahrungsbereich aus: Von der Radiokunst, vom Hörspiel. Während des zweiten Weltkriegs, in der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs und der sich formierenden Resistance, schrieb und realisierte er ein Hörspiel mit dem Titel "La coquille à planètes" ("Die Planetenmuschel"): In diesem Stück gibt es eine Szene, die auf die Schrecken des Krieges anspielt und dabei neue Klangbilder entwickelt im Zusammenwirken von Text, traditioneller Musik und illustrativem Geräusch.
Z: Schaeffer: La coquille à planètes. 2´25. DAT Schaeffer 1, take 6
Die konkrete Musik hat sich daraus entwickelt, daß eine Kunst der technisch produzierten Klangbilder sich entwickelte, die dem Vorbild des Stummfilms, der Kunst der technisch produzierten Sehbilder, folgte. Entscheidende Schritte auf diesem Wege gelangen in den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges zum Beispiel 1944, als der Radiopionier Pierre Schaeffer in den Tagen der Befreiung von Paris aktiv wurde und mit einem Rundfunkaufruf dafür sorgte, daß die Kirchen der Hauptstadt den Einmarsch der aliierten Truppen einläuteten und daß alle Radiohörer dies live miterleben konnten.
Z: Schaeffer: Paris 1944. Glockenläuten. DAT PS 1, take 19 0´52
Die Dokumentaraufnahmen, die Pierre Schaeffer im August 1944 in Paris machte, lassen sich beschreiben als akustische Gegenstücke zu Filmaufnahmen für eine Wochenschau als Dokumente klingender Sprache, die sich nicht nur mit charakteristischen, auf reale Vorgänge verweisenden Geräuschen verbinden kann, sondern auch mit Musik.
Z: Telefonat Schaeffer Eluard, PS 1 take 26, 20´´
Aus den turbulenten Augusttagen Paris 1944 hat sich ein Klangdokument erhalten, in dem Sprache, Geräusche und Musik zusammenwirken: Man hört ein Telefonat zwischen zwei Exponenten der Resistance: dem Dichter Paul Eluard und dem Radioimacher Pierre Schaeffer. Gleichzeitig hört man, von der Straße hereindringend, Kanonenschüsse und den Gesang der Marseillaise. In dieser dokumentarischen Hörfilm-Szene verbindenen sich Sprache, Musik und Geräusche in ähnlicher Weise wie in einer experimentellen Hörspiel-Szene.
Schaeffers radiophones Engagement für den Widerstand und für die Befreiung seines Landes ermöglichte es ihm, auch in späteren Jahren weitere Erfahrungen in experimenteller Radiopraxis zu sammeln. Dabei überschritt er die Grenzen der experimentellen Hörspielpraxis und näherte sich der experimentellen Musik. Der entscheidende Schritt auf diesem Wege war eine 1948 entstandene Produktion, in der die Verwandlung vom Hörfilm in Musik deutlich zu erkennen ist: Die "Etude aux chemins de fer" (die "Eisenbahn-Etüde").
Z: Etude aux chemins de fer. Anfang Anfahren, Kolbengeräusche, neuer Pfiff. 0´55.
Zusp.bd. take 1
Das Stück beginnt scheinbar realistisch, wie ein Hörfilm:
Man hört einen Pfiff und anschließend eine anfahrende Dampflok.
Z: Eisenbahnetüde.
Take 2
Pfiff anfahrende Dampflok
0´´ - 0´15
Die Hörszene wird beendet durch einen Schnitt.
Anschließend hört man, in einer neuen Einstellung, das Geräusch fahrender Waggons -
also andersartige Eisenbahnklänge, aufgenommen aus einer anderen Perspektive.
Z: Eisenbahnetüde
Take 3
Fortsetzung: zusammenhängendes Waggon-Geräusch
16´´ - 21´´
Wenn diese beiden Hörszenen aneinandermontiert werden,
entsteht eine einfache Montagestruktur:
Die erste Einstellung zeigt, gleichsam als Außenaufnahme vom Bahnhof aus, den anfahrenden Zug;
die zweite Sequenz präsentiert, gleichsam als Innenaufnahme im Zug, den Zug in Fahrt.
Z: Eisenbahnetüde: Montagestruktur Anfahren (Dampflok) Zug in Fahrt (Waggongeräusche)
Take 4
0´´ - 21´´
Im größeren Zusammenhang des Stückes wird deutlich,
daß die Aufmerksamkeit des Hörers sich Schritt für Schritt verlagern kann:
von realen, hörspielartigen Geräuschen zu eher musikalischen Klangstrukturen.
Dieser Prozeß wird vor allem daran erkennbar,
daß sich die Montage-Einheiten Schritt für Schritt verkürzen:
Man hört über längere Zeit hinweg, wie die Lok anfährt.
Dann hört man für kürzere Zeit Waggongeräusche des fahrenden Zuges.
Anschließend geht das Stück über zu noch kürzeren, musikalisch strukturierten Montage-Einheiten:
Man hört zwei verschiedenartige, rhythmisch profilierte Waggongeräusche
in einer Art Wechselmontage.
Ursprünglich hatte Schaeffer geplant, die Wechsel zwischen diesen Geräuschen
nach einem einfachen musikalischen Schema zu organisieren
mit zunehmend kürzeren Zeiteinheiten:
4 4, 3 3, 2 2, 1 1.
Z: Soirée Schaeffer, Waggonrhythmen ursprüngliches Schema
aus Soirée Schaeffer SWF (evtl. mitzählen, evtl. links-rechts-Verteil. der Wechselmontage)
take 5
Später wurde diese schematische Abfolge durch Schnitt verkürzt,
so daß die prozeßhafte Veränderung in der Wechselmontage schließlich rascher ablief.
Z: Eisenbahnetüde, Montagestruktur mit Waggonrhythmen
4 4, 3 3, 1 1 (Schnitt vor Einsatz der Kolbengeräusche)
take 6
21´´ - 44´´
Nach dem Anfahren der Dampflok und nach den Waggonrhytmen
hört man in Schaeffers Eisenbahnetüde Kolbenstöße.
(Dies geschieht in einer Passage, die Schaeffer mehr als drei Jahrzehnte später
in seiner Abschiedskomposition "Bilude" nochmals als Souvenir zitiert).
Schaeffer hat deutlich gemacht, daß er mit diesen Geräuschen
hier nicht die Illusion einer realen Zugfahrt suggerieren wollte,
sondern daß er diese Geräusche hier aus musikalischen Gründen eingeführt hat:
Als Kadenz als Abschluß einer Montage-Sequenz.
Der Abschluß ist deutlich erkennbar,
weil anschließend ein neuer Pfiff zu hören ist
als Eröffnungssignal für eine neue Hörsequenz.
Z: Eisenbahn-Etüde
Kolbenstöße Pfiff (und eventuell anschließend Forts. Bis 1´08, Schluß Schott take 5)
take 7
45´´ - 55´´ (Pfiff) oder 1´08 (Ende Ausschnitt Schott take 5)
Im größeren Zusammenhang wird deutlich, wie sich die Technik der Klangverarbeitung
und damit auch die Perspektiven des Hörens verändern können -
ausgehend von einer quasi-realistischen Hörfilm- oder Hörspiel-Szene
dann sich allmählich verwandelnd in musikalisch disponierte Klangstrukturen, in Musik.
Z: Eisenbahn-Etude Anfang
take 8
1´08
(Schaeffers Eisenbahn-Etüde ist weder ein pseudo-realistisches Hörspiel
noch eine traditionelle Programmusik.
Sie ist vielmehr Klangkunst in einem Zwischenbereich zwischen Hörspiel und Musik.
Schaeffer selbst hat diese Studioproduktion interpretiert
als erstes Beispiel einer neuen Musikart, für die er selbst einen Namen gefunden hat:
Musique concrète Konkrete Musik.
Von herkömmlich komponierter Musik
unterscheiden sich Schaeffers Produktionen konkreter Musik dadurch,
daß sie nicht als Partitur fixiert sind, die von Interpreten ausgeführt werden muß,
sondern daß der Komponist selbst sie im Studio klanglich realisiert.
Diesen neuen Ansatz des Komponierens beschreibt Schaeffer
als radikalen Perspektivwechsel als Übergang von der abstrakten zur konkreten Musik.
In einem 1949 entstandenen theoretischen Text schreibt er:
Die beiden musikalischen Haltungen, die abstrakte und die konkrete,
lassen sich in exaktem Vergleich einander gegenüberstellen.
Wir wenden das Wort ´abstrakt´ auf die Musik im gewohnten Sinne an,
weil sie zuerst eine geistige Schöpfung ist,
dann theoretisch notiert wird
und schließlich in einer instrumentalen Aufführung ihre praktische Realisierung erfährt.
Unsere Musik haben wir ´konkret´ genannt,
weil sie auf vorherbestehenden, entlehnten Elementen einerlei welchen Materials
seien es Geräusche oder musikalische Klänge fußt
und dann experimentell zusammengesetzt wird
aufgrund einer unmittelbaren, nicht-theoretischen Konstruktion,
die darauf abzielt,
ein kompositorisches Vorhaben
ohne Zuhilfenahme der gewohnten Notation, die unmöglich geworden ist, zu realisieren.
Z: Eisenbahn-Etüde evtl. andere Fassung
Anfang oder Schluß Länge je nach Sendezeit Ausschnitt Schott 1´09)
Die Entwicklung der Konkreten Musik,
die Pierre Schaeffer 1948 mit der Produktion seiner Eisenbahn-Etüde eingeleitet hat,
führte zu weitgehenden Veränderungen
vor allem in den Bereichen der musikalischen Komposition und des Musikhörens.
Entscheidend war hier, daß die musikalische Erfindung
nicht von einer mehr oder weniger abstrakten Klangvorstellung
oder vom Schreiben einer Partitur ausging,
sondern sich direkt bei der Klangrealisation im Studio konkretisierte.
So ließen sich auch neue Verbindungen
zwischen der musikalischen Erfindung und der allgemeinen Hörerfahrung knüpfen.
Die technischen Bedingungen und Möglichkeiten entwickelten sich
seit den fünfziger Jahren so rasch,
daß in späteren Entwicklungsstadien
auch schon früher bearbeitete Themen
auf einem veränderten Erfahrungsstand erneut aufgenommen werden können.
Dies zeigt sich auch beim Thema "Eisenbahn".
Dieses Themen behandelten,
unter anderen Perspektiven und unter veränderten technischen Gegebenheiten,
nach Schaeffer auch andere, jüngere Komponisten in späteren Jahrzehnten -
z. B. Bernard Parmegiani 1970 in seiner Tonbandkomposition "L´oeil écoute" ("Das Auge hört").
Z: Parmegiani: L´oeil écoute, Eisenbahnszene (Ausschnitt Schott: 1. Satz 3´30)
take 9 (evtl. nur Anfang)
Wenn Bernard Parmegiani, mehr als zwei Jahrzehnte nach Pierre Schaeffer,
sich in seiner Lautsprechermusik wieder für Eisenbahnklänge interessiert,
dann geschieht dies unter deutlich veränderten ästhetischen und technischen Voraussetzungen:
Während Schaeffer sich noch damit begnügen mußte,
in einfachster Weise Fragmente von Schallplattenaufnahmen zu montieren,
verfügte Parmegiani über differenzierte Möglichkeiten
der Klangmischung und der klanglichen Verarbeitung.
So konnte er, anders als Schaeffer,
nicht nur kleingliedrige Montagestrukturen realisieren,
sondern auch größere Prozesse der Klangverwandlung.
Dabei veränderte sich auch das Verhältnis
zwischen der quasi-realistischen Verwendung von Klängen einerseits
und vorrangig klanglich-musikalischen Gestaltungsprinzipien andererseits.
In Parmegianis Stück führt dies so weit,
daß realistische Eisenbahngeräusche in raffinierten Mischungen und Verwandlungen
sich mehr und mehr in Musik verwandeln
daß anfangs Waggongeräusche im Vordergrund stehen,
später aber Schlagzeugrhythmen und Akkorde.
Auch diese Musik eignet sich offensichtlich nicht zur Einordnung in feste Rubriken,
sondern sie artikuliert sich im Niemandsland zwischen Bekanntem und Unbekanntem,
zwischen Montagen, Mischungen und Verwandlungen.
Z: evtl. Parmegiani Schluß
ab 2´02 Rauschklänge (oder evtl. ab 2´10 hoher Ton) 2´30 28´´
take 10
1´28
(Länge je nach Sendezeit evtl. länger oder kürzer)
Prozesse der Verwandlung von Eisenbahnklängen in Musik im engeren Sinne
realisiert auch Jacques Lejeune in seiner 1974 entstandenen Tonbandkomposition
"Rythme de parcours". Dieses Stück wechselt, in einer klar gegliederten, Schritt für Schritt klanglich verwandelnden Formentwicklung, zwischen Geräuschrhythmen und musikalischen Rhythmen, zwischen realistischen und fantastischen Klängen und Klangstrukturen.
Z: Lejeune: Rythme de parcours (1´14) take 11: 3´
Eisenbahngeräuche erscheinen in der Entwicklungsgeschichte der konkreten Musik
gleichsam als Signale des technischen und kompositorischen Wandels.
Der Komponist Michel Chion verarbeitet sie gleichsam als akustische Paßfotos
der verschiedenen Facetten dieser Musik
in seiner 1991 entstandenen Komposition "Crayonnées ferroviaires".
Z: Chion: Crayonnées ferroviaires. 0´40
take 12
Eine 1994 entstandene Eisenbahn-Musik von Christian Zanesi gestaltet das Thema in grundsätzlich veränderter Perspektive: Der Komponist hat sein Stück nicht aus vielen einzelnen Aufnahmen zusammengesetzt, sondern gleichsam aus einer einzigen Aufnahme herausmodelliert: Er geht aus von einer zusammenhängenden, rund 20minütigen Aufnahme eines fahrenden Metro-Zuges.
Evtl. Z: Zanesi, originale Aufnahme zu Grand Bruit (Metro auf CD) herunterblenden bis 1´30
Anhalten Stehen (spätestens weg bei neuem Geräuschimpuls vor 1´40) (oder Schluß 20´-22´)
take 14
1´10
Diese Aufnahme verarbeitet Zanesi ähnlich wie ein Bildhauer, der aus einem großen Steinblock eine Skulptur gestaltet. Auch in Zanesis Komposition, die den Titel "Grand Bruit" ("Großes Geräusch") führt, spielen offensichtlich die Möglichkeiten der zusammenhängenden, kontinuierlichen Klanggestaltung und Klangveränderung eine wesentliche Rolle.
Z: Zanesi, Grand Bruit, Schott take 7, 1´42 oder Extra-CD Zanesi take 2(evtl. Mini-CD Noetinger)
take 15
1´42
Eisenbahn-Geräusche sind exemplarische Geräusche des technischen Zeitalters.
Ihre klangliche und kompositorische Verarbeitung artikuliert sich in mehreren Kompositionen
als Modell der Auseinandersetzung
mit komplexen Erfahrungen der technisch geprägten Hörwelt.
Sie stellt sich damit in den Zusammenhang einer musikalischen Entwicklung,
die schon vor der Erfindung der konkreten Musik begonnen hat
und deren erste Ansätze weiter gewirkt haben auch bis in spätere Jahrzehnte hinein.
Der wohl wichtigste Komponist, der die Entwicklung der konkreten Musik einerseits vorbereitet,
andererseits in eigenen Produktionen vorangetrieben hat, ist Edgard Varèse.
In den 1954 entstandenen Tonband-Interpolationen zu seinem Orchesterstück "Déserts"
werden nicht nur Instrumentalaufnahmen verarbeitet, sondern beispielsweise auch Fabrikgeräusche als Klangsymbole einer Geräuschästhetik, deren Anfänge sich zurückverfolgen lassen bis in die Anfangsjahre des musikalischen Futurismus. Die fauvisitischen Geräusch-Montagen, die Edgard Varése in Zusammenarbeit mit Pierre Henry realisierte, markieren eine ästhetische Extremposition der konkreten Musik in den fünfziger Jahren.
Z: Varèse-Henry: Déserts, Ausschnitt aus 1. Tonband-Interpolation (47´´ auf DAT Sequenzen 54)
take 16
3´05
In der 1961 entstandenen Tonbandkomposition "Turmac" von Edgard Carson erscheinen Fabrikgeräusche als das gesamte Stück beherrschendes Klangmaterial. Carson verarbeitet hier Maschinengeräusche aus einer Zigarettenfabrik. In der Studioarbeit bemühte er sich vor allem darum, komplexe Geräusche individuell zu profilieren durch charakteristische Filterungen also gleichsam aus einem scheinbar amorphen Ausgangsmaterial verschiedenartige Gestaltcharaktere herauszufiltern.
Z: Carson, Turmac.
DAT Klett Mc, take 10, 1´42, oder DAT Sequenzen 53
Während Edgard Carson sich vorwiegend für die "unbelebten" Maschinengeräusche interessiert, hat Luigi Nono deutlich gemacht, daß für ihn klangliche Erfahrungen mit Maschinengeräuschen eng verbunden sind mit komplexen Erfahrungen in der industriellen Arbeitswelt. Seine Komposition "La fabbrica illuminata" ist keine objektivierte Maschinenmusik, sondern expressive politisch engagierte Musik.
Z: La fabbrica illuminata, Ausschnitt Sequenzen,
take 17 oder DAT Sequenzen 55
1´30
In der 1967 entstandenen Tonbandkomposition "Espaces inhabitables" von Francois Bayle erscheinen Fabrikgeräusche nicht als politisch geprägtes Klangmaterial, sondern
als Artikulationen klanglicher Energien und Energieverläufe.
Z: Bayle: Hommage à Robur, aus Espaces inhabitables, Schott 9.
Take 18
2´17
1975 realisierte Pierre Henry eine Tonbandkomposition, die schon im Titel an die Geräuschästhetik der Futuristen anknüpft. Das Werk heißt "Futuristie". Auch in diesem Stück spielen Maschinengeräusche eine wichtige Rolle in prägnanten Montagestrukturen, die Verwandtschaften auch zu andersartigen Klang- und Musikfragmenten aufscheinen lassen.
Z: Henry, Futuristie: Machines vitesse
take 19
2´37
Als Kontrastmodelle zur Maschinenmusik lassen sich Produktionen beschreiben, die von Naturlauten ausgehen. In den ersten Jahrzehnten der konkreten Musik spielten hierbei Vogelstimmen eine wichtige Rolle. Ein erstes Beispiel hierfür findet sich in der 1950 entstandenen Komposition
"L´oiseau RAI", in der Pierre Schaeffer Vogelgesang aus einem Sendezeichen des italienischen Rundfunks verarbeitet.
Z: L´oiseau RAI, CD Schott take 10,
CD Schott (nicht Zuspielband)
2´56
Auch in späteren Entwicklungsstadien der konkreten Musik sind Vogelmusiken entstanden beispielsweise 1963 in "L´oiseau chanteur" ("Der Singvogel") von Francois Bayle.
Z: L´oiseau chanteur.
CD Schott take 11 (nicht Zuspielband)
3´26
In " L´oiseau chanteur" arbeitet Francois Bayle mit Gesangsaufnahmen des brasilianischen Totenvogels Uirapuru und mit deren Imitationen durch Singstimmen und Instrumente (die hinter der mühelosen Virtuosität der Vogelstimmen zurückbleiben und so groteske Situationen provozieren, wie man sie andeutungsweise auch beispielsweise aus Richard Wagners "Siegfried" kennt). 8 Jahre später stilisiert Bayle den Vogelgesang mit elektronischen Klängen in der Komposition "L´oiseau Zen" ("Der Vogel Zen").
Z: L´oiseau Zen
take 20
3´50 (3´45)
(Jacques Lejeune hat eine konkrete Vogelmesse ("Messe des oiseaux") komponiert, in der er Vogellaute mit technisch veränderten menschlichen Stimmlauten verbindet. Menschen- und Vogelstimmen präsentieren sich im beziehungsreichen Kontrast.
Z: Lejeune, Messe des oiseaux)
Jaques Lejeune kombiniert technisch konservierte und verarbeitete Vogellaute
mit ihren instrumentalen Imitationen auf der Flöte
in seiner Komposition "Nuit des oiseaux" ("Nacht der Vögel").
Z: Lejeune: Nuit des oiseaux
take 21
4´03
Vogellaute und andere Naturlaute erscheinen, in subtilen und komplexen Klangmischungen, zu Beginn der 1985 entstandenen Tonbandkomposition "Sud" des in Südfrankreich lebenden Komponisten Jean-Claude Risset. Der Komponist schmilzt die Naturlaute ein in ein umfassendes Klangkontinuum, dessen Spannweite schließlich bis in den Bereich computergenerierter Klänge hineinwirkt und so die mit Naturlauten arbeitende konkrete Musik verbindet mit synthetischen Klängen.
Z: Risset Sud.
Schott CD 12, nicht auf Zuspielband
3´39
Konkrete Musik als Auseinandersetzung mit der Realität der Hörwelt
kann auch in Konfrontation geraten zu den Problemen politisch engagierter Musik.
Dies kann in ideologischer Kritik und Affirmation entstehen wie bei Luigi Nono,
aber auch in ideologischer Ambivalenz wie bei Francois Bayle.
Bayle hat 1969 ein Tonbandstück komponiert, in dem er bei den Pariser Maiunruhen 1968 aufgenommene Klänge konfrontiert mit unterhaltsamen Musikfetzen eines Gitarristen.
Klänge der Massen verbinden sich also mit individuellen musikalischen Äußerungen.
Kollektives und Individuelles stellen sich wechselseitig in Frage
in kräftig kontrastierenden, ironisch verfremdenden Klangwirkungen.
Z: Bayle Solitioude Ausschnitt Klett
take 22
1´08
In bestimmten politischen Situationen kann politisch engagierter Musik
die Funktion des kompositorisch gestalteten Zeitdokumentes zuwachsen.
Ein prägnantes Beispiel hierfür ist konkrete Musik eines deutschen Komponisten:
"Mein 1989" von Georg Katzer.
Dieses Werk verbindet aktuelle und historische Dokumentaraufnahmen
mit Sprache und elektronischen Klangdekors:
Konkrete Musik als Dokument der Zuwendung
zur hörbaren und politisch reflektierbaren Wirklichkeit.
Diese Musik stellt sich der Realität, ohne sich mit ihr abzufinden.
Z: Katzer Mein 1989 (längerer Ausschnitt je nach Sendezeit, mit Honecker-Zitat "Die Mauer...")
4´20
Konkrete Musik ist die Absage
an alle trügerischen Gewißheiten über das angebliche Wesen der Musik.
Ihre Musiker versuchen, die verwirrende Vielfalt
der bekannten und unbekannten, der dokumentarischen und imaginären Klänge
zum Sprechen zu bringen.
In dieser Musik geht es nicht darum, alte oder neue Klänge
vorgegebenen musikalischen Regeln zu unterwerfen.
Dieser technisch produzierten Musik steht potentiell
die unendliche Vielfalt aller Klänge zur Verfügung,
die sich aufnehmen oder synthetisch erzeugen
und, gegebenenfalls in klanglicher Verarbeitung,
konservieren und hörbar machen lassen.
Zu ihrem klanglichen Potential gehört also auch alle bereits existierende Musik,
sofern sie der technischen Konservierung und Verarbeitung zugänglich ist.
So entwickelt sich ein ambivalentes Konzept der Musik:
Einerseits erweitert sich ihr Areal
durch die Erweiterung der Tonkunst zur universellen Klangkunst
(unter Einbeziehung nicht nur beliebiger Geräusche oder Stimmäußerungen,
sondern auch beliebiger vorgefundener Musik).
Andererseits erweist Musik im bisher bekannten Sinne
sich als Spezialfall:
Klänge, die wir leicht als Musik identifizieren können,
werden hörbar in Verbindungen mit anderen Hörereignissen,
von denen wir vielleicht (noch) nicht wissen,
ob auch sie Musik sind
oder ob sie in Zusammenhänge hineinführen,
die über die Musik hinausreichen.
Wenn wir konkrete Musik hören,
dann kann uns auch an scheinbar altvertrauten Klängen deutlich werden,
daß wir eigentlich nicht wissen, was sie sind.
Evtl. Z:
Alternativen:
- Etude pathétique
- La reine verte, Deuxièmes insectes
- Hörclip: Daoust (Take 5): Mi bémol ausblenden bei 1´39 (vor leiser Forts.) oder 1´39 3´00
- Daoust-CD 2´38
- Hörclip take 6 Schryer: Anfang Steiterung und Rückentwicklung 0´´-1´19
oder nach 1´19-Schluß (mit Keuchen und Molldreiklang)
(Vinao Chant d´ailleurs)
Hörclip 21 Turcotte: Sich steigerndes Geräusch, Cdur,
leiser ab 1´04, 1´34 Vögel dazu, 2´02 Geräuschakzente
ab 1´18 Klangflächer, darüber Stimfragmente, Tärenknarren
Hörclip 22 Calon (mit Radio) Verarbeitung von Geräuschen aus der technischen Arbeitswelt
Déserts
Turmac
La fabbrica illuminata
Espaces inhabitables
Machines vitesse, aus Futuristie
Vogellaute Naturlaute
L´oiseau RAI
Trois portraits d´oiseau
evtl. Messe des oiseaux
Risset, Sud
Verarbeitung von zeitgeschichtlich-dokumentarischen Aufnahmen
Solitioude
evtl. Katzer Mein 1989
[Zurück] [Vor] [Hoch] [Startseite]
[Index] [Frisius-Homepage]